Johann Sebastian Bach - Goldberg Variationen

Entstehung, Namensgebung, Aufbau, Wirkung und Auswirkungen

Bach 2

Johann Sebastian Bach (1685-1750) hat seine berühmten Goldberg Variationen erstmals 1741 drucken lassen, die Urschrift ist verschollen, das exakte Entstehungsdatum unklar. Vermutet wird gelengentlich, dass einzelne Variationen schon früher niedergeschrieben worden sind, was ich mir bei diesem komplexen Werk der aufeinander aufbauenden Variationen aber kaum vorstellen kann. Im Bach Werke Verzeichnis (BWV) tragen die Variationen die Nummer 988, sie zählen zum beginnenden Spätwerkes des Komponisten.

Notabene: Das BWV ist nicht chronologisch, sondern nach Kategorien aufgebaut. Allein nach der Nummer kann man also nicht erkennen, ob ein Stück ein Früh- oder ein Spätwerk ist.

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Die Übersichtsarbeit gliedert sich in folgende Kapitel:

  • Entstehung des Werkes
  • Architektur der Komposition
  • Notenblätter (Partituren)
  • Cembalo versus Piano forte
  • Fragen zur Interpretation allgemein
  • Kapazität von Tonträgern und Auswirkungen auf die Interpretation
  • Beispielhafte Interpretationen auf Cembalo
  • Beispielhafte Interpretationen auf Piano forte
  • Beispielhafte Interpretationen als Video
  • Einspielung mittels anderer Instrumente
  • Audio- und Video-Angebote von Streamingdiensten
  • Fragen zur Interpretation speziell
  • Unsere Referenzeinspielungen auf Cembalo und Flügel

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Man weiß, dass der Zyklus Bach sehr am Herzen lag. Im Unterschied zu seinem nicht minder berühmten "Wohltemperierten Klavier" hat er die Goldberg Variationen publiziert und wollte ziemlich sicher später sogar noch eine korrigierte 2. Fassung herausgeben.

Den heute allgemein üblichen Namen "Goldberg Variationen" haben die Klavierstücke erst später, lange nach dem Tode des Komponisten erhalten, basierend auf den hundertfach (und hier dennoch erneut) zitierten, aber wohl eher anekdotischen Angaben des Bach-Biografen Johann Nikolaus Forkel. Danach war die Komposition eine Auftragsarbeit für den russischen Gesandten Graf Keyserlingk, der sich die Stücke von einem jungen Pianisten namens Goldberg (einem Schüler Bach`s) vorspielen ließ, wenn er nachts nicht einschlafen konnte. Wahrscheinlich "fake news", wie man heute sagen würde. Aber wenn es wirklich unwahr ist, dann ist es wenigstens gut erfunden. Was in unserer Zeit einer "alternativen Wahrheit" recht nahe kommt.

Wir glauben allerdings schon, dass auf einer anderen, nämlich geistigen Ebene die GV geeignet sind, schlaflose Nächte zu begleiten, indem sie uns - ohne die Ablenkungen des Alltags - intellektuell fordern, beschäftigen - und damit bereichern. So gesehen hat Graf Keyserlingk vielleicht gar nicht einschlafen wollen, sondern hat sich nach Musik gesehnt, die ihn während seines Wachseins erfüllen sollte. Forkel schreibt wörtlich, der Graf habe sich gewünscht, bei seiner Schlaflosigkeit "ein wenig aufgeheitert" zu werden. Das klingt dann schon gar nicht mehr nach Einschlafhilfe.

Obwohl nicht eindeutig so bezeichnet, gelten die Goldberg Variationen als 4. Teil der Bach`schen "Clavier-Übungen". Sie tragen den von Bach selbst notierten Titel "Aria mit verschiedenen Verænderungen vors Clavizimbal mit 2 Manualen Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget".

Eine Sammlung von sechs Partiten (manchmal auch "deutsche Suiten" genannt) gelten als 1. Teil der "Clavier-Übungen", die Französische Ouvertüre und das Italienische Konzert als 2. Teil und die sogenannte deutsche Orgelmesse zusammen mit vier Duetten als 3. Teil. Bach wollte sowohl seine Kunst des Komponierens demonstrieren als auch seine Spieltechnik auf Cembalo und Orgel.

Schmuckblatt

Ein solches bis ins Kleinste ausgefeilte Monumentalwerk, dessen Interpretation gut und gern 75-80, ja im Extremfall sogar deutlich mehr als 100 Minuten braucht als Einschlafhilfe? Das Gegenteil ist wahr! Ich bin immer hellwach, zumindest wenn nach der Eingangsarie die erste bewegende Variation erklingt. Die GV sind nicht Musik zum Einschlafen, sondern Hilfe zur Ausfüllung von Schlaflosigkeit. Bei den so völlig unterschiedlichen Stimmungen (Emotionen wurden im Barock "Affekte" genannt) kann man allerdings schon ins Träumen geraten. Pianisten haben von einer hypnotischen Aura gesprochen, die sie während des eigenen Vortrags ereilt hat.

Es hängt wohl nicht zuletzt von der jeweilig persönlichen Stimmungslage ab, welche Effekte ("Affekte") die Stücke vermitteln. Man kann den Variationen hellwach (!) mitdenkend folgen - oder sich verträumt fallen lassen. Und da Barockmusik, wie manche Ketzer sagen, "als Hintergrundmusik nicht stört", kann man damit schlimmstenfalls auch einschlafen, so man das zulässt. Versuchen Sie das mal mit einer Komposition von Liszt, Bruckner oder Wagner…

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Bach 3

Die Architektur des Werkes

Der Großteil aller Menschen, die sich den Goldberg Variationen widmen, tut das allein wegen der wunderbaren Musik. Sie ahnen (oder wissen) natürlich, dass sie gerade einem der größten Werke der Musikgeschichte lauschen, brauchen aber keine Analyse des Aufbaus im Einzelnen. Es ist Aufgabe der Musikwissenschaft, die nahezu mathematisch exakt angewandten Regeln der Komposition herauszuarbeiten, und natürlich müssen sich Interpreten damit auseinandersetzen. Für den Musikliebhaber aber reicht folgende kurze Einführung völlig aus:

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Basslinie

Die 32 Takte der dem Zyklus zugrunde liegenden "Aria" (eine Sarabande) und aller ihrer Variationen lassen sich in zweimal 16 Takte gliedern, die jeweils wiederholt werden sollen. Die 32 Takte fußen auf 4 achttaktiken Basslinien mit jeweils 8 Fundamentalnoten (siehe oben), auf denen sich die harmoniebestimmenden Akkorde aufbauen. Nicht zufällig ergeben die Aria, die 30 Variationen und die am Schluss noch einmal unverändert angehängte Aria wiederum exakt 32 Teile. Zudem ist das Gesamtwerk innerlich noch einmal in zwei Teile à 16 Stücke gegliedert, besteht mithin aus zwei symmetrischen Blöcken. Der zweite Teil des Werkes beginnt völlig logisch mit einer Ouvertüre als Variation 16. Damit haben wir bereits die wichtigsten "magischen" Zahlen des Werkes kennengelernt: 2, 4, 8, 16, 32. Wie wir noch sehen werden, kommen auch der 3, 10 und 15 Bedeutungen zu.

Doch keine Regel ohne Ausnahme, die Ouvertüre im französischen Stil (Var. 16) bietet nämlich eine Besonderheit: Sie ist nicht symmetrisch aufgebaut, dem langsamen und langen ersten Teil im 2/2 Takt folgt ein kurzer und schnellerer zweiter Teil im 3/8 Takt. Zudem sind die "Affekte" beider Teile im Gegensatz zu allen anderen Stücken sehr unterschiedlich, der erste Teil kommt majestätisch schreitend daher, der zweite Teil quicklebendig tanzend. Konstant bleibt aber die Vorschrift, beide Teile jeweils zu wiederholen. Was Bach zu dieser Besonderheit im Kompositionsaufbau bewegt hat, scheint sich einer einfachen Erklärung zu entziehen. Mein Eindruck ist, dass mittels der Takte 19-32 die nachfolgende Variation 17 vorbereitet werden soll.

Von Bedeutung zum Verständnis des Werkes ist, dass ausschließlich die 32 Bassnoten der Aria samt ihren Umspielungen variiert werden, nicht etwa die Melodie der rechten Hand. Es werden also Harmonien "verändert" und nicht (wie bei den meisten anderen Variationswerken) Melodien. Bach variiert zudem ausgeprägt den Takt; steht die Aria im 3/4-Takt, so folgen Variationen z.B. im 2/4-, 12/8-, 3/8-, 6/8-, 4/4-, 2/2-, 12/16-, 9/8- und 18/16-Takt. Es sind wohl nicht zuletzt diese so unterschiedlichen Taktarten, die den Reiz der Variationen ausmachen. Alle Variationen stehen in G-Dur, nur die Variationen Nr. 15, Nr. 21 und Nr. 25 stehen in der "Varianttonart" g-moll.

Übrigens ist unter Musikwissenschaftlern umstritten, ob die "Aria" aus Bachs Feder stammt. Es werden Gründe dafür und dagegen angeführt. Einen Gedanken vermisse ich bei dem ganzen Disput: Warum sollte Bach diesem so ausgefeilten und von ihm selbst so hochgeschätzten Werk eine Fremdkomposition als Basis seiner Variationen voranstellen! Auch dass Bach eigenhändig die Aria schon 1740 (oder sogar früher!) ohne weitere Anmerkungen ins "Clavierbuch" der Anna Magdalena Bach eingetragen hat, spricht m.E. gegen eine anderweitige Autorenschaft. Und hätten nicht Bach selbst oder irgendein Chronist auf den wahren Autor hingewiesen, falls das Stück tatsächlich nicht vom Meister stammen sollte?

Manche Musikwissenschaftler nehmen heute an, dass J.S.Bach ein Werk Händels, nähmlich eine Chaconne mit 62 Variationen als Inspirationsquelle gedient hat. Sie machen das fest an der Tatsache, dass die ersten 8 Bassnoten der Aria identisch mit denen der Chaconne sind. Beweisen lässt sich das nicht. Und auch nicht, dass Bach Händels Komposition überhaupt gekannt hat. Allerdings gibt es zurück bis zu Monteverdi immer wieder Kompositionen mit dieser oder einer ganz ähnlichen Basslinie. Das Motiv scheint also einer regelmäßigen barocken Übung zu folgen. Die dann folgenden 24 Takte sind so aber allein bei Bach zu finden.

Doch ist das alles wichtig? Wenn überhaupt, dann wohl nur für Theoretiker.

Noten-GBV

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Doch weiter in der Systematik: Die beiden Blöcke von jeweils 15 Variationen (= 30 Variationen) lassen sich untergliedern in zweimal 5 (= 10) Gruppen (manchmal auch als "Trinitäten" bezeichnet) zu je 3 Variationen.

Die Dreiergruppen sind durchweg nach dem gleichen Schema aufgebaut: Die jeweils erste Variation innerhalb der 10 Gruppen ist einem festen Genre vorbehalten, also etwa einem Tanzsatz der Bachzeit (Courante, Sarabande, Giga, Chaconne), einer Fuge oder Ouvertüre. Der Mittelsatz ist "frei" komponiert, oft spieltechnisch vertrackt und am ehesten eine "Clavier Uebung" (heute würde man "Etüde" sagen). Jede dritte Variation, also der Schlusssatz einer Dreiergruppe ist als Kanon komponiert - mit Ausnahme der letzten Variation, die als "Quodlibet" bezeichnet ist, aber mit ihren "ineinander gesungenen" Volksweisen auch etwas "Kanonisches" in sich trägt. Der Kanon wurde zu Bachs Zeiten als Spielart einer Fuge mit "freierer" Imitation, also eher Variation der ersten Stimme gesehen.

Innerhalb der sich fortentwickelnden Dreiergruppen gibt es wiederum intervallmäßige Gesetzmäßigkeiten, deren Darstellung an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde.

Manch einer hört nach eingehender Beschäftigung mit dem Werk innerhalb jeweils eines 16er-Takters zwei unterschiedliche 8er-Takte heraus, was nach dem oben gesagten über die 2 x 8 Basalnoten innerhalb 16 Takten nicht verwundert; manch einer hört aber auch vier 4er-Takte innerhalb von 16 Takten, eine Gliederung, die ich so noch nirgends beschrieben gefunden habe.

"Um Gottes Willen", werden Sie sagen, "strenge, nahezu gesetzmäßige, ja mathematische Regeln! Ich wollte doch eigentlich nur gute Musik hören!" Nun, lassen Sie sich gern beeindrucken von der Kunst der formalen Komposition - Sie müssen aber nicht. Für den Hörgenuss sollte das keine Rolle spielen. Die Architektur bildet lediglich eine feste äußere Form, innerhalb derer sich die rhythmisch, melodisch, harmonisch und damit stimmungsmäßig höchst unterschiedlichen Variationen frei austoben können. Es gibt schmerzliche, melancholische, nachdenkliche, humorvolle und tröstende Stücke.

Permanent wechseln die Stile, Tempi und Affekte, wodurch ein großer Spannungsbogen aufrechterhalten wird, der uns Zuhörer erst mit der Schlussarie wieder zur Ruhe kommen (und wenn wirklich gewünscht, auch einschlafen) lässt.

Igor Levit und Anselm Cybinski zitieren in ihrem Goldberg Potcast des Bayerischen Rundfunks T.S.Eliot:

“We shall not cease from exploration
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time".

Natürlich wurden diese Verse aus anderen Einsichten geschrieben, sie passen aber auch gut auf Bach`s Monumentalwerk. Nach der Eingangsarie und 30 Variationen erklingt als letztes Stück die Aria erneut, und zwar "da capo" in unveränderter Fassung ("arrive where we started"). Nur wird sie wohl Mancher jetzt ganz anders wahrnehmen, vielleicht so, als höre er sie zum allerersten Mal. Damit wäre dann aber im Hörer eine Veränderung (!) vorgegangen, denn die Aria ist ja das einzige Stück des Zyklus, das gleich geblieben ist.

Durch einen Zufall stießen wir kürzlich auf eine Arbeit von Gérard Genette mit dem Titel "Essays in Aesthetics", University of Nebraska Press, Lincoln and London. Genette befasst sich im Kapitel 9 mit dem Thema "The Other of the Same". Darin streift er (aus gegebenem Anlass!) die Aria da Capo der Goldberg Variationen: "Even if the interpreter contented himself, on a record, with the reproduction of his initial delivery in a magnetically identical fashion, I would still swear that something has changed. Not without reason, at least the auditor has changed. So that here again to repeat is to vary."

Dieser "Dramaturgie" folgend scheint es uns angebracht, dass Interpreten die Schluss-Aria nicht bewusst anders spielen als die Eingangs-Aria, also etwa nicht (anders als zu Beginn) die Reprisen weglassen und dass Cembalisten beide Arien nicht unterschiedlich registrieren. Andreas Staier etwa folgt diesem Ansatz, offenbar gibt es aber auch ganz andere Auffassungen.

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Als Übersicht nachfolgend die Originalbezeichnungen der einzelnen Stücke. Kursiv und in Klammern stehen die mir bekannten später von Bach angebrachten Zusätze, wie sie im 1975 aufgetauchten Handexemplar notiert sind. Als letztes ist die Taktart angegeben.

  • Aria - 3/4
  • Variatio 1. a 1 Clav. - 3/4
  • Variatio 2. a 1. Clav. - 2/4
  • Variatio 3. Canone all Unisuono à 1 Clav. - 12/8
  • Variatio 4. à 1 Clav. - 3/8
  • Variatio 5. a 1 ô vero 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 6. Canone alla Seconda a 1 Clav. - 3/8
  • Variatio 7. à 1. ô vero 2 Clav. (al tempo di Giga) - 6/8
  • Variatio 8. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 9. Canone alla Terza. a 1 Clav. - 4/4
  • Variatio 10. Fugetta. a 1 Clav. - 2/2
  • Variatio 11. a 2 Clav. - 12/16
  • Variatio 12. Canone alla Quarta a 1 Clav. - 3/4
  • Variatio 13. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 14. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 15. Canone alla Quinta a 1 Clav. - 2/4
  • Variatio 16. a 1 Clav. Ouverture - 2/2 + 3/8
  • Variatio 17. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 18. Canone alla Sexta. a 1 Clav. - 2/2
  • Variatio 19. à 1 Clav. - 3/8
  • Variatio 20. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 21. Canone alla Settima a 1 Clav. - 4/4
  • Variatio 22. a 1 Clav. alla breve - 2/2
  • Variatio 23. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 24. Canone all Ottava a 1 Clav. - 9/8
  • Variatio 25. a 2 Clav. ("adagio") - 3/4
  • Variatio 26. a 2 Clav. - 18/16 + 3/4
  • Variatio 27. Canone alla Nona a 2 Clav. - 6/8
  • Variatio 28. a 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 29. a 1 o vero 2 Clav. - 3/4
  • Variatio 30. a 1 Clav. Quodlibet - 4/4
  • Aria da Capo è Fine - 3/4

Heute wird zumeist bei der Variation 15 der Zusatz "Andante" angegeben. Ob diese Notiz und der Zusatz "alla breve" der Variation 22 auch aus dem Handexemplar stammen, in dem Bach eigenhändig mit roter Tinte Korrekturen für einen Neudruck angebracht hat, konnte ich nicht herausfinden.

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Die eine jeweilige Dreiergruppe beschließenden Canones sind zur besseren Übersicht fett markiert. Dort wird anhand der Satzüberschriften auch die Systematik des zunehmenden Intervalls (Prime = Unisono bis None) zur zweiten und dritten Stimme deutlich (alle Canones bis auf den letzten, die Variation Nr. 27 sind dreistimmig).

Und noch etwas nicht ganz Unwichtiges vermittelt diese Auflistung. Alle Variationen tragen Hinweise, ob sie auf zwei oder nur einem Manual gespielt werden sollen, wobei der Komponist bei den Variationen 5, 7 und 29 dem Spieler ausdrücklich beide Möglichkeiten lässt.

