Reinhard Mey - Brief an einen seiner Kritiker
Zu kritischen Tönen über Reinhard Mey wurde ein Offener Brief an seinen Kritiker eingestellt. Autor ist unser geschätzer Freund und Kollege Franz von Seboca. Gleichzeitig und so ganz nebenbei ist daraus eine Art Werkschau dieses großen Liedermachers geworden. Unten ein Auschnitt des Covers von "dann machs gut".
Lieber H. S.,
gestatten Sie mir bitte eine höchstpersönliche Replik zur Ihren
kritischen Tönen über Reinhard Mey, die Sie nicht zuletzt unter
vergleichendem Bezug auf Hannes Wader und Konstantin Wecker geäußert
haben. Ich liebe Kritik, glücklicherweise ist sie "In diesem,
unserem Lande" (ein Mey-Titel!) erlaubt; für mich ist sie sogar in
jeder kultivierten Form ausdrücklich erwünscht. Und Sie mögen für sich
in Ihrer ganz eigenen Betrachtung sogar durchaus Recht haben. Ich
respektiere Ihre Meinung und will Sie überhaupt nicht bekehren.
Ich selbst vergleiche allerdings keinen Künstler (und damit auch keinen
Liedermacher) mit einem anderen seiner Zunft. Entweder der Mensch und
sein Werk sagen mir etwas, oder eben (warum auch immer) nicht. Mey wird
weder besser noch schlechter, wenn ich ihn in Bezug zu Wecker, Wader,
Hoffmann oder Roski setze. Ich mag sie ohnehin alle fünf, die uns so
schöne Lieder gegeben haben, und zwar jeden auf seine Weise. Und es gibt
ja auch noch ein paar mehr von ihnen...
Ich gestehe jedem Künstler zu, sich nach eigener Abwägung für oder auch
gegen eine Bewegung einzusetzen, seine Tourneen nach eigenem Zeitplan zu
terminieren, so viele oder so wenige Autogramme zu geben, wie er möchte
und sich - wie auch immer - gegen ein zunehmend distanzloseres
Eindringen in die eigene Privatsphäre zu schützen. So viel schon einmal
vorab zu Ihren einzelnen Kritikpunkten.
Menschen wie Hüsch und Mey hatten übrigens immer - nicht nur in den wilden End-Sechzigern und frühen Siebzigern - mit dem Vorwurf zu kämpfen, nicht genügend politisch zu sein (politisch wurde in diesem Bezug natürlich ausschließlich als "links" definiert). Dabei waren sie genau dies auf eine zugegebenermaßen subtile Art. Und Hunderttausende haben das auch so verstanden. Anderen waren die Botschaften zu versteckt, zu leise.
Ich war dabei, als Hanns Dieter Hüsch 1970 in Münster seine diesbezüglich laut lamentierenden Kritiker von der Bühne aus aufforderte, mit ihrer Kritik an ihm und an der Gesellschaft bitte um Himmels Willen nicht nachzulassen, aber doch erst einmal bis zum Ende zuzuhören. Und ich war auch Zeitzeuge, als Mey 1972 in der Münsterlandhalle sein "Achtel Lorbeerblatt" sang, ein Lied an die Kritiker. Beide sind zum Glück unbeirrt vom wechselndem Zeitgeist ihren eigenen Weg weitergegangen.
Unsere deutschen Liedermacher begleiten mich nun schon mein gesamtes Leben. Obwohl ich über jeden von ihnen etwas sagen könnte, aus gegebenem Anlass hier allein einige Worte zu Reinhard Mey. Bei nahezu jedem Alltagserlebnis kann ich eine Zeile von ihm zitieren - und tue das schmunzelnd auch immer wieder.
Sollte ich eines Tages meinen Enkeln diesen großen Liedermacher nahebringen dürfen, dann würde ich ihnen als erstes den "Einhandsegler" an die Hand geben. Schon der stark gesellschaftspolitisch geprägte Titelsong ist einfach grandios. Mein absolutes Mey-Lieblingslied, und das nicht nur auf dieser CD.
