Tschaikowski: Nußknacker, S. Rattle, BPO
Die komplette Musik zu Tschaikowskis Ballett "Der Nussknacker"
von den Berliner Philharmonikern unter ihrem Chefdirigenten Sir Simon
Rattle, interpretiert als üppig-farbenfrohe Sinfonische Dichtung. Hier
ist die Musik Selbstzweck, sie muss sich keiner szenischen Darbietung
unterordnen.
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So kann das Orchester schwelgen und seine zauberhafte Magie entfalten,
die Solisten können brillieren. Die Ouvertüre kommt allerdings noch
vergleichsweise verhalten daher, wohl ein stilistisches Mittel, um einen
Spannungsbogen zu den später folgenden "Knallern" aufzubauen.
Die Berliner Philharmoniker musizieren auf höchstem spielerischem Niveau
unter Vermeidung vordergründiger oder gar kitschiger Effekte (bis auf
den Schuss in der 7. Szene, bei der man auch nach mehrfachem Hören immer
noch zusammenzuckt). Hätte Simon Rattle tatsächlich eine
Bühnendarbietung begleiten müssen, das klangliche Ergebnis wäre wohl
schlanker, dezidierter, vielleicht "schärfer" ausgefallen. So
aber ist es ja "nur" ein Stück für die Ohren und wird
entsprechend audiophil zelebriert.
Im NDR wurde die Darbietung als "Genuss ohne allzu viel
weihnachtlichen Zuckerguss" bezeichnet, da ist was dran. Das
Klangbild der Berliner ist dabei dennoch farben- und facettenreich,
nuanciert und zugleich von großer dynamischer Weite und Geschlossenheit.
Die Musik zum 2. Akt wurde anlässlich des 2009er Silvesterkonzertes der
Berliner Philharmoniker im Fernsehen live übertragen, ein ziemlich
sicherer Hinweis darauf, dass Orchester und Dirigent mit ihrem Ergebnis
absolut zufrieden waren.
Zur Hardcover-Doppel-CD gibt es ein prachtvoll gestaltetes Begleitheft
mit vielen Abbildungen aus dem Kontext der St. Petersburger
Uraufführung sowie mit zahlreichen nützlichen Hintergrundinformationen.
Das Ballett besteht aus 2 Akten, der erste hat einen durchgehenden
Handlungsfaden, der zweite dagegen ist eine bloße Aneinanderreihung
einzelner Tänze. Die Geschichte geht auf die Erzählung "Nußknacker
und Mausekönig" von E.T.A. Hoffmann zurück, der sie als Märchen
bezeichnet hat. Traum und Wirklichkeit mischen sich auf verschiedenen
Ebenen. Tschaikowski und der in St. Petersburg wirkende französische
Choreograph Marius Petipa (der schon für das Ballett
"Dornröschen" verantwortlich war) haben im Rahmen der
Inszenierung und der sich daran ausrichtenden Kompositionen wegen
dramaturgischer Probleme letztlich aber auf die Umsetzung von Hoffmanns
Originalerzählung verzichtet und eine 1844 erschienene Bearbeitung von
Alexandre Dumas (Vater) zur Grundlage genommen. Zudem wurde eigens für
das Ballett noch eine neue Figur erfunden, die "Zuckerfee" aus
dem Land der Süßigkeiten.Die Choreographie zum den 1. Akt beschließende
"Tanz der Schneeflocken" geht auf Petipas Vertreter Lew Iwanow
zurück. Tschaikowski lässt dazu einen Knabenchor singen.
Der erste Akt beschreibt die Feier des Heiligabend im Hause des
Medizinalrates Stahlbaum. Als letzter Gast erscheint der Patenonkel
Drosselmeyer und verteilt Geschenke an die beiden Kinder Fritz und Clara
(in einigen Texten Marie genannt), darunter eine lebensgroße
Nussknacker-Gestalt. Nach Heimgang der Gäste im Anschluss an den
Großvatertanz gleitet die Geschichte in die Traumebene über. Es kommt
zur Schlacht zwischen den Pfefferkuchenmännern und den vom Nussknacker
geführten Spielzeugsoldaten auf der einen Seite und der vom Mausekönig
befehligten Mäusearmee auf der anderen Seite. Der Kampf endet erst, als
Clara eingreift und den kurz vor dem Sieg stehenden Mäusekönig durch
einen gezielten Wurf verjagt.