Zu Bachs Zeiten kam zwar das einmanualige Hammerklavier gerade auf, Bach aber hatte bei seinen Kompositionen für Tasteninstrumente (neben der Orgel) durchweg das Cembalo im Blick. Die damaligen Instrumente konnten ein, zwei oder sogar drei Manuale besitzen. Für die kompletten Goldberg Variationen hat Bach das zweimanualige Cembalo ausdrücklich vorgeschrieben. Aber sind sie damals auch wirklich "en bloc" gespielt worden?

Oft hört man, eine Interpretation der Goldbergvariationen auf Klavier (und damit auf nur einem "Manual") führe zum "Unding" sich notwendigerweise kreuzender Hände. Das aber ist gar nicht das Problem, kommt es doch auch beim Spiel auf einem zweimanualigen Cembalo zu solchen Situationen. Auf einem modernen Flügel resultieren allerdings unweigerlich "ineinandergreifende" Hände bzw Finger. Und nicht einmal das ist bei der Variation 29 auf dem (von Bach ausdrücklich zugelassenen) einmanualigen Cembalo anders.

Zur Bewältigung dieser Lage haben akribische Zeitgenossen besondere Anweisungen zum Fingersatz publiziert. Dem werden aber wohl nur Anfänger folgen, Starpianisten haben da sicher ihre eigenen Techniken, wobei auch sie - z.B. in der Variation 8 - an ihre Grenzen geraten können.

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Die Bearbeitung von Ferruccio Busoni 1914

In der Aufführungspraxis der GV hat in den letzten 100 Jahren ein Umdenken stattgefunden. Wie Bach die Variationen gespielt hat, wissen wir nicht. Nach Bach`s Tod gerieten sie in Vergessenheit. Als Ferruccio Busoni das Werk wiederentdeckte, glaubte er nicht daran, dass eine komplette Aufführung möglich wäre. 1914 hat er eine Bearbeitung der GV vorgenommen mit radikalen Kürzungen, Weglassen etlicher Kanones und Streichung aller Wiederholungen. Die Variation 29, das Quodlibet und die Aria da capo hat er in einem Finale zusammengefasst. Busoni wollte so die GV für den Konzertsaal "retten".

Das mutet heute in Anbetracht von Hunderten kompletter Einspielungen und konzertanten Darbietungen fast amüsant an. Das Weglassen der Reprisen hat sich allerdings lange gehalten. Heute wird das Werk zum Glück von den meisten Pianisten und Cembalisten in seiner Urform dargeboten und füllt ganze Konzertabende.

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Goldberg Variationen Noten

Partituren

Wenn Sie die Noten mitlesen wollen, empfehle ich Ihnen das links abgebildete preiswerte Heft des G. Henle Verlages, herausgegeben von Rudolf Steglich in der Neuauflage von 1978. Wiedergegeben wird der Urtext, ergänzt durch die von Bach eigenhändig eingefügten Korrekturen. Letztere sind erstaunlicherweise erst in einem 1975 aufgefundenen Bach`schen Handexemplar entdeckt worden. Steglich selbst konnte die Neuauflage nicht mehr besorgen, er verstarb 1976. Für ihn hat Paul Badura-Skoda diese Aufgabe übernommen.

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Bach-4

Aufführungspraxis - Cembalo oder moderner Konzertflügel?

Viel diskutiert wurde ungeachtet dessen die grundsätzliche Frage, ob man die Goldberg Variationen überhaupt auf einem modernen Klavier spielen "darf", oder doch besser ausschließlich auf einem (und dann wenn möglich auch noch zeitgenössischen) Cembalo. Zumal in den vergangenen Jahrzehnten die sogenannte "historische Aufführungspraxis" durch Autoritäten wie Gustav Leonhard oder Nicolaus Harnoncourt wieder "in Mode" gekommen ist (wenn man das mal augenzwinkernd so formulieren darf).

Historische Aufführungspraxis, welch großes Wort. Gut, wenn man statt heutiger moderner Instrumente Originalinstrumente der Bach-Zeit (oder getreue Nachbauten) verwendet, dann ist man sicher schon mal ein gutes Stück näher am Originalklang. Und der kann durchaus auch heute noch verzaubern. Aber wie hat Bach genau gespielt, welche Tempi hat er wirklich vorgegeben, welche Register hat er auf seinem Cembalo gezogen, hat er Rubati genutzt, wie hat er die Verzierungen eingesetzt, wie laut oder leise waren die Aufführungen? Man weiß es im Einzelnen nicht, auch wenn es von den Söhnen Bachs einige wenige Notizen zur Spielweise des Meisters gibt.

Völlig müßig ist die Frage, auf welchem Instrument Bach seine Variationen gespielt hätte, wenn ihm neben dem "Clavizimbal" auch das Piano forte zur Verfügung gestanden hätte. Ich denke, dann wäre wohl die gesamte Komposition eine andere geworden.

Clifford Curzon meinte kategorisch, man dürfe Bach keinesfalls auf dem Flügel spielen, schon allein durch die Wahl dieses Instrumentes würde die Musik romantisiert. András Schiff hält dagegen, dass kein Mensch einen Gesamtvortrag der Goldberg Variationen auf Cembalo aushalten könne. Wer hat Recht, wer Unrecht? Murray Perahia hat einmal gesagt, er als Pianist könne Bach gar nicht auf dem Cembalo spielen, das sei ein völlig anderes Instrument. Das sagt er, obschon er immerhin 2 Jahre lang Cembalo studiert hat. Der große Organist und Cembalist Walcha hätte wahrscheinlich ähnlich geantwortet, nur mit umgekehrten Vorzeichen.

Bach 1

Zum Glück gibt es in diesem Punkt keine Zensur, wohl aber viele mehr oder weniger einflussreiche Kritiker. Sollten Sie als Pianist dem kürzlich verstorbenen Joachim Kaiser (dem Autor eines "Pianisten-Michelin") nicht gefallen haben, war das für Ihre Karriere nicht gerade förderlich. Das war schon immer so. Wenn etwa im 19. Jhd. Eduard Hanslick eine Komposition oder Interpretation verriss, brauchte es schon einen Brucknerschen Dickschädel und vor allem viel Können, um auch weiterhin aufrecht voran zu schreiten.

Und dann gab und gibt es neben dem eigenen Geschmack noch den sogenannten Zeitgeschmack; und zwar den der Mehrheit und den von der Musikindustrie und anderen Influencern postulierten. Versuchen Sie mal, sich als junger Künstler gegen Ihren Plattenboss oder einflussreiche Kritiker durchzusetzen! Oder besser nicht, wenn Sie überleben wollen!

Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass in der Kunst erlaubt ist, was gefällt, sofern man Anderen damit nicht schadet. Wenn es ganz klar wäre, wie die Goldberg Variationen zu klingen haben, gäbe es nicht hunderte unterschiedliche Interpretationen. Ist es nicht wunderbar, dass wir die Freiheit (oder auch die Qual) der Wahl haben! Wozu brauchen wir als Musikliebhaber "heilige Kühe", "goldene Lämmer" und andere Pseudowahrheiten oder gar Dogmen!

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Cembalo

Heutige Musikwissenschaftler und vor allem Musikfreunde treibt in diesem Zusammenhang eine weitere Frage um: Darf man Bachs barocke Musik überhaupt "interpretieren", oder muss man nicht streng bei den Noten und den wenigen darin notierten Anmerkungen zur Spielweise bleiben? Eine gute Frage vor allem für Pianisten, die die Cembalokompositionen des Meisters auf einem modernen Piano Forte spielen wollen. Und für Pianisten, die sich bislang schwerpunktmäßig mit Romantikern wie Chopin, Liszt und Rachmaninow beschäftigt haben, deren Musik ohne Dynamik und Rubato kaum denkbar ist.

Im Gegensatz zum Cembalo lässt es das moderne Klavier ja zu, innerhalb ein und desselben Stückes oder Satzes mal kaum hörbar leise, dann aber wieder laut donnernd anzuschlagen. Darf das der Barock-Pianist und darf er Pedale benutzen? Von der Wahl des Grundtempos und dessen Modulation im Sinne einer Agogik war schon die Rede. Wieviel Sentiment darf der Interpret einbringen, etwa mittels der Rubatotechnik? Oder muss Bach`sche Barockmusik wie von einer (Näh-)Maschine fabriziert, wie aus einem Maschinengewehr abgefeuert klingen? Was virtuosen Flinkefingern entgegen käme, zumal manche der Stücke hohe technische Fertigkeiten verlangen. Kurz auf den Punkt gebracht: Darf Barockmusik überhaupt hörbar von Herzen kommen?

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Kapazität von Tonträgern - Auswirkungen auf die Interpretationsdauer und auf die Interpretation

Heute im Zeitalter des Streamens und der Existenz volumenmäßig praktisch unbegrenzter digitaler Datenträger haben Fragen der Kapazität von Tonträgern weniger Bedeutung. Historisch betrachtet war das anders und musste beim Aufzeichnen von Musik beachtet werden.

Schellackplatten von den 20er bis in die 50er Jahre hergestellt konnten pro Seite 3 Minuten, 12-Zoll-Platten sogar etwas mehr als 4 Minuten Musik aufnehmen, „Langspielschellacks“ (ab 1930) sogar 10 Minuten pro Seite.

Die auch heute immer noch hergestellte Langspielplatte (LP) aus Vinyl, die üblicherweise mit 33 1/3 Umdrehungen abgespielt wird, fasst im Mittel 20-25 Minuten Musik pro Seite. Technisch bedingt wird die Klangqualität nach innen zum Ende der Rille hin schlechter, da die Rillenlaufgeschwindigkeit nach innen auf ca. 70% des Ausgangswertes abnimmt. Daher werden audiophile LPs oft nur mit 15 Minuten Musik pro Seite beschickt oder selten auch mit 45 Umdrehungen pro Minute abgespielt.

Die 1982 eingeführte von allen Playern lesbare digitale Audio-CD fasste anfänglich 650 MB, später durch Erhöhung der Spurdichte 750 MB und heute sogar mehr. Damit war sie unter Einhaltung des CD-Standards (16-Bit Stereo, Abtastrate 44,1 Kiloherz) anfänglich mit 60 Minuten, später mit 74 Minuten und neuerdings sogar mit bis zu 80 Minuten Musik beschreibbar. Bei hohen Kapazitäten, die durch eine Erhöhung der Rillendichte und ein ausgedehnteres Beschreiben bis zum Rand der Scheibe erreicht werden, wächst allerdings die Gefahr von Datenverlusten.

Möglicherweise fragen Sie sich, warum wir diesen "technischen" Exkurs hier anbringen. Wir glauben, dass die Limitierungen der einzelnen Tonträger Auswirkungen auf die verschiedenen (vor allem historischen) Interpretationen hatten, indem sie die Künstler dazu "gezwungen" haben, auf die von Bach vorgeschriebenen Wiederholungen ganz oder teilweise zu verzichten bzw. manchmal auch die Tempi anzuheben. Das war schon bei den Schellackscheiben so, und auch bei den LPs mussten Entscheidungen getroffen werden, ob ein Einzel- oder ein Doppelalbum produziert werden sollte. Selbst heute bei der als Tonkonserve im Vordergrund stehenden CD muss bei einer individuellen Interpretationszeit der GV zwischen 75 und 105 Minuten überlegt werden, ob die Einspielung "gekürzt" werden soll oder ob der Verlag eine Doppel-CD spendiert. Beispiele für beiderlei gibt es reichlich, wir werden noch darauf zurückkommen.

Jedenfalls kann ich mir viele Interpretationsbesonderheiten nicht anders als mit einem "Blick auf die Uhr" erklären. Ein erster Beleg: Simone Dinnerstein spielt die GV 2005 vergleichsweise langsam und beachtet (anders als in der Zeitschrift "Audio" dargelegt!) eben nicht alle Reprisen. So lässt sie die Wiederholungen der Variationen 15, 25, 28 und der Aria da capo weg und zudem die Wiederholung des ersten Teils der Variation 16 (Ouverture), kommt so aber immer noch auf eine Gesamteinspielzeit von gut 78 Minuten. Ihre Einspielung passt damit gerade auf eine 2005 gepresste CD. Ich kann nicht glauben, dass hinter dieser Gestaltung eine künstlerische Überlegung stand.

Trotzden hat Simone Dinnerstein eine eindrucksvolle, vielleicht aber etwas "romantisierende" Interpretation vorgelegt, siehe unsere Rezension. Das Weglassen der Wiederholungen der langsamen Moll-Variationen 15 und 25 finde ich akzeptabel, bei der Aria da capo versucht sie durch ein langsameres Tempo im Vergleich zur Eingangsaria zu kompensieren, was nicht überzeugt; die Ouverture aber bekommt sogar ein gewisses "Gleichgewicht" zwischen ihren beiden Teilen, allein die wunderbare Variation 28 leidet etwas unter Dinnersteins Eingriff. Erwähnen möchten wir noch den warmen Klang des von ihr verwendeten Steinway aus dem Jahre 1903.

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Bach-Büste

Interpretationsfragen

Jeder Musiker, der die Goldberg Variationen interpretieren will, muss sich vorab die Frage stellen, wie er die Aufgabe angehen will. Neben den Fragen zur Agogik, zur Anwendung von Rubati, zur Beachtung der Verzierungen (z.B. Triller, Vorhaltenoten), zur Frage des Tempos der einzelnen Stücke, zur Hervorhebung von Staccato oder Legato etc. ergeben sich gewisse Überlegungen:

Soll der Zusammenhang des gesamten Zyklus, also aller 32 Stücke herausgearbeitet werden? Oder sollen die einzelnen Affekte stückbezogen betrachtet und akzentuiert werden? Sollen Melodiebögen betont werden? Soll die horizontale Struktur der jeweils 32 Takte hervortreten? Soll die vertikale Struktur (Polyphonie) der parallelen 2 oder 3 Stimmen deutlich werden? Soll der in manchen Veränderungen bzw. Takten wirklich "vertrackte" Rhythmus herausgearbeitet werden?

Es sind zahlreiche Arbeiten und ganze Bücher zu dieser Thematik veröffentlicht worden. Da es sich bei den Goldberg Variationen um einen Variationszyklus handelt, haben Musikwissenschaftler z.B. untersucht, wie es verschiedene Interpreten mit dem "Zyklusgedanken" gehalten haben. Wen das interessiert, der findet bei Majid Motavasseli reichlich Material in einer umfangreichen wissenschaftlichen Analyse:

Zyklische Form der GV bei 76 Interpretationen

Von Rolf Dammann gibt es ein umfangreiches Werk (275 S.!) mit dem Titel "Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen" aus dem Jahr 1986, verlegt bei Schott/Mainz.
ISBN: 3-7957-1792-2 978-3-7957-1792-6
Dammann macht darin Tempovorschläge zu den einzelnen Stücken und auch zur Registrierung bei einer Interpretation auf Cembalo, erklärt die jeweiligen Affekte bzw. Stilisierungen und gibt weitere hilfreiche Informationen.

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Übersicht der nachfolgend besprochenen Aufnahmen
in der Reihenfolge der einzelnen Rezensionen:

  • Landowska, Wanda
  • Walcha, Helmut
  • Leonhard, Gustav
  • Jarrett, Keith
  • Pinnock, Trevor
  • Bühler-Kestler, Eleonore
  • Staier, Andreas
  • Vinikour, Jory
  • Rondeau, Jean
  • Esfahani, Mahan
  • Kirkpatrick, Ralph
  • Richter, Karl
  • Koopman, Ton
  • Gould, Glenn
  • Schiff, András
  • Stadtfeld, Martin
  • Kempff, Wilhelm
  • Perahia, Murray
  • Lang Lang
  • Rana, Beatrice
  • Levit, Igor
  • Becker, Markus
  • Vogt, Lars
  • Arrau, Claudio
  • Kimiko Ishizaka
  • Olafsson, Vikingur
  • Say, Fazil
  • Dinnerstein, Simone
  • Günter, Marie Rosa
  • Würtz, Klára
  • Eickhorst, Konstanze
  • Ekaterina Derzhavina
  • Michie Koyama
  • Weissenberg, Alexis
  • Sokolov, Grigory
  • Barenboim, Daniel
  • Rosen, Charles
  • Schirmer, Ragna
  • Hewitt, Angela
  • Xiao-Mei, Zhu
  • Koroliov, Evgeni

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Die Interpretationen auf Cembalo

Und damit sind wir bei einigen sehr bekannten und erfolgreichen Einspielungen der Goldberg Variationen. Wenn sie, wie Bach es ausdrückte, wirklich zur "Gemüths-Ergetzung" gedacht waren, dann sollten wir nicht zögern, hineinzuhören. Aber wo fangen wir an? Am besten mit einer Cembaloaufnahme, und zwar mit der ersten veröffentlichten überhaupt.

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Landowska

Vielleicht allein schon wegen der Klangqualität eher von historischem Interesse ist die Einspielung von Wanda Landowska aus dem Jahre 1933, aufgenommen von RCA. Das war nicht nur die ersten Interpretationen auf Cembalo, sondern die erste Platteneinspielung der Goldberg Variationen überhaupt.

Die Künstlerin hat sich zeitlebens für eine authentische Aufführungspraxis der Kompositionen Bachs mit zeitgenössischen Instrumenten eingesetzt, verwendete aber für die Interpretation anderer Werke auch das Klavier. Doch die Goldberg Variationen konnten nach ihrer Ansicht nur auf dem Cembalo adäquat wiedergegeben werden.

Wanda Landowska war selbstsicher genug, sich gegen Anfeindungen ihrer Interpretationen zu verteidigen: "Wenn Sie sich nicht belehren lassen wollen, spielen Sie Bach weiterhin auf Ihre Weise. Ich jedenfalls spiele ihn auf seine Weise." Wie ich finde ein starkes Statement.

Die Aufnahme musste auf kapazitätsbegrenzte Schellack-Scheiben passen, also ließ Landowska die eigentlich vom Komponisten vorgegebenen Wiederholungen weg. Es ging damals eben nicht anders, es gab ja noch nicht einmal LPs. Zudem hatte Busoni schon 20 Jahre zuvor das Weglassen der Wiederholungen (und auch bestimmter ganzer Teile) empfohlen, um den Zyklus überhaupt vor Publikum spielen zu können. Die Originalversion schien ihm dafür ungeeignet, weil zu lang.