"Ich bring Dich durch die Nacht" ist ein wunderschönes Liebeslied (nachgesungen u.a. von Hannes Wader), "Das wahre Leben" ist eine Satire, "Heimatlos" ein atemberaubender Polit-Rap, "Chet" ist eine Erinnerung an den legendären, aber tragisch verendeten Jazz-Trompeter, "Wenn ich betrunken bin" ist eine tiefsinnige Selbstreflektion, "Doktor Berenthal kommt" eine liebevolle Hommage an den verstorbenen Hausarzt, "Sarafina", "Der Marder" und "Kurti" sind humorige Persiflagen. "Das war ein guter Tag" ist ein typischer, wie so oft etwas melancholischer Mey, inspiriert vom alltäglichen Erleben. Die CD ist ein grandioses Meisterwerk und taugt ganz sicher zur Mitnahme "auf die Insel".
Er hat (gefühlt) an die tausend Lieder geschrieben, aber welche werden bleiben? Nachfolgend wird es verständlicherweise sehr subjektiv.
Seine Lieder, die sich mit den zumeist negativ erlebten Schulerfahrungen beschäftigen, dürften zeitlos und damit auch heute (oder gerade heute!) noch aktuell sein, etwa "Charlotte", "Zeugnistag", "Faust in der Hand" und "Nun fängt alles das noch mal von vorne an". Sie würden in meiner kleinen Übersicht jedenfalls nicht fehlen.
Sollten meine Enkel Gefallen finden, würde ich den Bogen etwas weiter spannen und einige Fliegerlieder wie "Golf November", "Das letzte Abenteuer", "Alleinflug", "Lilienthals Traum" und "Auf eines bunten Vogels Schwingen" vorspielen ("Über den Wolken" kennen sie ja schon).
Auch einige Liebeslieder wie "Ich liebe Dich", "...solang ich denken kann", "...es bleibt eine Narbe zurück", "Ich glaube, so ist sie" (noch für Christine), "Wie vor Jahr und Tag", "Immer mehr", "Rostlaube", "...und schlag die Tür hinter mir zu", "Asche und Glut" und "Was weiß ich schon von Dir".
Dann einige Stücke, die sich mit dem Thema Freundschaft befassen wie "Gute Nacht Freunde", "Komm gieß mein Glas noch einmal ein", "Freunde, lasst uns trinken", "Eh`meine Stunde schlägt", "Mein guter alter Balthasar" oder das wunderschöne "Nein, ich lass dich nicht allein", die Begleitung eines sterbenden Freundes oder einer Freundin (jedenfalls interpretiere ich das für mich so in dieser Weise).
Natürlich würde ich auch einige gesellschaftspolitische Lieder auflegen, allen voran das unglaublich ergreifende "Und der Wind geht allezeit über das Land", aber auch "Frieden", "Mein Land", "Rüm Hart", "Alle Soldaten woll`n nach Haus", "Das Narrenschiff", "Kaspar", "Alles o.k. in Guantánamo Bay", "Sei wachsam", "Bevor ich mit den Wölfen heule", "Nein, meine Söhne geb` ich nicht", "Ich würde gern einmal in Dresden singen", "Dr. Brand", "3. Oktober `91", "Vernunft breitet sich aus über die Bundesrepublik Deutschland", "Poor old Germany" und "Die Mauern meiner Zeit". Oder auch das Lied über den BW-Soldaten "Kai", der zusammen mit 3 Kameraden über Afghanistan abgeschossen wurde. Auch "Die Waffen nieder!" (der Titel nimmt Bezug auf die gleichnamige Schrift der Pazifistin Bertha von Suttner), geschrieben zu Beginn des Irakkrieges. Und nicht zuletzt "Es ist an der Zeit", dieses so tief berührende Antikriegslied aus Hannes Wader`s Feder.
Seine Lieder über die Familie dürften nicht fehlen, etwa "What a lucky man you are", "Zwischen allen Stühlen", "In Lucianos Restaurant", "Viertel vor sieben", "Du bist ein Riese, Max!", "Lulu", "51er Kapitän" (für den Vater), "Das Foto vor mir auf dem Tisch (für die Mutter), "Drei Kisten Kindheit", "Mein Apfelbäumchen", "Die erste Stunde", "Altes Kind", "Aller guten Dinge sind drei" oder "Keine ruhige Minute".