Der vermeintlich tote Nussknacker verwandelt sich in einen hübschen
Prinzen, der Clara in sein Reich der Süßigkeiten entführt. Dort werden
auf Schloss Zuckerburg zu Claras Ehren Charaktertänze aus Russland und
fernen Ländern aufgeführt. Nach dem berühmten Blumenwalzer fordert die
Zuckerfee den Prinzen zu einem Pas de deux auf, gefolgt von einer
Tarantella des Prinzen und dem Tanz der Zuckerfee (letzterer von der
damals für Russland neuen Celesta, einer Art "Glockenklavier"
begleitetet, das eigens aus Paris herangeschafft worden war). Diese
letzten Tanzstücke gelten traditionell als Höhepunkte des Balletts und
erfordern bei szenischen Darstellungen ein Höchstmaß an Tanzkunst.
Unterscheiden von der kompletten Nussknacker-Musik – wie sie hier
vorliegt – muss man davon abgeleitete Suiten, die nur einen Teil der
Stücke umfassen, zumeist die Tänze aus dem 2. Akt. Es gibt verschiedene
Versionen, darunter auch eine Version von Tschaikowski selbst (op. 71a).
Das Werk wurde am 18. Dezember 1892 im Mariinski-Theater in St.
Petersburg uraufgeführt. Es war Tschaikowskis letzte Komposition.
Tschaikowsky stirbt 1893 in St. Petersburg.
Nun beansprucht die Interpretation der Berliner Philharmoniker unter
Simon Rattle keinen Alleinvertretungsanspruch. Es gibt durchaus auch
andere mögliche Ansätze. Bisher war die von mir favorisierte Aufnahme
eine Einspielung des Kirov Orchesters unter Valery Gergiev, aufgenommen
1998 im Festspielhaus Baden Baden (Decca). Das Orchester aus St.
Petersburg bietet eine ganz andere Deutung, mit mehr Klangeffekten und
heftigeren Dynamik- und Tempowechseln. Überhaupt wird die Musik von den
Russen viel rasanter und schneller gespielt als von den Berlinern und
passt so auf eine einzige CD (was natürlich nicht ursächlich gewesen
sein kann). Und der Klang ist deutlich schärfer, weniger sinfonisch, das
Orchester dürfte zudem im Vergleich auch weniger groß besetzt gewesen
sein. Schon die Ouvertüre mit den ausschließlich hohen Instrumenten
kommt ungeheuer spritzig, fast spitz daher. Für mich ist die
Interpretation des Kirov Orchesters auf ihre Art immer noch
unschlagbar. Öfter nacheinander hören würde ich aber nur die Berliner
Darbietung, dort entdeckt man immer wieder neue "verborgene"
Schönheiten. Übrigens sind beide Einspielungen von den Tontechnikern
prägnant und makellos eingefangen worden.
Wer das Ballett zugleich szenisch erleben will, dem empfehle ich eine
Aufführung aus dem Bolshoi-Theater Moskau mit dem gleichnamigen
Orchester unter Pavel Klinichev und der Choreographie von Yuri
Grigorovich (DVD in HD-Qualität, 12/2010, BelAir). Die Darbietung wirkt
jeden Kitsches beraubt und manchmal fast als anekdotenhafte Parodie auf
die zugrunde liegende Handlung. Dramatisch schön ist die letzte, den
Traum beendende und in die Realität zurückführende Szene. Eine
gelungene, zärtlich-liebevolle, dabei aber tänzerisch temporeiche
Aufführung voller Überraschungen. Musikalisch geht Pavel Klinichew eine
Art Zwischenweg, er hat ja schließlich ein Ballett zu begleiten und darf
weder sinfonisch schwelgen wie die Berliner, noch die Musik zu
effektvoll als Selbstzweck interpretieren wie die St. Petersburger.
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