Wanda Landowska musste als Jüdin 1940 bei der Besetzung von Paris durch die Nazis fliehen, zumal auch das Vichy-Regime Juden aktiv verfolgte. Über Umwege gelangte sie nach New York, wo sie 1945 die Goldberg-Variationen ein weiteres Mal für RCA eingespielte. Leider kenne ich diese Aufnahme nicht. Vielleicht wäre sie eine Alternative zu der technisch unvollkommenen und im Nachhinein auch noch vom Tontechniker an den Satzenden manipulierten Schellack-Einspielung von 1933. Im Booklet begründet Mark Obert-Thorn allerdings penibel, warum das notwendig war.

Dennoch lohnt es sich, in die 1933er-Aufnahme hineinzuhören. Ich verwende dabei einen Kopfhörer. Die Interpretation strotzt vor barocker Kraft, soviel ist schon mal sicher. Landowska nimmt sich aber auch die Freiheit für Tempovariationen und Rubati. Bis 1933 waren die Variationen übrigens praktisch unbekannt. Landowska gebührt das Verdienst, diesem Werk wieder ein Publikum verschafft zu haben.

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Walcha

Wer bei einer Interpretation mittels Cembalo bleiben will, sei verwiesen auf die Aufnahme von Helmut Walcha aus dem Jahre 1961. Walcha hat unter anderem als Organist an der Thomaskirche gearbeitet. Er ist ein ausgesprochener Bach-Spezialist, wurde wegen seiner Komplett-Einspielungen Bach`scher Orgelmusik weltbekannt, ist aber zudem ein begnadeter Cembalist.

Seine nun über 60 Jahre alte, inzwischen allerdings remasterte Aufnahme (siehe aber unten!) der Goldberg Variationen ist klangtechnisch kaum von heutigen Produktionen zu unterscheiden. Sie wurde für 3 (!) Seiten einer Doppel-LP produziert, die 4. Seite (D) blieb unbespielt. 75 Minuten Spieldauer waren für eine einzelne LP (zumindest damals) nicht machbar, andererseits wollte man dem Hörer ein nochmaliges Drehen der 2. Platte ersparen. Heute passt die Aufnahme mit ihren 75 Minuten Spieldauer gut auf eine einzige Audio CD neuerer Generation. Zumal Walcha damals die Reprisen der Schlussaria weggelassen hat (weglassen musste?), was knapp 2 Minuten "einspart".

Ob auf LP oder CD, ein gradliniger, unprätentiöser, dezent registrierter (oft beide Manuale unterschiedlich!), wenig verzierter und schon gar nicht verzuckerter Bach. Lassen Sie sich fallen und von der Macht, Weite und Größe dieser Interpretation verzaubern. Für mich eine Referenzeinspielung, gerade weil sich Walcha als Interpret so zurücknimmt. Wir hören Bach und nicht Walcha.

Ich kann es an nichts festmachen, glaube aber, dass Walcha aus seinem tiefen Bachverständnis heraus immer die genau richtigen Tempi wählt. Um so mehr fällt auf, dass er die Variation 25 im Vergleich sehr schnell spielt, sie dauert nur 5:13 Minuten. Betrachtet man Einspielungen der letzten Jahre, so braucht etwa Lang Lang mit 10:32 Minuten doppelt so lange und selbst der zupackende Stadtfeld lässt sich nicht drängen, beachtet ausnahmsweise die Reprisen und kommt auf 9:11 Minuten, Staier (2010) auf 8:04. Auch Schiff (2001), Gould (1982) und Leonhard (1978) spielen deutlich langsamer als Walcha. Ich erkläre mir diese Diskrepanz aus dem erst 1975 aufgefundenen Bach`schen Handexemplar. Da trägt die Variation 25 den von Bach selbst mit roter Tinte angebrachten Zusatz "adagio", was Walcha 1961 noch nicht bekannt gewesen sein kann.

Walcha liegt mit seinen 75 Minuten (ohne Weglassen der Schlussarien-Reprisen) wären es 78 Minuten) genau im Zeitmaß heutiger Interpretationen auf Klavier, die wir als ziemlich "schnell" gespielt empfinden. Bei Walcha hat man allerdings nie das Gefühl, dass er "zu schnell" spielt, er nimmt aber generell die von vielen Interpreten "langsam" gespielten Variationen relativ schnell und gewinnt dadurch Zeit, um die von anderen oft "schnell" gespielten Stücke geruhsamer anzugehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Bach ziemlich ähnlich gespielt hat. Eine unserer Referenzaufnahmen!

Es ist eine Erwähnung wert, dass wir die hervorragende Klangtechnik dieser in 1961 produzierten Aufnahme dem 1968 verstorbenen Tontechniker Erich Thienhaus zu verdanken haben. Thienhaus, seines Zeichens Physiker, war ein Pionier der Aufnahmetechnik. Er lehrte in Berlin und Detmold, wo er auch das erste (heute nach ihm benannte) Institut zur Ausbildung von Tonmeistern gründete. Er hat sich mit dieser Aufnahme selbst ein Denkmal gesetzt. Und Helmut Walcha gleich mit. Beide thronen nun in einem von ionischen Säulen getragenen Tempel; oder wie interpretieren Sie das Cover der remasterten CD?

Cave: seit 2022 ist eine weitere remasterte Variante auf dem Streaming-Markt, verlegt von "Alexandre Bak - Classical Music". Nach meinem Empfinden klingt das Ergebnis schrecklich, vor allem im direkten Vergleich. Finger weg davon!

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Leonhard

Ähnlich fundamentale Cembaloeinspielungen hat Gustav Leonhard 1953 (Vanguard Classics), 1965 (Teldec, Das Alte Werk) und vor allem erneut 1978 (Deutsche Harmonia Mundi) veröffentlicht. Die Aufnahme von 1978 ist meine Favoritin und neben der Interpretation von Walcha die vielleicht beste Gelegenheit zum "Kennenlernen" des Bach`schen Meisterwerkes. Eine berückende Interpretation mit etwas mehr Modulationen und Phrasierungen als jene von Walcha, dadurch etwas "moderner" klingend, dabei aber immer dem Notentext verpflichtet.

Leonhardt spielt nicht auf einem originalen zeitgenössischen Instrument, sondern nutzt ein erst 1975 gebautes Cembalo. Dies ist allerdings ein getreuer Nachbau eines Instrumentes, das von Blanchett 1730 in Paris gebaut wurde. Es hat einen schlanken hellen Ton, völlig anders als die von Staier (s.u.) gespielte Kopie eines anderen zeitgenössischen Cembalos mit orgelartiger Fülle. Die Unterschiede sind frappierend. Welches Instrument Bach gespielt hat, weiß man nicht. Insofern kann man nur spekulieren, welches Klangideal er wohl hatte.

Für mich neben der Aufnahme von Walcha eine weitere und wohl nicht mehr zu überbietende Referenzeinspielung auf Cembalo, die zudem noch durch eine perfekte Aufnahmetechnik glänzt. Schließt man die Augen, sieht man das Cembalo direkt vor sich. Eines der großen Vermächtnisse des 2012 verstorbenen Musikers. Nur eine Frage sei erlaubt: Warum werden die von Bach vorgeschriebenen Wiederholungen (Reprisen) ignoriert!? Liegt es an der begrenzten Kapazität einer LP (oder gar CD, die ja 1978 schon in den Startlöchern stand)? Warum aber dann nicht eine Doppel-LP oder Doppel-CD-Kassette veröffentlichen! Trotzdem: eine Referenzeinspielung!

Immerhin ist Leonhardt konsequent und lässt alle Wiederholungen weg. Das erhält wenigstens die Symmetrie des Werkes.

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JarrettÓlafsson

Wenn Sie neben Klassik auch Jazz hören, kennen Sie Keith Jarrett von seinen berühmten Solo-Improvisationen oder seinen legendären Trio-Aufnahmen. Auch Jarrett hat sich auf dem Cembalo den Goldberg Variationen gewidmet. Die Aufnahme ist 1989 bei ECM erschienen. Sein Cembalo klingt weniger voll als die Instrumente von Walcha und Leonhard, schlanker, weniger scharf, insgesamt zurückgenommener. Das wollte er wohl so. Das Instrument ist ein japanischer Neubau von 1988, aber angelehnt an deutsche Instrumente der Bachzeit. Manchmal hat es eine glockenartigen Anmutung, die durchaus an japanische Klänge erinnert. Besonders gut gefallen mir die von Jarrett gewählten delikaten unaufdringlichen Registrierungen.

Ein Amerikaner mit afrikanischen Wurzeln spielt deutsche Barockmusik auf einem japanischen Cembalo! Das hätte sich Bach nicht träumen lassen.

Jarrett bleibt sehr stark am Notentext, ein Freund meinte: er "vertraue" ganz einfach Bachs Noten und sehe keinen Anlass, virtuose Effekte und Verzierungen hinzuzufügen. Was die Reprisen betrifft, geht Jarrett einen eigenen Weg. Er beachtet sie bei 10 der 30 Variationen, ohne dass ich einen Plan erkennen kann. Ganz sicher aber gab es einen. Denn von den 10 Veränderungen mit ausgespielten Wiederholungen befinden sich 5 im ersten Teil (2, 3, 4, 6, 9) und 5 im 2. Teil (16, 21, 25, 29, 30), die Symmetrie der beiden Blöcke wird zumindest nicht völlig aufgelöst.

Jarrett Einspielung dauert so 62:00 Minuten; falls er alle Wiederholungen beachtet hätte wäre er auf 94:45 Minuten gekommen. Schon daran erkennt man, dass er moderate bis langsame Tempi wählt, was m. E. dem Werk gut tut. Wer Jarrett`s Virtuosität kennt, wird uns zustimmen, dass er keine Probleme gehabt hätte, mit Gavrilov, Schiff oder Ólafsson mitzuhalten.

Mithin eine bewusst wenig spektakuläre, aber grundsolide und vor allem ganz ehrliche und ehrfurchtsvolle Einspielung. Jarrett mag Bach und ich mag Jarretts Interpretation.

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Pinnock

Wie in Deutschland Gustav Leonhardt hat sich in England Trevor Pinnock einer historischen Aufnahmepraxis verschrieben, und zwar als Dirigent des "English Concert" und als Solist. Für die Interpretation der Goldberg Variationen hat er ein flämisches Cembalo von 1648 gewählt, das heute im Musée Instrumental in Paris aufbewahrt wird. Das Instrument klingt sehr hell und schlank und verfügt über nur wenige Registrierungsmöglichkeiten, die sich zudem noch recht ähnlich sind. Die Aria zu Beginn und am Ende wird mit unterschiedlichen Registern gespielt und eignet sich so gut für einen diesbezüglichen Klangvergleich.

Pinnock intoniert äußerst präzise, bleibt immer ernsthaft und sachlich. Die Aria und die Nr. 25 (Adagio) spielt er vergleichsweise schnell, die Nr. 26 und Nr. 29 ebenfalls. Sonst sind die Tempi im seinerzeit für Cembalointerpretationen üblichen Rahmen (die Aufnahme datiert aus 1980). Insgesamt eine strenge, fast analytisch anmutende Interpretation, die auf diese Weise einen ganz eigenen Reiz besitzt, verstärkt durch das dazu passende Instrument. Auf den Punkt gebracht hat das eine französische Musikkritikerin, die zumindest bei einigen Variationen eine Steifheit (wie bei einem Wachsoldaten vor dem Buckingham Palast), bei anderen eine Dürre (wie bei einem englischen Mager-Model) wahrgenommen hat. Gut, ein wenig mehr barocker Glanz, wie Pinnock ihn in der Ouvertüre kurz aufblitzen lässt, hätte der Interpretation gewiss nicht geschadet. Aber dafür haben wir ja Gustav Leonhardt. Mit Sicherheit kannte Pinnock dessen 78er Einspielung und war bemüht, eine sich davon abhebende Klangsprache zu finden, und das bei aller Bewunderung seines großen Vorbildes.

Manierismen, wie immer wieder von anderen Cembalisten und Pianisten genutzt, finden sich in seinem Spiel nicht. Die Charaktere der einzelnen Veränderungen kommen dennoch differenziert herüber, und zwar ohne jeden Gefühlsausbruch, was ohnehin eher nicht zu einem Briten passen würde, insbesondere dann nicht, wenn er Barockmusik spielt. Die Aufnahmetechnik und die digitale Aufbereitung der seinerzeitigen "Archiv Produktion" sind hervorragend, man sieht das Instrument plastisch vor sich und zum Greifen nah.

Auch Pinnock hatte ganz offenbar ein "Zeitbudget" für seine LP-Einspielungen, das er einhalten musste. So konnte er nur bei einige Variationen die vorgeschriebenen Wiederholungen ausspielen, betont aber, dass er seine Wahl "mit Bedacht" vorgenommen hat.

Die Gesamtspielzeit liegt mit knapp 61 Minuten heute so deutlich unter der Kapazität einer CD, dass als Bonus noch das wundervolle Italienische Konzert (BWV 971) beigegeben wird.

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GV Bühler-Kestler

Eleonore Bühler-Kestler, langjährige Musik-Professorin an der Bayreuther Uni, hat die GV 1993/94 auf Cembalo eingespielt. Sie versteht sich als eine der klassisch-barocken Tradition verpflichtete Cembalistin, ausgebildet von Walther Körner (1892-1980), der in Mannheim, Leipzig und zuletzt von 1923-1961 als Kantor an der Lorenzkirche zu Nürnberg wirkte. Über Körner reichen ihre musikalischen Wurzeln zurück bis zu dem bekannten Leipziger Thomaskantor Karl Straube (Jahrgang 1873), der einen schlanken, unromantischen aber bei aller Exaktheit durchaus nicht maschinenartigen Bachstil pflegte. Nicht zuletzt Karl Richter war einer seiner Schüler.

Die Verpflichtung zu größter Akkuratesse, zur Vermeidung jeglicher subjektiver Ausdeutung, zur Abkehr von allem Pomp hört man dieser neu aufgelegten und mit einem neuen Cover versehenen Einspielung an. Bühler-Kestler äußert im Interview, sie habe den Eindruck, dass manche Interpreten “Lebendigkeit mit Schnelligkeit verwechseln“ und dass man mit „laut und stark jeden Bach kaputtmachen kann“.

Das genau vermeidet sie, spielt mit Ruhe und Würde, wählt eher langsame Tempi. Hätte sie alle Wiederholungen beachtet, würde sie etwa 95 Minuten gebraucht haben. Um mit einer CD auszukommen, beachtet sie die Reprisen nur bei der Eingangsarie und den Variationen 4, 6, 10, 16, 18, 19, 22 und 30. Sie kommt so auf eine Einspielzeit von 57:32 Minuten. Ich konnte bislang nicht feststellen, ob die Erstveröffentlichung (auch) auf LP erfolgte, was diese künstlerische Beschränkung rechtfertigen würde.

Das helle Cembalo ist hervorragend klar und durchhörbar aufgezeichnet worden, Bühler-Kestler hat auch bei späteren Aufnahmen ihrer Tonmeisterin Karola Parry vertraut, so gut war das seinerzeitige Klangergebnis. Welches Cembalo verwendet wurde und die exakte Aufnahmelokation werden nicht mitgeteilt.

Bühler-Kestner setzt die Register ihres Instrumentes sehr gezielt ein, so wählt sie eine Art Glockenklang für die Variationen 7, 14 und 23, eine Art Lautenklang für die Variation 25, während sie „alle Register“ bei den Variationen 16 und 26 zieht. Verzichtet wird auf jegliche Tempovariationen bis auf diskrete Ritardandi am Ende einer Variation. Verzierungen wie etwa Triller setzt sie ausschließlich dort ein, wo Bach sie explizit vorgeschrieben hat.

Die Wahl ihrer Tempi ist vergleichbar mit den Intentionen der Cembalisten Leonhard, Landowska und Jarrett bzw. der Pianisten/Pianistinnen Schirmer (1999) und Lang Lang. Gut gefällt mir, dass Bühler-Kestner deutliche Pausen zwischen den einzelnen Variationen einhält, um Vergangenes zu verarbeiten und Künftiges vorzubereiten.

Ich will noch darauf hinweisen, dass man vor allem bei der Aria und bei den getragenen Variationen Geräusche der Cembalo-Mechanik hört, was ganz normal ist. Ich kenne aber Musikfreunde, die das stört.

Die Einspielung der GV von Eleonore Bühler-Kestler besticht durch ihre unspektakuläre, ehrliche, unaufgeregte Natürlichkeit und zeigt einmal mehr, welche klangliche Variationsbreite ein Cembalo im Vergleich zum Flügel bietet. Auch beweist sie, dass Bachs Opus Magnum nicht der Rasanz mancher heutiger Geschwindigkeits-Rekordhalter auf dem Klavier bedarf. Mit Bühler-Kestler sind wir einfach deutlich näher an Johann Sebastian Bach. Der Verzicht auf einen Großteil der Reprisen ist historisch verständlich und hinnehmbar. Denn wahrscheinlich war als Tonträger (anders als bei Walcha`s Doppel-LP) eine einzelne CD geplant.

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Staier

Andreas Staier legt eine gewaltige Einspielung vor, voller barocker Kraft, laut, üppig, mit Nachhall wie aus einer Kathedrale, überhaupt vom Klang her an eine Orgel erinnernd, was nicht zuletzt dem gewählten Cembalo zuzuschreiben ist. Das ist nämlich die Kopie eines 1734 von Hieronymus Albrecht Hass in Hamburg gebauten Instrumentes mit theoretisch 59 Registrierungsmöglichkeiten. Bach könnte diesen Typus gekannt, vielleicht sogar selbst gespielt haben.

Damit Affekte und Effekte sich nicht zu schnell abnutzen und Steigerungsmöglichkeiten bleiben, werden erst ab der Ouvertüre (Variation 16), also zu Beginn der zweiten Hälfte wirklich "alle Register gezogen". Das läßt sich auch problemlos mit der von Bach eingebauten Dramaturgie des Goldberg-Zyklus rechtfertigen.

