Bach`s Goldberg Variationen Víkingur Ólafsson

olafsson goldberg

Víkingur Ólafsson ist längst kein Unbekannter mehr, er hat den Minimalisten Philip Glass interpretiert, Debussy und Rameau zusammen in einem Zyklus gespielt und auch schon eine Bach-Platte mit Originalwerken und Transitionen verschiedener Komponisten / Interpreten vorgelegt. Jetzt also 2023 die Goldberg Variationen.

Um es gleich vorab zu sagen: Die Aufnahme wird nicht im Meer unzähliger anderer Einspielungen untergehen, sie wird Ólafsson zu einem Weltstar machen.

Das liegt an einer gewissen Zugespitztheit, ja Exaltiertheit seiner gewollt sehr subjektiven Interpretation, an teils sehr schnellen Tempi, an der Medienpräsenz, der Promotion durch die DG und an seiner begleitenden weltweiten Mammut-Konzertreise mit 88 Auftritten. Und am Anspruch vieler Konsumenten, es müsse alles immer höher, weiter, schneller werden...

Es liegt aber auch an seinem unvergleichlichen (an Perahia erinnernden) Anschlag, der tropfenförmig, aber präzise kommt, ja teils geradezu "gezupft" wirkt. Hören Sie in die Variation 24 mit ihrer "spieluhrartigen" Anmutung. Nur selten verwendet Ólafsson ein Legato. In Interviews und im Booklet erfahren wir, dass er viele Jahre an einer ihn befriedigenden Interpretation gearbeitet hat, dass er mittels eines Metronoms und diverser Notizen die einzelnen Variationen "geplant" habe, dass er aber letztlich das alles verworfen und sich einer freien "interpretativen Improvisation" verschrieben hat. In dieser lässt er nun Bach`s "fingerbrecherischer Virtuosität" freien Lauf, um den Begriff eines Ólafsson´schen "halsbrecherischen" oder gar "mörderischen" Virtuosentums zu vermeiden.

Die Archtektur des Werkes ist für ihn zwar wichtig, aber weniger wichtig als der "Mikrokosmos" jeder einzelnen Variation. Dabei sieht er durchaus das Gesamtwerk als eine Metapher an, eine Metapher für "Kommen und Gehen", "Erleben und Wiedersehen", "Leben und Verstreichen der Zeit", oder als "Abbild der menschlichen Existenz". Er beschreibt in Interviews die von ihm empfundene sich im Verlauf ständig steigernde Dramatik des Stückes, die auf die 30. Variation (eher ein Potpourri) zustrebt. Folgt man Ólafsson, dann streben die einzelnen Variationen nicht dem Finale zu, sie eilen ihm förmlich entgegen. Die Eile ist so groß, dass sich die Variationen 26 bis 30 ohne Pause einander anschließen bzw. gefühlt sogar ineinander übergehehen, bis der letzte Ton des Quodlibet sekundenlang nachschwingt und leise verklingt. Wahrscheinlich das effektvollste Goldberg-Finale, das jemals auf Tonträgern aufgezeichnet wurde.

Ólafsson streicht im Booklet die Bedeutung der anschließend unverändert wiederholten Aria heraus, die nun ganz anders klinge als zu Beginn, obwohl sich keine Note verändert habe. Wenn Heraklit noch gefragt hat, ob man zweimal in den gleichen Fluss steigen könne, so ersetzt Ólafsson den Begriff "Fluss" augenzwinkernd durch "Bach" - und natürlich verneint er die Frage. Umso mehr erstaunt, dass er die Aria da capo nicht mit den vorgeschriebenen Wiederholungen spielt. Vielleicht gab es ein der CD-Kapazität angepasstes Zeitbudget?

Inzwischen kann man Ólafsson`s Einspielung auch auf LP erwerben, natürlich auf zwei Platten verteilt. Vermutlich bleibt es auch dort beim Weglassen der Reprisen der abschließenden Aria, obwohl man diese gerade nach allen philosophischen Exkursen auch als Start eines Neubeginns sehen könnte - und der darf ja eigentlich nicht zu kurz kommen. Für die Einspielung hatte man sich ganze 6 Tage Zeit genommen, da ist es denkbar, dass es auch eine Version mit der "kompletten" Aria da capo gibt.

Mich würde in diesem Zusammenhang sehr interessieren, wie Ólafsson das Werk im Konzertsaal angeht. Dort gibt es kein Zeitbudget, ganz im Gegenteil darf das nur aus den Goldberg Variationen bestehende Konzert ja nicht zu schnell zuende gehen, um ausreichend nachzuhallen. Vielleicht bekommen wir am Ende der 88 Liveauftritte einen Mitschnitt zu Gehör und/oder zu Gesicht. Doch wenn überhaupt, von welchem Abend? Víkingur Ólafsson sagt, dass jedes Konzert anders verlaufe, einer anderen Dynamik gehorche. Man darf gespannt sein. Auch auf eine Neuinterpretation in ca. 25 Jahren...

Ólafsson kennt natürlich die Interpretationen der meisten großen Pianisten, erwähnt im Interview z.B. Gould, Sokolov, Perahia und Schiff, betont aber, dass er die Variationen "ganz anders" spiele. Vor allem spielt er sie viel schneller. Wenn es überhaupt eine "Blaupause" für ihn gab, dann muss es die Einspielung von Andrei Gavrilov aus 1993 auf DG sein mit ihrer standrechtlichen Exekution eines großen Teils der virtuosen und melodischen Variationen (vgl. Var. 13, 14, 20, 29) bei epischer Ausbreitung der Moll-Variationen.