Unvergesslich seine zahlreichen Liebeserklärungen an Berlin, vor allem aus der Zeit vor der sogenannten Wende. Besonders ergreifend aber ist der Rückblick "Mein Berlin", erschienen 1990.
Als mitfühlender Vater würde ich auch vom Schicksal des ältesten Sohnes erzählen, "Drei Jahre und ein Tag" und "Schwere Wetter" spielen, "Dann mach`s gut" vom gleichnamigen Album und natürlich "So lange schon" und "Zeit zu leben" vom 2016er Album "Mr. Lee". Dabei würde es mir wahrscheinlich kaum gelingen, die Tränen zu unterdrücken.
Das alles sind nur Beispiele, es gibt noch so viele so großartige Lieder. Ich kann gar nicht anders als dabei zu denken an "Drei Stühle", "Dunkler Rum", "Ich glaube nicht", "Musikanten sind in der Stadt", "Pöter", "Vielleicht werd` ich doch langsam alt", "Ein Stück Musik von Hand gemacht", "Du mußt wahnsinnig sein", "Kati und Sandy", "Mein roter Bär", "Du hast mir schon Fragen gestellt", "Im Berg", "Aus meinem Tagebuch", "Die Homestory", "Der Biker", "Irgendein Depp bohrt irgendwo immer", "Alle rennen", "Musikanten sind in der Stadt", "Aber heute" oder "Mein Dorf am Ende der Welt".
Ja, wenn er aber nun stimmt, Meys Liedtitel "Die Zeit des Gauklers ist vorbei", warum singt dieses Liedermacher-Urgestein dann heute mit 70 Jahren überhaupt noch? Und geht noch auf Tournee? Eines seiner ersten Lieder war 1967 "Ich wollte wie Orpheus singen", gut 30 Jahre später formuliert er auf Ruem Hart "Ich singe um mein Leben". Und beides dürfte ihm auch heute noch Antrieb sein, wobei sich die Gewichte wohl etwas zu letzterem hin verschoben haben. Künstler suchen ja oftmals in ihrer Kunst eine Art Katharsis – und finden sie auch.
Nein, ein Marschierer, ein Protestsänger war Reinhard Mey wahrlich nie, wohl aber immer jemand, der das Zeitgeschehen kritisch, manchmal ironisch und zudem oft humorvoll-parodierend begleitet hat. Seine 2016er CD "Mr. Lee" führt diese Tradition folgerichtig fort und gerät 40 Jahre nach "Menschenjunges" und 20 Jahre nach "Leuchtfeuer" wieder einmal zu einer ganz besonderen Sternstunde. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Oder vielleicht doch?
Hören Sie mal rein in "So viele Sommer", "Im goldenen Hahn", "Wenn Hannah lacht", "Wenningstedt Mitte" oder in den kryptischen Titelsong "Mr. Lee" - und natürlich in "So lange schon" und "Zeit zu leben".
Reinhard Mey konnte und wollte wohl niemals allen Zeitgenossen gefallen. Im Bayerischen Rundfunk wurde er Jahre lang gar nicht gespielt, zu kritisch waren dem Sender seine Worte über politische und klerikale Würdenträger.
Das Bundesverdienstkreuz hat er dann aber doch angenommen, was insbesondere einigen Wader-Fans ein Dorn im Auge war. Wohl vor allem deswegen, weil Hannes nicht zeitgleich auch solch ein Abzeichen bekommen hat.
Den jahrzehntelang treuen Meyranern sind diese und andere Plänkeleien jedoch ganz und gar egal, haben sie doch seine Lieder - und die alleine zählen.
Reinhard, "Hab Dank für Deine Zeit"
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Mensch Mann, merkwürdig, ein Art Memorandum für einen Mey-Monierer sollte sie werden, diese kleine Schrift, und jetzt ist eine Art Mey-Manual daraus geworden - für meine Enkel und andere Liedermacher-Novizen. Oder doch ein Moratorium für den Kritiker?
Franz von Seboca, Dezember 2016
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Bildnachweise: Die Bildausschnitte wurden den Covers der Original-Mey-Alben "dann machs gut", "Einhandsegler" und "Mr. Lee" entnommen.