Staier begründet im Booklet die Wahl dieses "Cembalo-Monsters" damit, dass er die Zeit gekommen sehe, sich wieder auf die großen und üppigen Instrumente der Bachzeit rückzubesinnen, nachdem in den letzten Jahrzehnten eher schlanke und subtil klingende Cembali (nach-)gebaut wurden. Er zitiert etwas süffisant einen F. Hubbard (1965) mit folgender Charakterisierung der gewaltigen Cembali des 18. Jhd.: "The grotesque result of the barbarous imposition of tonal concepts appropriate to the organ". Ob es sich bei dem Zitierten um den großen Jazztrompeter Freddie Hubbard handelt, wird nicht klar, scheint mir aber eher unwahrscheinlich.

Staier meint, wenn er vielleicht auch nicht die ganze Welt mit der Wahl dieses Cembalo-Nachbaus für die Einspielung der Goldberg Variationen beglücke, so beglücke er doch zumindest sich selbst. Und vielleicht ist genau das immer noch das Wichtigste?! Vor lauter Glück brummt er bei der Eingangsaria mit, und auch bei den Variationen immer mal wieder, eine Art "Brummo continuo".

Staier ist ein ausgewiesener Spezialist der historische Aufführungspraxis auf Cembalo und Hammerklavier. Er erklärt seine Interpretation auf einer extra angelegten DVD, das sollte Schule machen. Er zeigt zudem Bachs persönlichen Hintergrund auf, in dessen Kontext er die Variationen geschrieben hat. Wie andere Musikwissenschaftler äußert auch Staier Zweifel daran, dass dieses Werk eine Auftragsarbeit gewesen sein könnte und begründet das.

Alles in allem eine Aufnahme, die allein schon durch ihre räumliche Opulenz hervorsticht, aber eben genau durch den damit einhergehenden Hall und eine teils rasant schnell gespielte Interpretation einige Feinheiten der Artikulation untergehen lässt. Beides kann man wohl nicht haben. Vergleichen Sie dazu die Variation Nr. 5 und vor allem die Nummern 26 und 29. Ihr Musikzimmer sollte den Nachklang nicht zusätzlich noch durch Raummoden verstärken. Oder Sie verwenden einen guten Kopfhörer, was damit sowohl ihrer eigenen Musikergötzung dient, zudem aber auch Helene Fischer beim Nachbarn nebenan noch eine Chance gibt. Ich konnte den Ort der Aufnahme nicht herausfinden, glaube aber, dass es eine Kirche gewesen sein muss. Zur Interpretation der Goldberg Variationen auf einer Orgel ist es jetzt jedenfalls nur noch ein kleiner Schritt auf die Empore...

Bei den mit "Andante" (Variation 15) und "Adagio" (Variation 25) überschriebenen Stücken setzt Staier das "Nasalzugregister" ein, um den Affekt einer klagenden menschlichen Stimme zu imitieren. Ich verstehe zwar diesen Ansatz, mag aber das Nasalregister nicht und empfinde überdies darin einen Bruch des klanglichen Gesamtkontextes. Aber das ist ausschließlich eine Frage des subjektiven Geschmacks. Im Übrigen hält sich Staier strikt an die Noten, was heute nicht mehr selbstverständlich ist. Wobei er auch wirklich nach Noten und nicht etwa "auswendig" spielt. Verzierungen und Rubati setzt er sparsam ein, seine Interpretation braucht solcherlei Beiwerk auch gar nicht.

Eine Einspielung, die durch die beschriebenen Charakteristika ihren ganz eigenen Reiz ausübt und paradoxerweise gerade wegen der barocken Attitüde in unsere sich immer schneller drehende und Effekte forcierende Welt passt. Direkt im Anschluss gespielt wirkt jede andere Aufnahme (auch auf Piano forte!) "flach". Stellen Sie bei vergleichendem Hören Staier ans Ende! Ich bin froh, dass es diese Aufnahme gibt und lege sie je nach Stimmung immer wieder auf. Für Liebhaber eines volltönigen Cembaloklanges eine Referenzeinspielung, zumal es an der Interpretation nichts zu kritisieren gibt.

Das Plattenlabel "harmonia mundi" gehört übrigens einem französischen Unternehmen und hat nichts zu tun mit der "deutschen harmonia mundi", bei der Leonhardt seine letzte Einspielung veröffentlicht hat.

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Goldberg Variationen Jory Vinikour

Eine sehr empfehlensqwerte Studio-Einspielung wird 2001 von Jory Vinikour vorgelegt. Er spielt einen amerikanischen Nachbau eines 1624 gefertigten Cembalos von Johannes Ruckers aus Antwerpen (Flamen), das heute noch im Musée D`Unterlinden (Colmar) zu bewundern ist.

Vinikour spielt alle Wiederholungen, lässt sich weder treiben, noch bummelt er und kommt auf 85:39 Minuten, die vom Plattenverlag "Delos" auf 2 CDs verteilt werden. Der Klang des Cembalo ist klar, präsent und ohne Nachhall. Die Registrierung ist stimmig, bringt Klangfarben ein, drängt sich aber nie in den Vordergrund. Sehr gut gefällt uns, dass die Schlussaria genau gleich registriert wurde wie die Eingangsaria und dieser auch ziemlich genau in der Tempowahl entspricht.

Vinikour spielt auf seinem eher warm klingenden Instrument geradlinig, verwendet nur sehr sparsam Tempomodulationen und Rubati, wodurch aber das Werk trotz aller gebotenen Nüchternheit "menschengemacht" klingt. Ich denke, die GV und Barockmusik allgemein können bei ungeschickter Interpretation sehr schnell seelenlos und wie maschinengemacht klingen.

Das Booklet ist von Vinikour selbst geschrieben und umfasst auch einen Absatz des kalifornischen Instrumentenbauers Kevin Fryer zum flämischen Originalinstrument und seinem Nachbau. Es wird in französisch und englisch wiedergegeben.

Eine Einspielung, die durchaus als Referenz einer Cembaloaufnahme gelten kann. Jedenfalls eine gute Ergänzung, um nicht zu sagen Alternative zu Walcha und Leonhard. Im Augenblick unser Favorit unter den Cembaloeinspielungen.

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Goldberg Variationen Jean Rondeau

Jean Rondeau`s Cembalo-Aufnahme ist eine Art Gegenentwurf zu wahrscheinlich allem, was Sie bisher auf diesem Gebiet kennen. Sie fällt aus dem Rahmen, nämlich zunächst einmal völlig aus dem zeitlichen Rahmen. Rondeau lässt sich Zeit, viel Zeit und beglückt uns mit seiner eigenwilligen Interpretation ganze 107:12 Minuten, natürlich unter Beachtung aller Reprisen. Die z.T. deutlichen Pausen zwischen den einzelnen Veränderungen sind dabei mit eingerechnet. Zum Vergleich: Lang Lang auf seinem Steinway live liegt bei 93 Minuten, Andreas Staier auf seinem prachtvollen Cembalo braucht 81 Minuten, Schiff live auf seinem Bösendorfer 71 Minuten, Gould (ohne Reprisen) 36 Minuten. Oder anders ausgedrückt: Für Rondeaus sensitive Einspielung brauchen Sie dreimal so lange, dreimal so viel Geduld wie für Goulds 1955 vorgelegte Sensation. Und trotzdem klingen die berühmten "Bravourstücke" nicht "langsam" und keinesfalls schleppend.

Die Einspielung wurde 2021 in einer Pariser Kirche aufgenommen. Der Klang des Cembalos als auch der Raumklang sind "superbe". Das Instrument wurde 2006 als Nachbau zeitgenössischer deutscher Cembalos gefertigt.

Im von Rondeau selbst verfassten knappen Booklet wendet er sich mit folgenden Worten an uns: "Nun bleibt mir nur noch, Sie zum Anhören dieser Goldberg-Variationen einzuladen - ihre Ruhemomente zu erforschen - ein Erlebnis, in dem Sie ein Gefühl von Intimität, Reinheit und Wahrhaftigkeit finden mögen".

Damit sind die Intentionen klar. Sie werden auch noch einmal ausgeschmückt durch ein Zitat von Christian Bobin: "Les Variations Goldberg de Bach, c`est le feuillage-univers, le poumon des etoiles surprises dans leur sommeil". Und durch mehrere leere bzw. nur mit dem Wort "silence" bedruckten Seiten des Beiheftes.

Und in der Tat ist die Wirkung dieser Einspielung ganz unterschiedlich zu allem, was die meisten von uns je gehört haben mögen. Man fühlt sich - entspannt zurückgelehnt - in eine barocke Kirche, ein barockes Schloss, einen barocken Konzertsaal versetzt, die Augen streifen langsam über das reich mit Gold und rotem Brokat verzierte Interieur, Ruhe kehrt ein, alle Hektik weicht, wir erkennen Details, die wir bisher übersehen haben. Den geplanten Kurs "Autogenes Training" können wir absagen.

Niemand weiß Genaues über die im Barock gewöhnlich verwendeten Tempi. Zudem hat Rondeau vielleicht gar nicht den Anspruch, das richtige Tempo gefunden zu haben. Der Zuhörer aber wird einzelne Passagen viel differenzierter wahrnehmen als bei "schnellen" Einspielungen.

Rondeau bleibt bei einer respektvollen Auslegung der Noten, er lässt nichts weg und fügt nichts hinzu. Die Aufnahme klingt "wie aus einem Guss", was auch auf die bewusst ziemlich gleichförmige Registrierung aller Variationen zurückzuführen ist. Die recht langsamen Tempi eröffnen aber auch die Möglichkeit zu dezentem Einsatz von Agogik und speziell Rubati.

Jean Rondeau ist sich ganz sicher bewusst, welche Diskussionen sein Beitrag zur Interpretation der Goldberg Variationen auslösen wird. Wie immer gehört eine ziemliche Portion Mut dazu, gegen den Strom der Zeit (d.h. eine Spieldauer zwischen 72 und 82 Minuten) zu schwimmen. Aber wie heißt es doch: Nur wer gegen den Strom schwimmt, gelangt zur Quelle.

Wenn Sie die GV lieben, speziell als Cembalodarbietung, sollten Sie unbedingt einmal in diese so ungewöhnliche Interpretation hineinhören. Sie werden, wenn Sie offen sind, eine neue Facette des Bach`schen Universums kennenlernen. Wie stark dieser Fascettenschliff in Ihnen "nachfunkelt", entscheiden Sie allein. Aber eines versichere ich Ihnen: Sie werden nicht einschlafen....

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Goldberg_Esfahani

Die Cembalo-Einspielung von Mahan Esfahani auf DG aus 2016 besticht sofort durch einen vollen, dabei aber sehr natürlichen, eher hellen und „durchsichtigen“ Klang des 2013er Nachbaus eines thüringischen zweimanualigen Originals von Johann Heinrich Harraß aus dem Jahre 1710. Esfahani setzt die von der Anmutung her nicht weit auseinenderliegenden Register seines Instrumentes äußerst differenziert ein und erreicht dadurch einen sehr homogenen, aber eben doch zudem abwechslungsreichen Höreindruck. Auch der Raumklang (Kammermusiksaal Köln des Deutschlandfunks) wird gut mit abgebildet. Die Wahl der Tempi erinnert uns am Walcha, so selbstverständlich gleichmäßig erscheinen sie uns. Sie wissen schon: Keine "schnellen" oder "langsamen" Stücke!

Anders als Walcha erlaubt sich Esfahani aber diverse Modifizierungen. sehr deutliche Rubati und andere Tempovariationen. Ob genau diese das barocke Werk "verträgt", oder ob sie umgekehrt sogar den langen Zyklus "ergötzend“ auflockern, muss jeder Hörer für sich entscheiden. Auf alle Fälle eine Alternative zu den anderen von uns besprochenen Einspielungen.

Esfahani sagt, dass er nicht wisse, welche Botschaft Bach mit seinem Werk überbringen wollte und bezweifelt die zahlreichen bekannten Deutungen. Er lasse sich bei jedem Stück ganz einfach von seinen Assoziationen leiten und beschreibt diese z. B. im einzelnen für die Variationen 1, 3, 15, 16, 24, 25 und 30. In den letzten 9 Variationen fühle er sich beispielsweise an die beiden Schlussgesänge aus Dantes Inferno erinnert. Bach`s Kompositionen als bloße Preisungen des Schöpfers aufzufassen, erscheint manchem heutigen Musiker wohl doch ein wenig zu abstrakt.

Ganz generell stellt Esfahani die Variationen zunächst ohne größere pianistische Eingriffe vor und moduliert, variert und verziert erst bei den Reprisen, bei denen er auch oftmals anders registriert (vgl. Var. 7 u. 19). Wenn Sie ergründen wollen, ob Sie diesem Ansatz folgen können, wählen Sie zudem die Variation 13, dort finden Sie all` das Angesprochene in komprimierter Form. Allerdings geht Esfahani nie schematisch vor, sie werden auf einzelne Variationen fast ganz ohne solche Eingriffe stoßen. Mir scheint das Werk in einem Rutsch, also quasi life eingespielt worden zu sein, erkennbar am Raumklang und den Geräuschen der Registerhebel zwischen den Variationen. Eine sehr überzeugende Einspielung und eine echte Alternative zu unseren 4 genannten Referenzaufnahmen (siehe das Ende dieser Übersicht).

Viele Pianisten / Cembalisten lassen es bei der Variation 30 "krachen", Esfahani nicht. Er interpretiert das Quodlibet eher zurückgenommen, nicht als Finale sozusagen, eher als Ende einer Etappe, bevor alles mit der Aria da capo wieder von vorn beginnt. Esfahani spielt, wie bei allen anderen Variationen, auch bei der Schlussarie die Reprisen.

Ein Esfahani-Zitat aus dem Booklet zum Schluss:

"Wenn wir auf Bachs "Weckruf" reagieren, werden wir, wie er auf dem Titelblatt der Variationen umschreibt, mit jener "Gemüths-Ergetzung" beschenkt, die sich beim Versuchen, beim sich Engagieren und beim Fehlermachen auf der nie endenden Suche nach künstlerischer Wahrheit einstellt".

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GV Kirkpatrick - Richter - Koopman

Es sei neben der 1961er-Aufnahme von Helmut Walcha noch kurz hingewiesen auf drei weitere Cembaloeinspielungen "alter Recken", mit denen die Nachkriegsgeneration (teils noch per LP) "goldbergisiert" worden ist, und zwar auf die Interpretationen von Ralph Kirkpatrick (1959), Karl Richter (1972) und Ton Koopman (1988).

Wenn Sie eine antiquarische LP oder CD einer dieser Einspielungen für kleines Geld finden und erwerben, machen Sie nichts falsch. Alle drei Interpreten nehmen sich selbst zurück, spielen Bach "pur" ohne alle Mätzchen, kaum Tempomodulationen, fast keine Rubati, dezent unterschiedliche Registrierungen. Bei dieser Generation Bachspezialisten war es nicht üblich, sich selbst ins Rampenlicht zu stellen.

Am ehesten kommt die Interpretation des deutschen Bach-Spezialisten Karl Richter aus 1972 (es gibt auch eine Einspielung aus 1965) der des von uns als Referenz gesetzen Helmut Walcha nahe. Erstere wurde seinerzeit (wie die von Walcha) auf 2 LPs veröffentlicht (wobei die 2. Seite der 2. LP hier auch wirklich beschrieben war!) und bringt alle Reprisen, nur die Aria da capo wird (wie bei Walcha) nicht wiederholt. Auch die Spielzeit ist ähnlich, bei Walcha 75:20, bei Richter 77:10 Minuten, (bei Beachtung der Reprisen der Schluss-Aria wären es jeweils 2 Minuten mehr gewesen).

Der anerkannte amerikanische Bach- (und Scarlatti-)Spezialist Ralph Kirkpatrick spielt keine Reprisen, die Spieldauer liegt entsprechend bei "nur" 43:38 Minuten, was heute (wie bei der 1955er Aufnahme von Gould) etwas "karg" anmutet, aber damals gut auf eine Einzel-LP passt (die es übrigens bei der Archiv-Produktion der DG in Mono und alternativ in Stereo gab). Aufgenommen wurde in der Berliner Jesus-Christus-Kirche.

Der ebenfalls hoch anerkannte holländische Bach-Spezialist Ton Koopman kommt auf 62:22 Minuten. Er spielt alle Reprisen der ersten 16 Takte und lässt alle Reprisen der zweiten 16 Takte weg. Würde er nicht diesen Kunstkniff verwenden, wäre seine Einspielung etwa 83 Minuten lang und hätte auf keine CD gepasst. Nach unserem Wissen gibt es von dieser Aufnahme keine LP-Pressung. Aufgenommen wurde in einer Utrechter Kirche, der Raumklang ist sehr angenehm.

Klangtechnisch sind alle 3 Aufnahmen (wie auch die von Walcha) kaum von heutigen Einspielungen zu unterscheiden. Für die Tonmeister muss es schon seinerzeit erheblich einfacher gewesen sein, ein Cembalo gut klingend mitzuschneiden als ein Klavier. Allein der "Gesamtklang", der auch den Raumklang mit einschließt, wirkt bei modernen Aufnahmen angenehmer und weniger eng.

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Die Interpretationen auf einem Konzertflügel

Die Goldberg Variationen auf einem modernen Klavier? Da gibt es keinen Mangel, eher einen gewaltigen Überfluss. Man kann den Eindruck gewinnen, dass jeder Pianist, jede Pianistin das Werk spätestens bis zum 35. Lebensjahr eingespielt haben muss, vielleicht als eine Art "Meisterstück". So werden die GV oftmals als "Plattendebut" gewählt. Im Folgenden sollen nur einige wenige breiter bekannte Aufnahmen dargestellt werden. Das Spektrum der möglichen Interpretationen ist damit ganz sicher nicht voll erfasst.

Gould-1955

Nicht vorbei kommt man an den beiden Einspielungen des Kanadiers Glenn Gould aus 1955 und 1982 kurz vor seinem Tode. Beide Aufnahmen haben Stärken. Die von 1955 hat eine Hype ausgelöst und ist "Kult". So schnell, so brillant, so "artistisch" hatte man das Werk - wenn überhaupt - noch nie gehört. Die von 1982 ist klangtechnisch besser, wenn auch immer noch etwas dumpf und nicht auf der Höhe der Zeit. Von der Interpretation her gesehen ist sie reifer und ausgewogener, Gould lässt sch deutlich mehr Zeit, die Variationen haben jetzt Luft zum Atmen.