Gleich die erste Variation nach der so ruhigen Aria ist ein Parforceritt, als wenn Ólafsson schon zu Beginn ein Zeichen setzen und auch weniger "klassikaffine" Zeitgenossen zum weiteren Zuhören animieren will. Ich empfinde diese Art der Interpretation schon ein wenig als Provokation, natürlich vom Interpreten absolut so gewollt. Vielleicht hilft es, junge Menschen in unsere fantastischen Konzertsäle zu locken und mit der absoluten, immer gültigen Musik der großen Meister bekannt zu machen. Dann wäre ein wichtiges Ziel erreicht.

Hören Sie nach den m. E. übertrieben schnellen Nummern 1, 5, und 8 auch in die vorletzte, die 29. Variation hinein, zumindst ich kann beiden Händen bzw. allen 10 Fingern nicht mehr folgen. Bach mag ein Virtuose gewesen sein, aber so atemberaubend rasant wie bei Ólafsson hat seine Barockmusik ganz bestimmt nicht geklungen. Selbst wenn diese Geschwindigkeit auf einem damaligen Cembalo überhaupt möglich gewesen wäre, was zu bezeifeln ist. Auch stelle ich mir das Barock weniger gehetzt, mehr kontemplativ orientiert vor. Die "dunklen" Moll-Variationen 15, 21 und 25 allerdings spielt Ólafsson betont langsam, langsamer jedenfalls als andere "schnelle" moderne Pianisten. Insgesamt bietet sich dadurch eine in den Emotionen ("Affekten") sehr wechselhafte, abwechslungsreiche Interpretation. Das ist wohl so beabsichtigt. Letzlich will kein Interpret, dass sein Publikum einnickt. Und seien wir ehrlich, Barockmusik kann über Stunden hinweg ziemlich gleichförmig klingen, was in unserer schnelllebigen Zeit nicht immer goutiert wird. Mein Eindruck aber ist, dass Ólafsson durch seine zugespitzte Interpretation Bach’s Werk zerreißt. Wie auch immer, einschlafen werden Sie bei seiner Interpretation nicht, versprochen!

Es ist also völlig ok, wie Víkingur Ólafsson dieses Werk aller Werke angeht, es ist seine derzeitige Auffassung, als solche haben wir sie zu respektieren. Ich werde sicher auch künftig immer mal wieder seine Goldberg Variationen auflegen. Es sind darin traumhaft schöne Episoden zu finden, etwa die Variationen 10, 13, 14 und 24. Wer mehr Erhabenheit, würdevollen Respekt, Ruhe und Stille sucht, hat genügend Alternativen.

Wenn man Interpretationen von der Zeitdauer her vergleicht, muss man in Rechnung stellen, dass mal Wiederholungen ganz weggelassen werden (Gould 1956), oder nur einzelne Variationen oder gar Teile von Ihnen wiederholt werden (Gould 1982, Kempff, Jarrett), mal nur die beiden Teile der Aria da capo nicht wiederholt werden (Ólafsson, Rana, Rosen) oder eben alle Wiederholungen beachtet werden (Levit, Lang Lang). Um eine Vergleichbarkeit herzustellen, kann man die weggelassenen Reprisen der tatsächlichen Gesamtdauer hinzurechnen. Bei Ólafsson käme man dabei auf 76:04 Minuten gegenüber der 1955er Aufnahme von Gould mit 77:20 Minuten. Nur Perahia ist ähnlich schnell unterwegs, spielt aber dafür die getragenen Variationen 15 und 25 doppelt so schnell wie Ólafsson und die Bravourstücke meist langsamer. Lang Lang braucht im Studio 91:37, live 92.56 Minuten. Rondeau gönnt sich und uns auf dem Cembalo 107:12 Minuten. Das alles nur als äußerlicher Hinweis, wie Víkingur Ólafsson das Werk angeht. Um mitzureden, sollte man seine Interpretation intensiv durchgehört haben. Erst dann kann man beurteilen, ob Geschwindigkeit hier ein akzeptables Stilmittel oder bloße effekthascheriche Hexerei ist.

Ein letztes Wort zur Tontechnik der mir vorliegenden CD. Eingespielt wurde in einer Reykjaviker Konzerthalle. Der Flügel (wohl ein Steinway) ist fast übertrieben nah aufgenommen, der Diskant ist gegenüber dem Bass für mein Empfinden zu sehr betont, was sich besonders bei der Variation 26 negativ auswirkt. Selbst mit audiophilen Kopfhörern sind manche Töne nahe der Schmerzgrenze, auf verschiedenen Audioanlagen hängt das Ergebnis vom Hörraum ab. Bei sehr gut abgestimmten Hörräumen und exzellenten Anlagen bestätigt sich der Eindruck der Kopfhörer. Auch die Tontechniker drehen also inzwischen des Effektes wegen die Regler hoch. Und wir Altgedienten drehen die Zeit wohl nicht mehr zurück.

Die Goldberg Variationen von Víkingur Ólafsson, eine neue und ganz sicher nicht letzte Fascette im gewaltigen Kosmos dieses wohl auch die nächsten Jahrhunderte überdauernden Opus magnum. Gespannt bin ich, ob das Mastering der LPs einen weniger spitzen Klang im Diskant mit sich bringt.

Wollen Sie mehr zu dieser großartigen Bach`schen Barockmusik erfahren, so klicken Sie sich gern ein in unsere Übersichtsarbeit zu den Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach. Dort finden Sie neben Hinweisen zur Architektur des Werkes auch unsere derzeitigen Referenzeinspielungen auf Cembalo und Konzertflügel. Und seien Sie nicht zu arg enttäuscht, dass Víkingur Ólafsson dort nicht dabei ist...