Betrachtungen zur Oper "Die tote Stadt" (1920)
von Erich Wolfgang Korngold

"Ein Traum hat meinen Traum zerstört"

Die Tote Stadt Web

DVD Arthaus-Musik - Aufnahme 2001
aus der "Opéra National Du Rhin" mit dem
"Orchestre Philharmonique De Strasbourg"
unter der Leitung von Jan Latham-Koenig

Hauptdarsteller:
Marie/Marietta: Angela Denoke, Sopran
Paul: Torsten Kerl, Tenor

Die "Tote Stadt" von Erich Wolfgang Korngold, eine über lange Jahre fast ganz vergessene Oper. Zu Unrecht werden Sie sagen, wenn Sie sich erst einmal etwas näher mit dem Sujet, vor allem aber mit der Musik befasst haben.

Uraufgeführt wurde das spätromantische Meisterwek des erst 23-jährigen Wiener Komponisten interessanterweise nicht in Wien, sondern zeitgleich am 4. Dezember 1920 sowohl in Köln als auch in Hamburg.

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Ein Freund schenkt mir die Oper "Die Tote Stadt" auf DVD in der Inszenierung der Opéra du Rhin (Straßburg) mit dem Tenor Torsten Kerl und der Sopranistin Angela Denoke.

Meine spontane Reaktion: "Noch nie gehört"! Wahrscheinlich geht das vielen von Ihnen ebenso. Doch dieses spätromantische Meisterwerk hätte ganz sicher einen größeren Bekanntheitsgrad verdient.

Das Libretto stammt ursprünglich von Hans Müller, wurde aber schließlich von Vater Julius Korngold unter dem Pseudonym "Paul Schott" fertiggestellt und veröffentlicht. Es stellt eine Bearbeitung der 1892 erschienenen mehrschichtigen Novelle "Bruges la Morte" des belgischen Romanciers Georges Rodenbach dar. Der hatte auch eine Bühnenbearbeitung mit dem Titel "Le Mirage" verfasst, die Hans Müller als Vorlage diente.

Die "tote Stadt" steht also für Brügge, einst Hafenstadt, jetzt aber versandet, dadurch von der Welt abgeschnitten und mit der mühsamen Verarbeitung ihrer Vergangenheit beschäftigt. Man darf annehmen, dass Vater Korngold als Ort der Handlung zwar vordergründig Brügge übernommen, aber Wien gemeint hat. Ist doch die Habsburger Monarchie soeben untergegangen. Und gerade in Wien herrscht nach dem Ende des traumatisierenden ersten Weltkrieges eine "fin-de-siècle"-Stimmung. Im Opernlibretto wird übrigens Pauls Begegnung mit Marietta im Gegensatz zur Romanvorlage als Vision dargestellt und eröffnet dem Zuschauer so eine "wienerische" Deutung. Diese "Umdeutung" soll auf Korngolds Vater Julius zurückgehen.

Textlich ein ganz eigenständiges Werk, wenn auch - zumindest im endgültigen Libretto - sicher beeinflusst von damaligen Strömungen, wie z.B. der aufkommenden Psychoanalyse und Traumdeutung des Unterbewusstseins durch Siegmund Freud. Einerseits ist die Oper eine Art "Psychodrama", andererseits entfalten die - vor allem im 2. Akt - bacchantischen, fast orgiastischen Bilder der Straßburger Inszenierung einen enormen komödiantischen Zauber und erinnern an Inszenierungen der Walpurgisnacht aus Goethes Faust.

Die Szene mit Mariettas Gauklerensemble etwa ist ein grotesker, morbider, dekadenter, rauschhafter und manchmal sogar etwas irrer Tanz der Sinne. Zumal dort durch parodisierende Zitierung einer gruseligen Nonnenerweckung aus "Robert le diable" von Giacomo Meyerbeer eine dritte Ebene aufgemacht wird: Auch die dort erscheinende teuflische Verführerin Helena ist eine auferstandene Tote.

Es gruselt einen bei dem Gedanken, was "moderne" und "freizügige" Regisseure aus dieser Szene hätten machen könnten.