Gould-1982

Gould war ein Tastengenie, das ist unwidersprochen. Warum werde ich dennoch mit ihm nicht warm? Zu viel technische Brillanz zu Ungunsten der Gefühle? Oder ist es die Tatsache, dass der Exzentriker bei vielen Stücken mitbrummt, ja mitsingt? Zwar 1982 weniger laut als 1955, aber immer noch störend.

Zumindest geht er 1982 etwas geruhsamer an die Sache heran, braucht für die 32 Stücke immerhin 51 Minuten, während er 1955 den Parcours (fast provokativ) in nur 36 Minuten schaffte. Allein für die einleitende Aria lässt er sich eine gute Minute mehr Zeit und singt voller Ergötzung laut mit. Für die Aria da capo spendiert er fast 1,5 Minuten mehr als 1955 - und brummt nur noch leise. Die jeweilige Spieldauer lässt sich allerdings nicht bei allen Variationen vergleichen, da Gould 1955 alle Reprisen weglässt, 1982 aber zumindest die ersten 16 Takte der 10 Canones und der Variation 22 wiederholt. Wenn man das einrechnet, wäre Gould bei Beachtung aller Reprisen 1982 auf eine Gesamtspielzeit von 95:53 Minuten gekommen, bei gleicher "Korrektur" 1955 auf 77:26 Minuten. Es muss sich in diesen 27 Jahren etwas in ihm "verändert" haben.

Auf alle Fälle gebührt Glenn Gould das Verdienst, Bachs Goldberg Variationen als erster für den Konzertflügel aus der Versenkung herausgeholt und populär gemacht zu haben. Das war ohne Zweifel eine Pioniertat und erklärt vielleicht, warum sich auch heute noch jede neue Interpretation einen Vergleich mit den Gould`schen "Vorgaben" gefallen lassen muss. Sie sollten hineinhören, vielleicht auch nur, um mitreden zu können, wenn Ihre Gesprächspartner ins Schwärmen kommen.

Nach unserer Meinung wird Glenn Gould als Pianist auch heute noch völlig überschätzt und zu Unrecht immer wieder zu Vergleichszwecken herangezogen. Aber klar, diese Auffassung ist subjektiv und diskutabel.

Von einem Gould-Fan wurde ich darauf hingewiesen, dass der Kanadier weitere zweimal die GV aufnehmen ließ. Und zwar 1954 live in einem Broadcast für die CBC und 1959 während eines Recitals in Salzburg. Beide Interpretationen kennen wir nicht.

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Schiff 1983

Mir stehen 2 Einspielungen von András Schiff zur Verfügung, eine Studioaufnahme aus 1983 und der Mitschnitt eines Live-Konzertes aus 2001 in Basel. Letzterer wurde von Manfred Eicher 2003 auf ECM veröffentlicht, wie immer in exzellenter Klangqualität. Ich vermute, Schiff spielt auf einem Bösendorfer, hat die Aufnahme doch nicht den Steinway-typischen hellen und etwas spitzen Nachklang.

Übrigens summt der Pianist an mehreren Stellen mit, ähnlich wie Gould, aber erheblich leiser. Komisch, hier stört es mich nicht. Ich ziehe ganz eindeutig die Aufnahme aus 2001/2003 der aus 1983 vor. Das schon allein wegen des um Klassen besseren Klanges. Denn von der Interpretation her sind die Unterschiede nicht sehr groß.

Schiff 2001

Sir Schiff muss keinem mehr etwas beweisen, er ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere und Kunst angekommen. Er interpretiert gelassen, lässt früher verwendete Effekte weg, sucht nicht nach versteckten Nuancen, konzentriert sich auf das Wesentliche, und das ist nun einmal die Struktur des Werkes.

Hören Sie in die "langsame" Variation 25 und die "schnellen" Variationen 26 und 29 hinein (achten Sie dabei auf die linke Hand!), dann wissen Sie, was ich meine. Und beachten Sie dabei die unvergleichlich fein-perlenden Ziselierungen der Variation 29, auch und gerade im Vergleich zu Víkingur Ólafsson. Besser kann man Bach`s Noten auf einem Flügel nicht artikulieren, falls man schnelle Tempi bevorzugt. Dass die Aufnahme so lebendig wirkt, liegt vielleicht nicht zuletzt an der Liveathmosphäre, der sich kaum ein Musiker entziehen kann. Und daran, dass Schiff die von vielen anderen Pianisten deutlich langsamer angegangenen Moll-Variationen 15, 21, und 25, aber auch die Variationen 8, 12, 24, 27, 29 und 30 recht schnell nimmt, ohne jemals (bei nur 71 Minuten Dauer!) den Eindruck von Gehetztheit aufkommen zu lassen. Das schafft bei diesen Tempi außer Schiff kein anderer Pianist.

Für mich ist diese großartige Einspielung eine Referenzaufnahme des Werkes auf einem heutigen Piano forte, auch weil alle Reprisen beachtet werden. Das soll aber nicht heißen, dass die GV nur schnell gespielt ihren Reiz entfalten. Eher ist generell das Gegenteil der Fall. Wir werden noch darauf zurückkommen.

Ein weiterer Pluspunkt der ECM-Produktion muss aufgezeigt werden: Das Booklet führt mit großer Expertise in die Entstehungsgeschichte des Werkes und in jede einzelne Variation ein, und zwar aus der Sicht des Pianisten. Das wünschte man sich für alle Aufnahmen klassischer Musik.

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Stadtfeld

Hoch gelobt wurde die Sony-Einspielung von Martin Stadtfeld, sie erreicht 2004 Platz 1 der meistverkauften Klassik-CDs. Der damals erst 23jährigePianist gewinnt mit ihr den Echo-Klassikpreis 2004 als "Nachwuchskünstler des Jahres". Er geht mit unbekümmerter jugendlicher Frische ans Werk, wie 1955 Glen Gould, mit dem er wegen seiner technischen Fertigkeiten auch immer wieder verglichen wird. Sein Spiel ist schnörkellos, beeindruckend trocken, modern und herrlich unangepasst, aber manchmal auch etwas eigenwillig.

Manche sagen, er spiele nicht Bach, sondern spiele mit Bach. Vergleichen Sie dazu die Variation 19, die Stadtfeld (anders als Gould!) nicht als zartes Menuett, sondern als eine Art Presto spielt. Damit wäre das Stück aber bereits nach 35 Sekunden vorbei gewesen. Das war ihm dann doch wohl etwas zuviel (besser: zu wenig!) des Guten, deshalb beachtet er hier ausnahmsweise die vorgeschriebenen Reprisen, allerdings spielt er die Melodie der rechten Hand bei der ersten Wiederholung 1 Oktave höher.

Was wohl Bach dazu gesagt hätte? Ich mag die Einspielung, glaube aber, dass Stadtfeld in 20 Jahren eine noch reifere, durchgeistigtere Aufnahme vorlegen wird, womit er es vielen seiner Kollegen gleichtun würde.

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Kempf

Wilhelm Kempff, der große, vielleicht größte deutsche Pianist der Nachkriegsjahre hat mit seinen für immer gültigen Beethoven- und Schubert-Einspielungen Geschichte geschrieben. Aber was passiert da unter seinen Händen mit Bach`s Goldberg-Variationen! Es ist nur schwer in Worte zu fassen. Sie müssen sich selbst ein "Hörbild" machen.

Kempff lässt (fast) alle Verzierungen weg und spielt die reine Melodie. Da ist keine bedeutungsvolle Schwere, kein Getöse, kein Gerase, keine Verzögerung, kein "Pianissimo", kein "Fortissimo". Da gibt es kein "langsames" und "schnelles" Stück, alles fließt unaufgeregt und doch zwingend. Man hört den destillierten Geist der Variationen, als wenn sie ihren Klangkörper schon längst hinter sich gelassen hätten. Kempff hat jeglichen Ballast abgeworfen und schwebt entspannt und schwerelos über uns. Es hat ein bisschen den Anschein, als käme die Musik aus einer anderen Welt, oder gar aus dem Himmel? Jedenfalls eine Interpretation voller erhebender Schönheit, eine Interpretation, wie man sie wahrscheinlich erst mit 75 Jahren erschaffen kann.

Kempff)

Wenn Sie mal in einen Videomitschnitt eines Konzertes oder einer Studioproduktion von Kempff hineinschauen, so wird Ihnen - vor allem bei Stücken von Bach, Beethoven und Schubert - auffallen, dass er kaum auf die Tasten schaut. Sein Blick ist nach oben gerichtet, sein Gesichtsausdruck spiegelt Erleuchtung. Man fragt sich spontan, was er gerade sieht und/oder hört.

Die Variationen klingen nach dem, was sie wirklich sind: Absolute Musik. Man erlebt, dass Bach`s Werk gar keine barocktypischen Zutaten braucht, jedenfalls nicht auf dem Klavier. Dabei verliert sich niemals die Polyphonie, soweit sie dem Werk eigen und auf nur einem "Manual" herauszuarbeiten ist. Und so fassungsloser, weil unvorbereitet ist man, wenn Kempff die Variation 14 mit ihren reichen Trillern spielt. Hat man das Stück je so gehört?

Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass den Goldberg Variationen auf Klavier nichts Wesentliches abgeht, dann hat Kempff ihn mit seiner Einspielung erbracht.

1970 gab es die CD noch nicht, die 70-80 Minuten umfassenden Goldberg Variationen aber hätten auch nicht auf eine einzelne LP gepasst. Sie auf 2 LPs zu verteilen wäre unüblich und teuer gewesen. Also stand nur die Zeit für Vorder- und Rückseite einer LP zur Verfügung. Dann aber war eine Gesamtaufnahme nur realisierbar, wenn Wiederholungen weggelassen wurden. Kempf löst das Problem dadurch, das er bei einigen Veränderungen nur die ersten 16 Takte wiederholt, nicht aber die zweiten 16 Takte. Ich erinnere mich diesbezüglich an die Variationen Nr. 4, 10 und 14. Nennen wir es eine "erzwungene künstlerische Freiheit".

Die Einspielung ist von 1970. Da gab es durchaus schon das Wissen, wie man einen Konzertflügel tontechnisch klar, präzise und dennoch voll klingend aufnehmen kann. Das aber ist hier leider nicht geschehen. Mir scheint das Klavier deutlich übersteuert zu sein, hört man in üblicher Lautstärke, klirrt es sogar. Das alles wird auch auf "Japan Pressungen" nicht besser. Also ist man gezwungen, den Lautstärkeregler herunterzudrehen. Was letztlich dieser so erhabenen, ruhigen und entspannten Interpretation durchaus gemäß ist. Trotzdem wäre es interessant, in die (nicht remasterte) Original-LP hineinzuhören. Möglicherweise ist die der CD klangtechnisch überlegen.

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Perahia

Die Einspielung der Goldberg Variationen durch Murray Perahia aus dem Jahre 2000 gehört zu den besten Klavierinterpretationen überhaupt. Wie bei Kempff steht die Melodie im Vordergrund, sie strahlt Ruhe und Durchgeistigung aus. Wie bei Schiff fügt sie sich aber zudem in die komplexe vertikale Harmonie ein, die erst am Ende von jeweils 16 kontrapunktisch durchgeführten Takten mit der Tonika zur Ruhe kommt.

Genauso hat Perahia seine Interpretation geplant, was er in dem superben Booklet ausführlich erklärt. Und dies auch an Notenbeispielen. Der interessierte Musikfreund erkennt, wie sich die auf den Fundamentalnoten aufbauenden Akkorde in den Dienst der polyphonen Harmonie stellen.

Tatsächlich würde ich Perahia`s Aufnahme zwischen Kempff`s noch spirituellerer und Schiff`s etwas spielfreudigerer Interpretation verorten. Ein weiteres Charakteristikum ist der weiche, warme und dabei so herrlich differenzierende Anschlag, und zwar sowohl in den lyrischen, als auch in den bravourösen Stücken. Sein Spiel verleiht der Musik Flügel. Hören Sie nur hinein in seine Interpretation der 8. Variation.

Dazu kommt eine makellose Aufnahmetechnik, die das Klavier dem Hörer so nahe bringt, als säße er in der ersten Reihe. Das schafft längst nicht jeder Tontechniker.

Da ich bei den Cembaloeinspielungen vier Referenzaufnahmen benannt habe, will ich das auch bei den Darbietungen auf Klavier tun und neben der Interpretationen von Lars Vogt, von András Schiff (2001) und Ragna Schirmer (2022) auch diese von Murray Perahia als Referenz adeln.

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Lang Lang

Ja, und dann Lang Lang. Lange lange habe ich nachgedacht, ob ich an dieser Stelle etwas zu der DG-Aufnahme aus 2020 sagen soll, sagen muss, sagen will. Kann man dem Pianisten in einer kurzen Besprechung dieser Einspielung (eigentlich sind es ja zwei Einspielungen!) gerecht werden? Es sei wenigstens versucht.

Lang Lang polarisiert, das hat er schon immer getan, allerdings ohne es zu wollen. Die einen sehen in Ihm den Showman, den Pop-Superstar, den von seiner Plattenfirma DG künstlich als Überpianist stilisierten Tastentitanen, den oberflächlichen, die europäische Musik nicht wirklich verinnerlichenden Sonnyboy. Die anderen attestieren ihm neben der unumstrittenen technischen Brillanz inzwischen einen Reifungsprozess, einen eigenen, aber immerhin nicht mehr zu eigenwilligen, dafür von echter Empathie geprägten Zugang zu westlicher Musik, und zwar durchaus von Barock bis Romantik. Doch Lang Lang bleibt auch nach den jetzt als Studioaufnahme und zusätzlichem Livemitschnitt aus der Leipziger Thomaskirche vorgelegten Goldberg Variationen für viele Berufs- und Laien-Kritiker eine Reizfigur.

Nur warum eigentlich? Warum verübelt man ihm sein manchmal exaltiertes Auftreten? Bei Bernstein hat man dessen publikumwirksames Gehoppse akzeptiert, bei Gould seine Exzentrik, und selbst ein Nigel Kennedy und David Garrett haben ihr Publikum. Die Klassische Musik kann wahrscheinlich ohnehin nur überleben, wenn man Pop-Elemente einbaut oder wenigstens zulässt. Nicht nur die Zeiten ändern sich, auch die Musikkonsumenten. Oder man lehnt solcherlei Anpassung an den "Musikkapitalismus" und Zeitgeschmack ab, wie es z.B. ein Frank Peter Zimmermann tut.

So befremdet es noch immer, übrigens auch manche Künstler, wenn nach einzelnen Sätzen und nicht erst am Ende des Werkes applaudiert wird. Und manchen gesetzten Klassikliebhaber entsetzt es, in welcher Kleidung das neue Publikum in den Konzert - oder Opernsaal eindringt. Aber wäre es besser, wenn im Zuschauerraum nur noch die regungslos verharrenden Senioren in Abendanzug, Krawatte und langem Kleid Platz nehmen würden? Die Musikwelt befindet sich im Wandel, nicht zuletzt durch den allezeit möglichen Konsum per Streaming. Ein neues Publikum mag sich dadurch erschließen lassen. Dem müssen sich dann aber wohl auch die Interpreten stellen. Oder nicht?

Ich hätte der Deutschen Grammophon allerdings geraten, in dem opulenten Booklet der Luxusedition auch etwas über Bach und sein Werk zu sagen, so wie es früher selbstverständlich war. Doch leider: kein Wort zu Bach, kein Wort zum Werk. Dafür gefühlt viele Dutzend Hochglanzfotos von Lang Lang (exakt sind es 25). Da fragt man sich schon: geht es hier um Bach oder den Interpreten? Das Gegenbeispiel ist das Booklet zur 2001er Einspielung von András Schiff. Ein winziges SW-Portrait des Interpreten, dazu aber eine umfangreiche und kundige Werkeinführung durch den Pianisten selbst.

Nun aber doch zur Interpretation der Goldberg Variationen durch Lang Lang. Zunächst einmal hat er es sich nicht leicht gemacht, er hat das Stück jahrelang studiert und erst 2020 mit 38 Jahren aufgenommen. Er ist inzwischen verheiratet, hat wegen diverser Überlastungen eine Art Sabbatical hinter sich gebracht und wirkt heute in Interviews ruhig und gereift. Er hat die Variationen gleich zweimal eingespielt, einmal im Studio, das andere mal als Aufzeichnung eines Livekonzertes in der Leipziger Thomaskirche. Die Interpretationsunterschiede sind minimal. Allerdings ist der Klavierklang in der Kirche deutlich halliger. Ich ziehe die Studioaufnahme vor, mag sie auch etwas weniger Spontanität haben. Klangtechnisch ist sie überragend.

Lang Lang ist einer der wenigen, der alle von Bach vorgegebenen Wiederholungen spielt. Deshalb benötigt jede der beiden Aufnahmen 2 CDs. Langweilig wird die Musik dadurch niemals, und eingeschlafen wäre wohl nur Graf Keyserlingk, und auch nur dann, wenn der Pianist (wie es wahrscheinlich Goldberg tat) leise und ohne jegliche Dynamik gespielt hätte - aber das war ja nicht Lang Lang`s Auftrag.

Man weiß von Lang Lang, dass er sich vorab viele Gedanken zur Herangehensweise gemacht hat, zu den Tempi, den Tempomodulationen (Agogik, Rubato), zum Pedalgebrauch, zur Lautstärke der Liveaufführung und zur Ornamentierung. Herausgekommen ist eine äußerst subjektiv artikulierte, kräftige, in manchen Stücken extrem langsam, in anderen (Variation 26 im 12/16 Takt) extrem schnell gespielte, dabei oft tempomodulierende und reich verzierte Interpretation. Vielen Kritikern gefällt das nicht, aber es ist nun mal seine eigene derzeitige Sichtweise. Er soll gesagt haben, dass er das Stück in 20 Jahren wohl anders interpretieren werde. Ggf. warten Sie also mit dem Kauf noch...

Interessant finde ich Lang Lang`s Bemerkung, dass ihm Harnoncourt einmal gesagt habe, er spiele die Variationen schön, aber nicht "einsam" genug. Der Altmeister wollte ihm wohl durch die Blume bedeuten, dass er beim Spiel nicht an das Publikum, sondern allein an sich, Bach und das Werk denken solle. Zugegebenermaßen ein nicht leichter Ansatz für ein Livekonzert.

Bleibt die Frage nach der einzigen wirklich gültigen Interpretation; es gibt sie nicht! Wenn Sie mich fragen, ich mag Lang Lang`s gefühlvolle, fast romantisierende Einspielung. Sie ist der Gegenpol zu den "Gouldberg"-Variationen, die lange als der "Gould"-Standard galten.

Hören Sie rein in die Variation 13; unvorbereitet könnten Sie sich fragen, welcher deutsche Romantiker das Stück wohl komponiert hat. Mindestens aber würden Sie es in die Zeit der "Empfindsamkeit" verlegen, die in Deutschland aber erst nach dem Tode Bachs begann. Dazu trägt neben der Wahl des Instrumentes auch die extrem langsame Vortragsweise bei. Lang Lang spielt ganze 6:40 Minuten, Walcha, der auch nicht gerade rast und ein gutes Gefühl für Tempi hat, braucht nur 3:47 Minuten. Vielleicht hat Lang Lang doch soeben eine der vielen visionären Seiten Bachs entdeckt? Genug Stoff für manche Diskussionen.

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Goldberg Variationen B. Rana

Hier kommen sie, vier "neuere" Interpretationen, die trotz kompletter Einspielung aller von Bach vorgeschriebener Wiederholungen im Gegensatz zu Lang Lang gerade so auf eine einzige CD passen. Ob das die Vorgabe der Produzenten war, etwa auch bei Beatrice Rana mit ihren 77:45 Minuten Spieldauer? Oder hatte der Visionär Bach doch schon die CD im Auge?

Beatrice Rana ist so etwas wie der "Shootingstar" unter den Pianistinnen des 21. Jh. Sie geht manches altehrwürdige Werk wohl recht bewusst anders an als wir es zu hören gewohnt sind. Schon bei Chopins Etuden op. 25 kamen mir manche Passagen völlig fremd, um nicht zu sagen befremdlich vor.

Ich will nicht sagen, dass sie auf dieser 2016 eingespielten Aufnahme der Goldberg Variationen "rast", zudem vermeidet sie so ziemlich alle bekannten Manierismen wie beispielsweise Rubati, ausgedehnte Triller oder deutliche Tempovariationen, was mir gefällt. Aber das Tempo, mit dem sie einige Variationen angeht, ist schon atemberaubend.

Wobei ich die vergleichsweise "leichte" Tempoanhebungen bei der Aria, deren Wiederholung, dem Quodlibet und bei den Variationen Nr. 15 und Nr. 25 gut nachvollziehen kann, ja sogar ausdrücklich begrüße.

Doch wenn ich das Werk nicht so gut kennen würde, käme ich bei einigen Stücken ins Grübeln, ob hier jemand gerade Franz Liszt`sche Adaptationen in Grund und Boden jagt, vergleiche z.B. die Variation 5, aber zudem auch andere "mittlere" Variationen (manche sprechen rechtfertigend (?) von "Toccaten") der jeweiligen Dreiergruppen. Hören Sie also rein in die Variationen 8, 11, 14, 17, 20 (Vorsicht vor Schwindel!), 23, 26 und 29!

Ist das noch Barockmusik? Wenn man vor lauter rasanten Läufen einzelne Töne gar nicht mehr differenzieren kann? Hätte Bach selbst seine Stücke so schnell gespielt? Und hätte er sie überhaupt so schnell spielen können? Oder sind diese Fragen ohne jede Relevanz? Fragen über Fragen!

Ich kann nur empfehlen, Ranas Interpretation erst dann zu Vergleichen heranzuziehen, wenn man das Werk anhand der Referenzeinspielungen gut kennengelernt hat. Für dabei möglicherweise auftretende Nebenwirkungen können wir allerdings keine Verantwortung übernehmen.

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Igor Levit Goldberg Variationen

Auch bei den Herren Pianisten gibt es einen Shooting Star, die Rede ist von Igor Levit, der nur 5 Jahre älter als Beatrice Rana ist und etwa gleichzeitig bzw. ganz kurz vor ihr (2015) die Goldberg Variationen aufgenommen hat. Levit spielt ähnlich schnell und braucht für den Zyklus mit 78 Minuten nur 15 Sekunden länger.

In seinem Podcsst erwähnt er, dass es für ihn ein "Dogma" sei, alle von Bach vorgesehenen Wiederholungen zu spielen, obwohl er ansonsten alles andere als dogmatisch veranlagt sei. Ich kann gerade deshalb kaum glauben, dass die Einspielungen ganz ohne "Blick auf die Uhr" erfolgt sind, eher glaube ich (wie bei Beatrice Rana), dass das Zeitbudget einer CD einzuhalten war und damit die Tempi zumindest einzelner Variationen vorgegeben waren.

Levit nimmt - wie nicht anders zu erwarten und wohl auch anders gar nicht möglich - vor allem die mittleren Variationen der "Trinitäten" sehr schnell. Genau diese Stücke mögen es am ehesten verzeihen, wenn sie so schnell gespielt werden, sind es doch "Clavier Übungen" im engeren Sinn.

Im Übrigen von der Virtuosität und von der Emotionalität her eine tadellose Aufnahme ohne pianistische Effekthascherei, angenehm nüchtern, ohne die Erhabenheit des Werkes anzutasten.

Levit erwähnt in seinem Podcast, dass für ihn die Variation 13 einen Höhepunkt des Zyklus darstellt; die ist nach der 25. Variation die zweitlängste seiner Einspielung, auch, weil sie nicht in Hetze vorgetragen wird. Vielleicht ist es dieser Umstand des genau richtigen Zeitmaßes (5:36), was die Variation 13 so besonders klingen lässt. An diesem Stück lässt sich gut zeigen, dass eine schnellere Interpretation (z.B. Glen Gould 1955 mit 2:10 ohne Wiederholungen), aber auch eine noch langsamere Interpretation (z.B. Jean Rondeau, 7:59) der Musik viel von ihrer Wirkung nehmen können. Es ist augenscheinlich wichtig, aber nicht einfach, das rechte Zeitmaß zu finden, falls es das überhaupt gibt.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich gewöhne mich "langsam" an die schnelle Spielweise heutiger junger Pianisten und Pianistinnen. Gewöhnung an Veränderungen (sic!) kann auf bestimmten Gebieten gefährlich sein, weil man den Vergleich zum Ursprung verliert. Hier ist es anders, wir haben genügend historische Vergleichsaufnahmen und können bewusst wählen. Es ist also keine Gefahr in Verzug. Und dann gibt es ja bemerkenswerterweise auch noch Claudio Arrau aus 1942, siehe unten.

Im Booklet schreibt Anselm Cybinski (Levit`s Podcast-Partner): "Alles Zeremonielle ist Levit fremd; er ist das Gegenteil eines weltentrückten Hohenpriesters am Klavier: ein Geist von quecksilbriger Beweglichkeit, der in rasendem Tempo denkt, spricht und schreibt". Das "spielt" hat sich Cybinski verkniffen.

Ja wenn das so ist, lieber Johann Sebastian, dann dürfen wir wirklich von Igor nicht auch noch barocke Kontemplation verlangen...

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Goldberg Variationen Markus Becker

Auf Markus Becker wurden wir durch seine grandiosen Einspielungen der beiden Clara Wieck gewidmeten fis-moll Sonaten von Schumann (op. 11) und Brahms (op. 2) aufmerksam, die wir hier nebenbei bemerkt ausdrücklich empfehlen möchten. Zudem hat er einige sehr einfühlsame Jazzplatten vorgelegt. Da wollten wir natürlich wissen, wie er im Jahre 2000 die Goldberg Variationen angegangen ist.

Becker`s Interpretation ist sehr fein ziseliert, die linke Hand zeichnet ein immer gut durchhörbares Bassfundament, auf eine besondere Hervorhebung bzw. Übertreibung der von Bach vorgegebenen Verzierungen verzichtet er. Die Tempi entsprechen denen von Igor Levit, bzw. ist es chronologisch gesehen ja umgekehrt.

Becker spielt alle Wiederholungen bis auf die der Aria da capo (CD-Kapazität?) und braucht 78 Minuten, also exakt so lange wie Levit, der allerdings alle Reprisen beachtet und mithin gering "schneller" unterwegs ist. Überhaupt ähneln sich beide Einspielungen, die von Becker ist allenfalls etwas "nüchterner", verwendet fast keine Rubati und arbeitet sehr eindrucksvoll die Melodienbögen heraus. Ich finde zudem das Klavier etwas angenehmer, klarer, vielleicht auch etwas "wärmer" aufgenommen. Aber das ist eine reine Sache des Geschmacks und nur im a/b-Vergleich zu hören. Die Tontechniker haben jedenfalls in beiden Fällen gute Arbeit geleistet.

Becker und Levit lehren an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Wenn ich beide Aufnahmen der GV vergleiche und dazu noch die Einspielung ihres 2022 verstorbenen Kollegen Lars Vogt (78 Minuten!) dazu nehme, möchte ich fast von einer "Hannoveraner Schule" sprechen. Alle drei spielen kraftvoll, fast schnörkellos, vielleicht könnte man auch sagen "modern". Interpretationsunterschiede gibt es, aber sie sind nicht groß.

Levit ist für mich der "Rhythmiker", Becker der "Melodiker" und Vogt der "Harmoniker". Mein Favorit ist zur Zeit die Einspielung von Lars Vogt, siehe nächstes Kapitel.

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Goldberg Variationen Lars Vogt

Ich finde die Quelle nicht mehr, aber ein Pianist oder Musikwissenschaftler hat einmal geschrieben, es gebe keine "langsamen" und keine "schnellen" Stücke innerhalb der Goldberg Variationen. Genau das könnte man bezweifeln, hört man in die Interpretationen der Aria, der Variationen 15 und 25 und der jeweils unmittelbar folgenden Variationen verschiedenster Pianisten / Pianistinnen hinein. Lars Vogt aber scheint genau dieser Meinung zu sein und nähert die Tempi der Variationen einander an. So fallen insbesondere die Variationen 15 und 25 nicht mehr "aus dem Rahmen".

Im Interview zitiert Vogt den befreundeten Dirigenten Sir Roger Arthur Carver Norrington, der immer sage: "Es gibt keine langsamen Variationen". Norrington ist aber nicht die Quelle, die ich zu der oben zitierten Aussage suche. Vogt baut jedenfalls auf dieser Vorstellung seine Interpretation auf, verweist auch darauf, dass es für die Aria keine Tempovorschrift gebe, schon gar nicht die Anweisung zu einem "Adagio". Zu langsam gespielt, würden nach seinem Empfinden die Bassnoten gar keine Verbindung mehr zueinander haben und abreißen. Auch empfinde er einen Bruch zur schnellen lauten Variation 1, falls die Aria zu langsam und zu leise gespielt wird. Wie sehr ist dem zuzustimmen!

Als Nebeneffekt müssen die "schnellen" Variationen nicht mehr ganz so schnell gespielt werden, um trotz Beachtung aller vorgeschriebener Wiederholungen die maximale Kapazität einer CD einzuhalten. Lars Vogt hat einen wunderbar weichen, doch präzisen Anschlag, der infolge nicht übertriebener Tempi auch in den Bravourstücken fein differenziert erhalten bleibt. Vogt betont die Harmonien und zeichnet mittels seines ausgefeilten Legatospiels große fließende Bögen über einzelne Stücke, aber auch über das gesamte Werk. Rhythmische Effekthaschereien sind nicht sein Ding, stattdessen nutzt er elegant und dezent die dynamischen Möglichkeiten seines präzise ortbar, klar und hell aufgenommenen Flügels und bringt damit auch auf dem Klavier harmonische Klangfarben in Bachs so faszinierendes Werk.

Eine delikate, würdevoll entstaubte, schnörkellos-moderne, klare, respektvolle, in allen Belangen stimmige Interpretation, die Effekte (und Affekte!) allein durch die Musik selbst überbringt und nicht auf manchmal zweifelhafte individuelle Zutaten zurückgreifen muss. Letztere können Bachs Werk sehr leicht "entweihen".

Die Interpretation des 2022 viel zu früh verstorbenen Lars Vogt ist im Augenblick unser Favorit unter den Klaviereinspielungen. Sie hat das Zeug zu einer weiteren Referenzaufnahme. Seien Sie aber bitte nicht allzu irritiert, wenn Sie in manchen Rezensionen andere Auffassungen finden.

Kurze Zwischenbemerkung: Wenn wir oben augenzwinkernd von einer "Hannoveraner Schule" gesprochen haben, so gehören neben Professoren doch auch Schüler dazu, oder? Ich kann Ihnen Marie Rosa Günter (Schützling von Jelena Levit in Hannover) empfehlen. Sie hat als ihr Debut-Album Bach`s GV gewählt. Das Werk wurde 2016 mit nur 25 Jahren unprätentiös und selbstverständlich fehlerlos für "Genuin Classics" eingespielt. Und Sie ahnen es schon: Spieldauer 78 Minuten unter Beachtung aller Reprisen. Oder Konstanze Eickhorst, Schülerin von Karl-Heinz Kämmerling in Hannover, später selbst Professorin ebendort. Ihre Einspielung von 1995 (78 Minuten) ist makellos und vom Klang her rund und schön. Es ist die vielleicht emotionalste Aufnahme der allesamt recht "nüchternen" und eher sparsam interpretierten "hannoveraner Einspielungen". Die Einspielungen von Marie Rosa Günter und Konstanze Eickhorst werden weiter unten noch gewürdigt.

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Anmerkung zu den Interpretationen von Rana, Levit, Becker und Vogt im Vergleich zu Claudio Arrau

Goldberg Variationen Claudio Arrau

Wenn wir die Interpretationen von Beatrice Rana, Igor Levit, Markus Becker, Lars Vogt (und Marie Rosa Günter sowie Konstanze Eickhorst s.u.) mit ihren Tempi und Spieldauern von um die 78 Minuten als "modern" empfinden, so wissen wir sehr wohl, dass Claudio Arrau 1942 die Variationen ebenfalls unter Beachtung aller Wiederholungen auf Band eingespielt hat und dafür auch nur 79 Minuten benötigte. Diese insgesamt überhaupt erst zweite Tonaufnahme der GV ist aus verschiedenen (überall nachlesbaren) Gründen seinerzeit nicht veröffentlicht und erst 1988 aus den Archiven hervorgeholt worden.

Wenn wir heute Arrau`s Einspielung (zwar remastert aber immer noch "historisch" anmutend) im Stream hören, dann klingt sie mit ihrer Authentizität und ihrem absoluten Respekt vor dem Komponisten doch sehr stark nach einer "Steilvorlage" für die o.g. sechs Künstler:innen. Jedenfalls war sie vor 80 Jahren im Vergleich zu der Herangehensweise einer Wanda Landowska "modern" - und sie ist es auch heute noch. Nur so viel (auch uns ins Stammbuch geschrieben) zum Begriff "modern".

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Kimiko Ishizaka - Goldberg Variations

2012 hat Kimiko Ishizaka etwas seinerzeit ziemlich ungewöhnliches getan: Sie hat die Goldberg Variationen im Teldex Studio Berlin auf einem Bösendorfer 290 Imperial eingespielt und die Aufnahme zum freien und kostenlosen Download ins Netz gestellt. Als Platform fungiert "Bandcamp", dort sind auch Noten und Covers frei erhältlich. Neben MP3 soll ein Download von FLAC-, WAV-, ALAC- und AIF-Formaten möglich sein. Zudem lassen sich die Variationen auf allen üblichen Diensten streamen, z.B. bei Qobus, Spotify, Deezer, Apple Music und Amazon Music.

Auf den Einspielungen liegt kein Copyright. Jeder kann mit der Musik tun, was er will. Man kann sie etwa als eigene Erkennungsmelodie oder als Klingelton verwenden. Man kann natürlich an die Künstlerin "spenden", und das sollte man auch zumindest dann tun, wenn die Interpretation gefällt.

Wichtig aber ist und bleibt letztlich die Qualität der Aufnahme. Fangen wir mal mit dem leichteren Teil an: Der Bösendorfer Imperial (von der Firma gesponsort) klingt klar, hell, warm und einfach phänomenal gut. Die Tontechniker haben hervorragende Arbeit geleistet und sowohl den Raumklang als auch den Klang des Flügels audiophil eingefangen. Es ist ein pures Hörvergnügen - und das bereits beim Lauschen der Musik im MP3-Format. Meines Erachtens gibt es derzeit keine klangtechnisch bessere Piano-Einspielung auf dem Markt. Ähnlich gut produziert ist nur die Studioaufnahme von Lang Lang aus dem Jahr 2020.

Aber jetzt zum schwierigeren Teil, der Interpretation. Kimiko Ishizaka spielt einen unprätentiösen, klaren, unaufgeregten, flüssigen Bach nahezu ohne Verzierungen mit nur sehr dezent eingesetzten Dynamikvariationen, aber insgesamt vergleichsweise zurückgenommenen Tempi. Insbesondere die 3 Moll-Variationen spielt sie sehr langsam, für die Var. 25 ("black perl") nimmt sie sich 9:18 Minuten Zeit. Praktisch keine Tempomodulationen innerhalb der einzelnen Variationen, alle Stücke erscheinen wie aus einem Guss, keine Rubati, dezente Triller nur dort, wo sie von Bach ausdrücklich vorgeschrieben werden. Selbst auf die allgemein üblichen Ritardandi am Ende einer Variation verzichtet die Pianistin. Um die Struktur des Werkes zu verdeutlichen fügt Ishizaka bei einigen Variationen nach jeweils 16 Takten eine winzige Zäsur ein. Eine in sich stringente Interpretationsleistung.