Das Stück hat das Zeug, sich wieder auf Dauer in das Standard-Repertoire der großen Opernbühnen einzunisten, oder anders ausgedrückt, "dem Normalbetrieb standzuhalten", wie der einstige Wiener Staatsoper-Direktor Ioan Holender sagt, in Anspielung auf effekthaschende, hochgejubelte, dann aber schnell vergessene Produktionen.

Ein wahrer Glücksfall dieser Inszenierung ist die Sopranistin Angela Denoke, die sich in absoluter Hochform befindet. Sie prägt, ja beherrschte das gesamte Stück souverän als verführerisch-begehrenswerte Marietta, der Paul (und nicht nur Paul!) glaubhaft verfällt. Denoke hat als Sängerin, aber nicht zuletzt auch als Darstellerin eine enorme Bühnenpräsenz, setzt sie doch ihre dezent erotische Ausstrahlung geschickt und vor allem überhaupt nicht als Selbstzweck ein. Es ist genau diese sinnliche Extrovertiertheit, die das Spannungsfeld zwischen Paul, dem Psychopathen und Marietta, der leichtlebigen Tänzerin aufbaut. Sie kann sanft sein, aber auch schrill und schillernd provozierend. Nicht zuletzt auch eine schauspielerische Glanzleistung!

Großartig auch der Tenor Torsten Kerl als Paul. Die Rolle ist gesanglich und darstellerisch eine der schwersten der deutschsprachigen Opernliteratur. Paul ist ein teils autistischer, teils manischer, teils neurotischer Charakter, eigentlich also ein Fall für die Psychiatrie. Wir verdanken wohl Siegmund Freuds Erkenntnissen, dass der Librettist am Ende auch solch einem Psychopathen Heilung durch einen Traum als Form der Katharsis widerfahren lässt.

Yuri Batukov gibt einen grundsoliden Frank und Birgitta Svenden füllt die Rolle der Magd Brigitta auf beiden szenischen Ebenen überzeugend aus. Auch die "farbigen" Nebenrollen der Juliette, der Lucienne, des Victorin und des Fritz sind exzellent besetzt.

Angela Denoke and Torsten Kerl singen in idealer Balance zueinander, aber auch in innerer Balance zwischen ihren eigenen kraftvollen und lyrischen Stücken. Der Dirigent Jan Latham-Koenig und das Orchestre Philharmonique de Strasbourg bieten ein nuanciertes, facettenreiches Klangbild in perfekter Abstimmung mit den Sängern. Das Bühnenbild ist sparsam und fokussiert dadurch den Zuschauer auf die handelnden Personen. Die Inszenierung widersteht der Versuchung, mehr Erotik als nötig einzubringen.

Die DVD fängt das alles in perfekter Bild- und Ton-Qualität ein.

Das Stück verlangt von den beiden Hauptdarstellern eine schier übermenschliche Leistung, wenn es sowohl kraftvoll und leidenschaftlich als auch voller Schmelz herüberkommen soll. Keine Wagnerpartie ist stimmlich und darstellerisch schwieriger. Der als Paul besetzte Tenor muß in der Lage sein, zwei Stunden lang ununterbrochene Bühnenpräsenz zu zeigen und sich dabei auch noch gegenüber dem riesigen Orchester zu behaupten. Auch Mariettas Partie ist nicht nur darstellerisch, sondern auch stimmlich hochanspruchsvoll. Es gibt in der Opernliteratur kaum Partien, die mehr von einer Sopranistin verlangen.

Die beiden berühmtesten Nummern der Oper sind das Duett zwischen Paul und Marietta "Glück, das mir verblieb" und die schwärmerisch-melancholische Arie des "Pierrot" Fritz "Mein Sehnen, mein Wähnen".

Musikalisch hört man Anklänge an Mahler, an Richard Strauß, ein wenig auch an Puccini und manche fühlen sich sogar an Lehár erinnert. Es ist eine sinnliche, ja manchmal übersinnliche Musik, die uns wollüstige Emotionen erfahren lässt, aber melodisch auch menschliche Abgründe darstellen kann. Korngold hat für die musikalische Umsetzung dieses Seelendramas nicht zufällig ein opulent besetztes Orchester gewählt, wie man es sonst nur von Mahler kennt.

Kurze Inhaltsangabe

Seit Jahren lebt Paul in Brügge, versteinert verharrend in der Erinnerung an seine wohl schon vor vielen Jahren verstorbene Frau Marie. In einem totentempelartigen Zimmer seines Hauses, der "Kirche des Gewesenen" verwahrt er in Form eines Reliquienkultes Dinge, die ihn an Marie erinnern. Darunter ist auch ein Portrait und eine geflochtene blonde Haarsträhne der Verstorbenen.

Die Trauer ist übermächtig und isoliert ihn. Dann allerdings geschieht etwas Eigenartiges: Paul erzählt seinem Freund Frank von seiner Begegnung mit einer Unbekannten, die der toten Marie äußerlich weitgehend gleicht. Es ist Marietta, die als Tänzerin in Brügge gastiert, für Paul aber ist es seine zurückgekehrte Marie, die er zu sich nach Hause eingeladen hat.

Marietta kommt tatsächlich und nimmt Pauls Begrüßungs-Rosenstrauß entgegen. Sie stimmt das beühmte Lied "Glück, das mir verblieb" an, sich selbst auf Maries Laute begleitend. Immer stärker mischen sich die Bilder der toten Marie mit den verführerischen realen Eindrücken Mariettas. Als er seine Besucherin aber in die Arme schließen will, entwindet sie sich ihm unter Hinweis auf Ihre Theaterverpflichtungen.

Paul versinkt in einen tiefen Traum. Marie tritt ihm aus ihrem Porträt entgegen und mahnt ihn an seine Treue. Paul aber erliegt den Verführungen und findet sich im nächsten Bild am Kai vor Mariettas Haus wieder. Frank taucht auf, hält den Schlüssel zu Mariettas Zimmer in der Hand und macht Paul eifersüchtig. Paul schlägt ihn nieder und reißt den Schlüssel an sich.

Marietta kehrt mit ihrer Komödiantentruppe vom Theater heim und improvisiert auf offener Straße die Erweckungsszene aus Meyerbeers Oper "Robert der Teufel". Marietta spielt darin die von den Toten auferstandene Helene. Paul unterbricht wütend und beschuldigt sie der Blasphemie. Marietta aber nimmt trotzig und selbstbewußt den Kampf mit der toten Rivalin auf, wobei sie vor allem wegen ihrer selbst und nicht etwa als Ersatz geliebt werden will.

Nach einer gemeinsam verbrachten Nacht, die in der Straßburger Inszenierung zu einer dezent angedeuteten Schwangerschaft führt, plagen Paul Schuldgefühle. Als eine Prozession an seinem Haus vorbeizieht, verhöhnt ihn Marietta herausfordernd wegen seiner Frömmigkeit. Schließlich ergreift sie provozierend Maries geflochtene Haarsträhne, Pauls wichtigste "Reliquie". Paul will sie ihr entreißen, im Gemenge tötet er sie mit einem Messer. Auch an dieser Stelle weicht die Straßburger Inszenierung von der Vorlage ab, wohl um das Schlußbild vorzubereiten

Paul erwacht aus seinem Traum. Marietta erscheint lebendig und wieder züchtig gekleidet wie in der Anfangsszene, als wenn sie ihn gerade erst verlassen hätte. Sie kommt zurück, um den von ihr vergessenen Rosenstrauß zu holen. Auch der "tote" Frank erscheint wieder.

Paul beschließt, die "Stadt des Todes", zu verlassen. In der Straßburger Inszenierung verlässt er aber zugleich die irdische Welt. Das Messer, das Mordwerkzeug des Traumes wird zum Selbstmordwerkzeug des Alptraumes. "Gründlicher", ja radikaler kann eine Katharsis nicht sein.

Nicht nur Paul hat es schwer, zwischen Traum, traumhafter Realität, nachgespielter Theaterrealität und Wirklichkeit zu unterscheiden, auch der Zuschauer muß sich ständig klarmachen, auf welcher dieser Ebenen sich die Handlung gerade bewegt. Doch nicht zuletzt das macht ja den Reiz dieser Oper aus.

"Ein Traum hat meinen Traum zerstört", so beschreibt Paul im Schlußakt den Prozess seiner Heilung.

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