Es ist absolut erstaunlich, welchen Eindruck solch eine Interpretation ohne jeden hinzugetanen individuellen Effekt (und Affekt!) hinterlässt. Man spürt ohne Frage dennoch die absolute Leidenschaft der Interpretin, vor allem aber hört man hier (auch dank der zurückgenommenen Tempi) die Größe der Bach`schen Komposition samt der ihr innewohnenden Affekte in "Reinkultur". Natürlich ist das alles eine Frage der Hörgewohnheiten und des persönlichen Musikgeschmacks. Und dann kann ja eigentlich nicht sein, was nicht sein darf, dass nämlich eine noch recht unbekannte junge Pianistin mit einer auch noch kostenlos erhältlichen Einspielung solche Granden wie etwa A. Schiff, D. Barenboim und M. Perahia in den Schatten stellt.

Kimiko Ishizaka bereitet uns in jedem Fall mit ihrer Interpretation ein pures audiophiles Vergnügen und zeigt, dass bei Bach bereits alles in den Noten steht und dass es keinerlei weiterer individueller Zutaten des Pianisten/der Pianistin bedarf, wenigstens nicht zwingend.

Nachgetragen sei noch kurz, dass alle Reprisen bis auf die der Schlussaria gespielt werden und dass die Gesamtaufnahme 82 Minuten in Anspruch nimmt, mit allen Reprisen wären es 85 Minuten gewesen. Ishizaka hatte für ihre als Download geplante Interpretation wohl kein Zeitbudget, um so mehr fragt man sich, was sie bewogen hat, auf die Wiederholung der Aria da capo zu verzichten. War alternativ vielleicht doch neben dem reinen Download eine einzige CD als Aufnahme der Daten angepeilt?

Wenn Sie einen hochwertigen verlustfreien Download (z.B. in Form einer Flac- oder Wave-Datei) als Audio-CD auf CD-ROM brennen wollen, empfehlen wir, 2 CDs zu spendieren, um die Fehlerquote einer übervollen CD zu minimieren.

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olafsson goldberg

Víkingur Ólafsson ist längst kein Unbekannter mehr, er hat den Minimalisten Philip Glass interpretiert, Debussy und Rameau zusammen in einem Zyklus gespielt und auch schon eine Bach-Platte mit Originalwerken und Transitionen verschiedener Komponisten / Interpreten vorgelegt. Jetzt also 2023 die Goldberg Variationen.

Um es gleich vorab zu sagen: Die Aufnahme wird nicht im Meer unzähliger anderer Einspielungen untergehen, sie wird Ólafsson zu einem Weltstar machen.

Das liegt an einer gewissen Zugespitztheit, ja Exaltiertheit seiner gewollt sehr subjektiven Interpretation, an teils sehr schnellen Tempi, an der Medienpräsenz, der Promotion durch die DG und an seiner begleitenden weltweiten Mammut-Konzertreise mit 88 Auftritten. Und am Anspruch vieler Konsumenten, es müsse alles immer höher, weiter, schneller werden...

Es liegt aber auch an seinem unvergleichlichen (an Perahia erinnernden) Anschlag, der tropfenförmig, aber präzise kommt, ja teils geradezu "gezupft" wirkt. Hören Sie in die Variation 24 mit ihrer "spieluhrartigen" Anmutung. Nur selten verwendet Ólafsson ein Legato. In Interviews und im Booklet erfahren wir, dass er viele Jahre an einer ihn befriedigenden Interpretation gearbeitet hat, dass er mittels eines Metronoms und diverser Notizen die einzelnen Variationen "geplant" habe, dass er aber letztlich das alles verworfen und sich einer freien "interpretativen Improvisation" verschrieben hat. In dieser lässt er nun Bach`s "fingerbrecherischer Virtuosität" freien Lauf, um den Begriff eines Ólafsson´schen "halsbrecherischen" oder gar "mörderischen" Virtuosentums zu vermeiden.

Die Archtektur des Werkes ist für ihn zwar wichtig, aber weniger wichtig als der "Mikrokosmos" jeder einzelnen Variation. Dabei sieht er durchaus das Gesamtwerk als eine Metapher an, eine Metapher für "Kommen und Gehen", "Erleben und Wiedersehen", "Leben und Verstreichen der Zeit", oder als "Abbild der menschlichen Existenz". Er beschreibt in Interviews die von ihm empfundene sich im Verlauf ständig steigernde Dramatik des Stückes, die auf die 30. Variation (eher ein Potpourri) zustrebt. Folgt man Ólafsson, dann streben die einzelnen Variationen nicht dem Finale zu, sie eilen ihm förmlich entgegen. Die Eile ist so groß, dass sich die Variationen 26 bis 30 ohne Pause einander anschließen bzw. gefühlt sogar ineinander übergehehen, bis der letzte Ton des Quodlibet sekundenlang nachschwingt und leise verklingt. Wahrscheinlich das effektvollste Goldberg-Finale, das jemals auf Tonträgern aufgezeichnet wurde.

Ólafsson streicht im Booklet die Bedeutung der anschließend unverändert wiederholten Aria heraus, die nun ganz anders klinge als zu Beginn, obwohl sich keine Note verändert habe. Wenn Heraklit noch gefragt hat, ob man zweimal in den gleichen Fluss steigen könne, so ersetzt Ólafsson den Begriff "Fluss" augenzwinkernd durch "Bach" - und natürlich verneint er die Frage. Umso mehr erstaunt, dass er die Aria da capo nicht mit den vorgeschriebenen Wiederholungen spielt. Vielleicht gab es ein der CD-Kapazität angepasstes Zeitbudget?

Inzwischen kann man Ólafsson`s Einspielung auch auf LP erwerben, natürlich auf zwei Platten verteilt. Vermutlich bleibt es auch dort beim Weglassen der Reprisen der abschließenden Aria, obwohl man diese gerade nach allem philosophischen Exkurs auch als Start eines Neubeginns sehen könnte - und der darf ja eigentlich nicht zu kurz kommen. Für die Einspielung hatte man sich ganze 6 Tage Zeit genommen, da ist es denkbar, dass es auch eine Version mit der "kompletten" Aria da capo gibt.

Mich würde in diesem Zusammenhang sehr interessieren, wie Ólafsson das Werk im Konzertsaal angeht. Dort gibt es kein Zeitbudget, ganz im Gegenteil darf das nur aus den Goldberg Variationen bestehende Konzert ja nicht zu schnell zuende gehen, um ausreichend nachzuhallen. Vielleicht bekommen wir am Ende der 88 Liveauftritte einen Mitschnitt zu Gehör und/oder zu Gesicht. Doch wenn überhaupt, von welchem Abend? Víkingur Ólafsson sagt, dass jedes Konzert anders verlaufe, einer anderen Dynamik gehorche. Man darf gespannt sein. Auch auf eine Neuinterpretation in ca. 25 Jahren...

Ólafsson kennt natürlich die Interpretationen der meisten großen Pianisten, erwähnt im Interview z.B. Gould, Sokolov, Perahia und Schiff, betont aber, dass er die Variationen "ganz anders" spiele. Vor allem spielt er sie (vielleicht mit Ausnahme von Schiff) viel schneller. Wenn es überhaupt eine "Blaupause" für ihn gab, dann muss es die Einspielung von Andrei Gavrilov aus 1993 auf DG sein mit ihrer standrechtlichen Exekution eines großen Teils der virtuosen und melodischen Variationen (vgl. Var. 13, 14, 20, 29) bei epischer Ausbreitung der Moll-Variationen.

Gleich die erste Variation nach der so ruhigen Aria ist ein Parforceritt, als wenn Ólafsson schon zu Beginn ein Zeichen setzen und auch weniger "klassikaffine" Zeitgenossen zum weiteren Zuhören animieren will. Ich empfinde diese Art der Interpretation schon ein wenig als Provokation, natürlich vom Interpreten absolut so gewollt. Vielleicht hilft es, junge Menschen in unsere fantastischen Konzertsäle zu locken und mit der absoluten, immer gültigen Musik der großen Meister bekannt zu machen. Dann wäre ein wichtiges Ziel erreicht.

Hören Sie nach den m. E. übertrieben schnellen Nummern 1, 5, und 8 auch in die vorletzte, die 29. Variation hinein, zumindst ich kann beiden Händen bzw. allen 10 Fingern nicht mehr folgen. Bach mag ein Virtuose gewesen sein, aber so atemberaubend rasant wie bei Ólafsson hat seine Barockmusik ganz bestimmt nicht geklungen. Selbst wenn diese Geschwindigkeit auf einem damaligen Cembalo überhaupt möglich gewesen wäre, was zu bezeifeln ist. Auch stelle ich mir das Barock weniger gehetzt, mehr kontemplativ orientiert vor. Hier sei aber darauf verwiesen, dass Schiff (2003) die Variation 29 mit exat dem gleichen Tempo angeht, dass er aber die einzelnen Töne der Läufe nicht verschwimmen, sondern immer noch perlen lässt, was einen nicht so gehetzten Eindruck hinterlässt.

Die "dunklen" Moll-Variationen 15, 21 und 25 allerdings spielt Ólafsson betont langsam, langsamer jedenfalls als andere "schnelle" moderne Pianisten. Insgesamt bietet sich dadurch eine in den Emotionen ("Affekten") sehr wechselhafte, abwechslungsreiche Interpretation. Das ist wohl so beabsichtigt. Letzlich will ja kein Interpret, dass sein Publikum einnickt. Und seien wir ehrlich, Barockmusik kann über Stunden hinweg ziemlich gleichförmig klingen, was in unserer schnelllebigen Zeit nicht immer goutiert wird. Mein Eindruck aber ist, dass Ólafsson durch seine zugespitzte Interpretation Bach’s Werk zerreißt. Wie auch immer, einschlafen werden Sie bei seiner Interpretation nicht, versprochen!

Es ist also völlig ok, wie Víkingur Ólafsson dieses Werk aller Werke angeht, es ist seine derzeitige Auffassung, als solche haben wir sie zu respektieren. Ich werde sicher auch künftig immer mal wieder seine Goldberg Variationen auflegen. Es sind darin traumhaft schöne Episoden zu finden, etwa die Variationen 10, 13, 14 und 24. Wer noch mehr Erhabenheit, würdevollen Respekt, Ruhe und Stille sucht, hat genügend Alternativen.

Wenn man Interpretationen von der Zeitdauer her vergleicht, muss man in Rechnung stellen, dass mal Wiederholungen ganz weggelassen werden (Gould 1956, Leonhard), oder nur einzelne Variationen oder gar Teile von Ihnen wiederholt werden (Gould 1982, Kempff, Jarrett), mal nur die beiden Teile der Aria da capo nicht wiederholt werden (Ólafsson, Rana, Perahia, Rosen) oder eben alle Wiederholungen beachtet werden (Levit, Lang Lang, Vogt). Um eine Vergleichbarkeit herzustellen, kann man die weggelassenen Reprisen der tatsächlichen Gesamtdauer hinzurechnen. Bei Ólafsson käme man dabei auf 76:04 Minuten gegenüber der 1955er Aufnahme von Gould mit 77:20 Minuten. Nur Schiff ist schneller (71 Minuten), und Perahia ist ähnlich flink unterwegs, beide spielen aber dafür die getragenen Moll-Variationen 15, 21 und 25 erheblich schneller als Ólafsson und haben dadurch mehr Zeit für die Bravourstücke, die sie (vor allem aber Perahia) teils langsamer nehmen. Lang Lang braucht im Studio 91:37, live 92.56 Minuten. Rondeau gönnt sich und uns auf dem Cembalo 107:12 Minuten. Das alles nur als äußerlicher Hinweis, wie Víkingur Ólafsson das Werk angeht. Um mitzureden, sollte man seine Interpretation intensiv durchgehört haben. Erst dann kann man beurteilen, ob Geschwindigkeit hier ein akzeptables Stilmittel oder bloße effekthascheriche Hexerei ist.

Ein letztes Wort zur Tontechnik der mir vorliegenden CD. Eingespielt wurde in einer Reykjaviker Konzerthalle. Der Flügel (wohl ein Steinway) ist fast übertrieben nah aufgenommen, der Diskant ist gegenüber dem Bass für mein Empfinden zu sehr betont, was sich besonders bei der Variation 26 negativ auswirkt. Selbst mit audiophilen Kopfhörern sind manche Töne nahe der Schmerzgrenze, auf verschiedenen Audioanlagen hängt das Ergebnis vom Hörraum ab. Bei sehr gut abgestimmten Hörräumen und exzellenten Anlagen bestätigt sich der Eindruck der Kopfhörer. Auch die Tontechniker drehen also inzwischen des Effektes wegen die Regler hoch. Und wir Altgedienten drehen die Zeit wohl nicht mehr zurück.

Die Goldberg Variationen von Víkingur Ólafsson, eine neue und ganz sicher nicht letzte Fascette im gewaltigen Kosmos dieses wohl auch die nächsten Jahrhunderte überdauernden Opus magnum. Gespannt bin ich, ob das Mastering der LPs einen weniger spitzen Klang im Diskant mit sich bringt.

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Goldberg Variations (Fazil Say)

Fazil Say hat sich während des Lockdowns mit J. S. Bach befasst und die Goldberg Variationen erarbeitet. Wir kennen ihn von seinen Einspielungen der Mozart Pianosonaten als sehr sensitiven Künstler, der sich selbst gern mit in die Interpretation einbringt - und das auch durch ein wohl (trotz intensiven Bemühens) nicht abstellbares Mitbrummen nachweist. Hier ist es teils deutlich als "Mitsingen" hörbar, teils hat man den Eindruck rumpelnder tieffrequenter Störgeräusche.

Und stört diese Angewohnheit gewaltig, vor allem bei der Verwendung audiophiler Kopfhörer. Deshalb auch wollen wir diese Rezension kurz machen:

Sehr gut gewählte Tempi, Beachtung aller vorgeschriebener Reprisen, keine aufdringlichen Verzierungen, nur selten Tempomodulationen bis auf ausgeprägte Ritardandi am Schluss der einzelnen Variationen, oftmals Einsetzen aller dynamischer Möglichkeiten des Flügels zur Kompensation der fehlenden Register eines Cembalo, sehr angenehmer Klavier- und Raumklang. Eine sicher etwas romantisierende Einspielung, manchmal sogar impressionistisch anmutend, und warum eigentlich nicht!

Wenn es Fazi Say nur gelingen könnte, seine Stimme aus dem Klaviervortrag herauszuhalten...

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Dinnerstein-GV

Simone Dinnerstein spielt die GV 2005 vergleichsweise langsam und beachtet (anders als in der Zeitschrift "Audio" dargelegt!) nicht alle Reprisen. So lässt sie die Wiederholungen der Variationen 15, 25, 28 und der Aria da capo weg und zudem die Wiederholung des ersten Teils der Variation 16 (Ouverture), kommt so aber immer noch auf eine Gesamteinspielzeit von gut 78 Minuten. Ihre Einspielung passt damit gerade auf eine im Jahre 2005 gepresste CD. Ich kann nicht glauben, dass hinter dieser Gestaltung eine künstlerische Überlegung stand. Hätte sie alle Reprisen gespielt, wäre sie auf eine Gesamtzeit von 91:08 gekommen, wie etwa Lang Lang, der aber eben eine Doppel-CD benötigt.

Trotzden hat Simone Dinnerstein eine eindrucksvolle, vielleicht aber etwas "romantisierende" Interpretation vorgelegt. Das Weglassen der Wiederholungen der langsamen Moll-Variationen 15 und 25 finde ich akzeptabel, bei der Aria da capo versucht sie durch ein langsameres Tempo im Vergleich zur Eingangsaria zu kompensieren, was nicht überzeugt; die Ouverture aber bekommt sogar ein gewisses "Gleichgewicht" zwischen ihren beiden Teilen, allein die wunderbare Variation 28 leidet etwas unter Dinnersteins Eingriff. Erwähnen möchten wir noch den warmen Klang des von ihr verwendeten Steinway aus dem Jahre 1903.

Insgesamt eine insbesondere im Vergleich sehr subjektive Interpretation. Dinnerstein nutzt die dynamischen Möglichkeiten ihres Flügels, spielt teils sehr leise, teils laut. Obwohl sie generell sehr langsame Tempi benutzt, gibt es Variationen, in denen sie besonders ausdrucksvoll und langsam spielt, langsamer selbst als Rondeau, z.B. bei den Nummern 13 und 21. Das hält sie aber nicht ab, teils extrem schnelle Variationen einzuflechten, etwa die Nummern 17 und 26, in denen sie selbst Ólafsson und Levit enteilt. Teils also langsamer als Rondeau, teils schneller als Ólafsson, das zeigt die Spannbreite.

Eine ungewöhnliche Interpretation! Wenn Sie einmal hören wollen, wie Barockmusik fernab der klassischen Auffassungen klingen kann, Simone Dinnerstein zeigt es Ihnen.

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Einspielungen der GV von Konstanze Eickhorst, Marie Rosa Günter und Klára Würtz

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Rosa-Marie-günter-GV

Rosa Marie Günter hat die GV 2015 im Mendelssohnsaal des Gewandhauses Leipzig auf einem Steinway D eingespielt. Sie beachtet alle Wiederholungen und kommt auf eine Gesamtdauer von 77:17 Minuten. Klavierklang und Raumklang sind angenehm eingefangen. Als Schülerin von Jelena Levit in Hannover spielt sie schnörkellos ohne subjektive Ausdeutungen. Eine runde, in jeder Beziehung "schöne" Interpretation der damals 24jährigen Ausnahmepianistin. Mehr zur Aufnahme folgt nach den nächsten beiden Kurzeinführungen.

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Klara-Würtz-GV

Klára Würtz, in Ungarn geboren und jetzt in Amsterdam zu Hause, hat die GV erstmalig im Mai 2020 im Alter von 55 Jahren in der Westvest Kirche Schiedam eingespielt. Die Aufnahme haben wir dem Lockdown zu verdanken und einer die Pianistin inspirierenden Orgelversion der GV von Alexander Kniazev. Würtz spielt alle Wiederholungen und braucht 77:27 Minuten. Klavier- und Raumklang sind perfekt abgemischt. Näher eingehen werden wir auf diese wundervolle Interpretation nach der nächsten Kurzeinführung.

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Eickhorst-GV

Konstanze Eickhorst hat die GV 1993 mit 32 Jahren im Sendesaal von Radio Bremen aufgenommen. Als Schülerin von K.-H. Kämmerling hatte sie von 1989 bis 1998 selbst eine Professur an der Hochschule für Musik und Theater Hannover inne. Joachim Kaiser betonte ihre "Intensität des Ausdrucks". Sie hat weltweit gastiert und etliche Preise gewonnen. Eickhorst spielt alle Wiederholungen und braucht insgesamt 78:22 Minuten. Eine gelungene, sehr reife und auch noch 30 Jahre später absolut empfehlenswerte Interpretation.

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Die Einspielungen der GV von Konstanze Eickhorst (1993), Marie Rosa Günter (2016) und Klára Würtz (2020) sind sich sehr ähnlich, sie unterscheiden sich allenfalls in Nuancen. Die drei Pianistinnen beachten alle vorgeschriebenen Wiederholungen (auch die der Aria da capo!), wählen oftmals nahezu identische Tempi und gelangen so zu ziemlich gleichen Gesamtspielzeiten; einige Vaariationen sind sogar absolut gleichlang. Über die technischen Fähigkeiten etwas zu sagen erübrigt sich bei diesen drei in jeder Beziehung ausgezeichneten Künstlerinnen. In allen drei Fällen ist die Tonqualität erstklassig, die Tonmeister haben ganze Arbeit geleistet. Wir können Ihnen den Kauf (oder das Streamen) aller drei Interpretationen wärmstens empfehlen.

Vielleicht spielt Marie Rosa Günter - am Anfang der Karriere stehend - auf ihrer Debutplatte etwas "akademischer", versucht die reine absolute Bach`sche Musik ohne jedes subjektives Hinzutun wirken zu lassen. Diesem Prinzip ist schon Keith Jarrett gefolgt oder ziemlich zeitgleich (und noch reduzierter) Michie Koyama. Der Gegenpol zu dieser Auffassung wäre nachzuempfinden bei Oliver Schnyder mit seinen fast übermäßigen Verzierungen. Als sehr bezeichnend für unsere Zeit des "immer schneller, immer weiter, immer höher" sehe ich Aussagen mancher (sich dadurch selbst charakterisierender) Kritiker, Günter`s Interpretation sei "nichtssagend", wobei aber teils auch eingeräumt wird, dass sich subtile Feinheiten erst beim wiederholten Hören offenbaren.

Klára Würtz bringt vielleicht etwas mehr Subjektivität durch reichere Lebenserfahrung ein, klingt dadurch etwas "durchgeistigter". Sie hatte sich unter dem Eindruck der Gould`schen Einspielung jahrelang nicht an die GV herangetraut, dann aber ihrem eigenen Instinkt vertraut, vor allem, was die Tempi angeht. Auch meint sie im Interview, dass den Variationen nichts abgehe, wenn man sie nicht reich ornamentiert spiele, nur an den Wiederholungen halte sie fest, auch um dort Aussagen noch klarer zu formulieren. Wie ihre beiden hier bessprochenen Kolleginnen akzentuiert sie oftmals das Bassfundament der linken Hand (vgl. Variationen 7 und 13) und verweigert sich in der Variation 13 auch nicht diskreten Rubati und anderen Tempomodulationen. Sie ist der Meinung, dass sich die Aussage der einzelnen Variationen nicht zuletzt durch deren Anordnung im Gesamtwerk ergibt.

Konstanze Eickhorst liegt mit ihrem warmen Klavierklang und ihren dezenten Tempomodulationen und Rubati irgendwo dazwischen. Ihre Interpretation enzieht sich jedem Versuch einer Zuspitzung, in welche Richtung auch immer. Sie bezeichnet Bach als ih "täglich Brot". Einer Rezension aus "Klassik heute" kann ich nur zustimmen: "Sie spielt Bach, als sei es eine Selbstverständlichkeit, schnörkellos, ohne Manierismen, aber mit liebevoller Hingabe, großer Ernsthaftigkeit und bewusster Klarheit. In den besten Momenten wirkt ihr Bach-Spiel wie gültig, ja endgültig". Es gibt Kritiker, die die Interpretation als "brav, aber ohne Ecken und Kanten" bezeichnen. Ich übersetze das für mich mit "akkurat, die Noten ohne selbstverliebte Attitüde respektierend". Eickhorst`s Einspielung ist m.E. die am meisten unterschätzte Interpretation auf dem riesigen Markt. Sie hat das Zeug zu einer Referenzeinspielung.

Die Unterschiede zwischen den drei Interpretationen aber sind - über alle 30 Variationen gesehen - eher marginal. Hier will sich keiner profilieren, provozieren oder eine Sensation schaffen. Bach mit seiner Polyphonie, seinen Harmonien, seiner Rhythmik und seinen Melodien steht im Fokus - und sonst nichts. Respektvoller kann man die GV auf dem modernen Konzertflügel nicht interpretieren, wohl aber mit mehr "eigenen Zugaben", doch dafür haben wir ja genügend alternative Einspielungen, falls durchaus gewünscht.

Zusammenfassend drei über jeden Zweifel erhabene Interpretationen, die sich "modernen" Extravaganzen verweigern. Sie sind in ihrer klaren durchsichtigen Spielanlage u.a. auch gut geeignet als Fundament zum Kennenlernen und zu erweiterten Studien der Goldberg Variationen auf Klavier.

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Ekaterina-Derzavina_Web
Michie-Koyama_Web

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Die Einspielungen der Russin Ekaterina Derzhavina (1994) und der Japanerin Michie Koyama (2017) haben vieles gemein. Zunächst einmal sind sie beide nur schwer (Koyama) oder zur Zeit gar nicht mehr (Derzhavina) auf Tonträgern zu beschaffen; wohl aber lassen sich beide (z.B. bei Qobus) hochauflösend streamen.

Die Herangehensweise beider Pianistinnen ist über weite Strecken ähnlich, was den Respekt vor dem Werk, die Wahl der Tempi, Dynamik und Verzierungen angeht, doch gibt es auch interessante Unterschiede, die m. E. exemplarisch für die möglichen Ansätze heutiger Interpret:innen sind, siehe unten.

Die Einspielung von Michie Koyama wurde 2017 in der japanischen Ohga Hall Karuizawa aufgenommen (wohl auf einem Steinway) und auf CD/SACD bevorzugt für den japanischen Markt publiziert, das Booklet ist fast ausschließlich japanisch beschriftet. Koyama hat zwar weltweit konzertiert und Preise bei den renommiertesten internationalen Klavierwettbewerben gewonnen, hat aber ihre japanische Heimat nie dauerhaft verlassen. Das unterscheidet sie von manch anderen berühmten fernöstlichen Stars. Wie ich meine, hat sie dadurch viel von ihrer ursprünglichen künstlerischen Identität bewahren können.

Koyamas Anschlag ist einzigartig, präzise, dabei eher weich, manchmal kann sie geradezu glockenartige Töne erzeugen, ohne jemals kitschig zu wirken (vgl. die Variationen 3, 5, 7, 8 11(!), 20 [Staccato], 24 [Legato] und 28).

Sie spielt alle Wiederholungen und kommt dabei auf „nur“ 74:35 Minuten, ohne dass sich jemals der Eindruck eines Gehetztseins (wie selten selbst einmal bei Schiff) einstellt. Verantwortlich dafür scheint mir zum einen die (aber nur im Vergleich) recht schnelle Interpretation der Variationen 15, 21 und 25 zu sein, die „Zeit spart“ (s.u.), zum anderen ihre ausgefeilte Technik. Kein Ton verschwimmt mit dem nächsten, die Läufe perlen differenziert auch in den schnellsten Passagen. Verzierungen werden nur sparsam eingesetzt, fast würde man sich mehr dieser so wunderbar präzisenTriller wünschen. Dynamische Phrasierungen und Tempovariationen setzt Koyama ein, aber so diskret, dass sie erst beim zweiten Zuhören deutlich werden. Zudem kann sie ihren Flügel sehr expressiv klingen lassen, etwa in den Variationen 1, 4, 16, 26 und 29.

Der Klavierklang ist nach meinem Eindruck (sowohl auf CD/SACD als auch im HighRes-Streaming) eine Spur entfernt, aber das ist Geschmacksache.

Ekaterina Derzhavina lebt und lehrt in Russland, hat aber gleichfalls eine weltweite Karriere aufzuweisen. In Deutschland ist sie vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit dem Saarländischen Rundfunk bekannt geworden, dem wir auch diese Aufnahme der GV aus 1994 verdanken.

Ihr Anschlag ist in den Moll-Variationen (vgl. insbesondere Variation 25) fast so weich wie der von Koyama, "delikat" auch in den Variationen 9, 11, 17, 19 (ziemlich langsam) und 28 (Triller!). Andererseits beherrscht sie auch wuchtige Akzente (Variationen 8, 18, 26, 29) und bringt in die schwierige Variation 23 etwas mehr Struktur als Koyama. Die Variation 14 nimmt sie erstaunlich schnell, die Variation 19 erstaunlich langsam.

Derzhavina spielt alle Wiederholungen mit Ausnahme der Aria da capo und kommt auf eine Gesamtspielzeit von 76:53 Minuten. Bei Beachtung der Wiederholung der Schlussarie wären es 80:29 Minuten gewesen, die wohl nicht auf eine einzelne CD gepasst hätten.

Der Klavierklang ist m. E. etwas natürlicher, heller im Vergleich zu Koyama. Sehr gravierend aber ist der Unterschied nicht und zudem vom subjektiven Geschmack abhängig. Die Toningenieure hatten jeweils nachvollziehbare Klangkonzepte.

Beide Pianistinnen interpretieren ohne Zurschaustellung eines eigenen Ego. Koyama nimmt in den Wiederholungen die Lautstärke leicht zurück, als höre man ein Echo. Derzhavina benutzt die Wiederholungen, um zusätzliche Verzierungen anzubringen, manchmal über je 4 Takte die Dynamik zurückzunehmen (vgl. Var. 16) und auch Rubati zu verwenden (vgl. beispielsweise die Variationen 13, 22, 23 und 24). Die Ritardandi am Schluss einer Variation setzt sie schon sehr früh an.

Beide Interpretationen können ganz oben in der Liga mitspielen. Der Unterschied liegt vielleicht in der Herkunft der Pianistinnen begründet. Die russiche Tradition mag generell etwas mehr die Seele betonen, die japanische den Kopf.

Die unterschiedliche Herangehensweise ist exemplarisch für zahlreiche andere Einspielungen. So muss sich der Interpret, die Interpreten entscheiden, ob er/sie tendenziell bzw. weitestgehend nüchtern barock (wenn das mal kein Widerspruch ist!) an die Sache herangeht (wie Koyama), oder ob die durchaus "empfindsam" interpretierbaren Variationen 13, 15, 21 und 25 entsprechend romantisierend, langsam, und verziert gespielt werden sollen (tendenziell wie Derzhavina). Es ist wohl enorm schwer, sich in der Mitte dieses Spannungsfeldes zu halten. Beiden Pianistinnen gelingt das.

Während die Tempi von Koyama und Derzhavina in fast allen Variationen absolut vergleichbar sind, spielt Derzhavina in den Variationen 13, 15, (21,) und 25 insgesamt 5:08 Minuten länger, also langsamer, was ziemlich genau dem Gesamt-Zeitunterschied beider Aufnahmen entspricht. Das passt dann nicht mehr auf eine einzelne CD, wenn nicht (wie oft praktiziert) auch von Derzhavina die Wiederholung der Aria da capo weggelassen würde. Koyama spielt die Moll-Variationen schneller, aktentuiert dafür kräftiger, lässt zwar das Piano voll tönen, vermeidet aber jeglichen romantischen Touch - und braucht nicht eine einzige Wiederholung zu streichen.

Der Zuhörer steht hier vor der Qual der Wahl. Ich mag es sehr gern, wenn die Variation 13 und die 3 Moll-Variationen nicht deutlich langsamer als die anderen Variationen gespielt werden. Aber bitte, das ist durchaus diskutabel. Auch wenn man nicht genau weiß, welche Tempi Bach selbst verwendet und warum er erst später bei der geplanten Neuauflage der GV die Variation 25 mit "Adagio" überschrieben hat.

Viele Kritiker neigen dazu, Einspielungen ohne größere interpretatorische Freiheiten der Interpret:innen als eher langweilig, akademisch, jedenfalls nicht als besonders oder gar herausragend zu werten, dabei aber Feinheiten der Artikulierung und Phrasierung glatt zu übersehen. Ich bin anderer Auffassung, mag eher die dezente, wenig subjektiv verbrämte Herangehensweise und bin von den sich selbst zur Schau stellenden (meist männlichen!) Egomanen eher iiritiert

Ich kann Ihnen nach dem Vorhergesagten sowohl die Aufnahme von Koyama, als auch die von Derzhavina empfehlen, wählen Sie selbst - und versuchen Sie durchaus mal ein Streaming, wenn Sie die CDs nicht finden. Zugespitzt oder aus dem barocken Rahmen fallend ist keine der beiden Einspielungen. Ich meine, sie müssen sich keineswegs hinter den hochgelobten Interpretationen von Schiff (ECM) und Perahia verstecken.

Wenn Sie im Netz nach der CD von Ekaterina Derzhavina suchen, werden Sie neben dem oben abgebildeten auf zwei weitere Cover stoßen, eines mit einem grünem Schriftbanner und eines mit einer an eine Mauer gelehnten Leiter; in allen Fällen handelt es sich um die gleiche Einspielung aus 1994.

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Wir empfehlen, die folgenden kurz besprochenen Klavier-Aufnahmen der Goldberg Variationen vor einem eventuellen Erwerb erst einmal im Geschäft anzuhören oder zu streamen, z.B. mittels Apple Music.

Die ausführenden Pianisten sind von ihrer Qualität her über jeden Zweifel erhaben, die Einspielungen sind teils erhaben, sicher zudem für manchen von besonderem historischem Interesse, haben aber aufnahmetechnische oder andere Unzulänglichkeiten. "Fans" der Pianisten oder "Sammler" (ja, die gibt`s!) werden natürlich dennoch zugreifen.

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Goldberg-Variations-Alexis-Weissenberg_1961
Goldberg-Variations---Alexis-Weissenberg-81

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Der bulgarisch Pianist Alexis Weissenberg hat die Variationen zweimal aufgenommen, und zwar 1966 (Coverbeispiel oben links) und erneut 1981 (Coverbeispiel oben rechts). Er hatte in den Nachkriegsjahren den Ruf eines Tastenartisten und wurde deshalb oft mit Glenn Gould und Vladimir Horowitz verglichen. In seiner Kindheit hat er als Jude Vertreibung und Flucht erlebt, später dann eine ernste Krankkeit, die ihn nicht mehr konzertieren ließ.

Beide Einspielungen der Goldberg Variationen entstanden für EMI und wurden zunächst auf jeweils zwei LPs veröffentlicht. Wenn Sie Cover im Netz sehen, auf denen ein Porträt des Pianisten zu sehen ist, gehören die zu einer der beiden Doppel-LPs. Beide LP-Ausgaben lassen sich antiquarisch für wenig Geld erwerben.

Von den Übertragungen auf CD existieren diverse Ausgaben mit ganz unterschiedlichen Covers, die oft nicht verraten, um welche Einspielung es sich handelt. Im aktuellen JPC-Katalog wird gar keine CD-Einspielung Weissenberg`s mehr angeboten, über Amazon, Ebay, Medimops etc. kann man aber problemlos alle "Spielarten" finden. Für weitere Informationen eignet sich insbesondere "Discogs" (https://www.discogs.com), eine Website, die ich ohnehin allen Interessierten an historischen, heute nicht mehr neu im Handel erhältlichen Aufnahmen empfehle. Dort kann man kaufen, verkaufen und seine eigene Sammlung katalogisieren.

Die 1966er Einspielung ist sehr zugespitzt, wollte sich ganz offenbar von Gould abheben, hat viele ungewöhnliche Manierismen und einen engen etwas metallischen, teils sogar leicht verzerrten Klavierklang. Das Instrument klingt eher nach einem Zimmerklavier als nach einem Konzertflügel.

Weissenberg hat möglicherweise nicht zuletzt deswegen 1981 eine Neueinspielung vorgelegt. Man kann nachlesen, dass er selbst mit dieser Neuinterpretation nicht zufrieden war, näheres ist mir nicht bekannt. Immerhin hat er im Juni 1981 in einer Pariser Konzerthalle 4 Tage lang aufgenommen, eigentlich ungewöhnlich für ein Stück, das heute "en bloc" vorgetragen wird und keine 1 1/2 Stunden dauert. Vielleicht gab es aber bereits erste krankheitsbedingte Probleme.

Beide Einspielungen haben Stärken, ich ziehe sie zu Vergleichszwecken immer wieder heran. Interessant ist, dass die Spieldauer von 77:53 Minuten in 1961 fast identisch ist mir der von 1981 (78:23 Minuten). Mindestens in diesem Punkt hatte sich Weissenberg`s Ansatz also in den Jahren nicht verändert. Und das, obwohl es ja ursprünglich bei beiden Aufnahmen (für jeweils 2 LPs) mit Sicherheit kein "Zeitbudget" gab. Oder sollten aus Qualitätsgründen bewusst nicht mehr als 20 Minuten Musik auf eine Plattenseite gepresst werden?

Interessant ist, dass viele heutiger Interpretationen auf Piano mit um die 78 Minuten eine ähnliche Aufführungsdauer aufweisen. Bei Weissenberg ist es aber nichts als Zufall, dass die digitalisierten Aufnahmen auf eine einzelne moderne CD passen.

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Goldberg Variationen Grigory Sokolov

Von Grigory Sokolov existiert eine 1982er Liveeinspielung aus dem Großen Saal des Leningrader Konservatoriums. Ursprünglich auf 2 LPs veröffentlicht wurde das Konzert später (unter Beigabe von 7 kleineren Bach-Stücken, die höchstwahrscheinlich "Zugaben" waren) auch auf 2 CDs herausgegeben. Sowohl die LPs als auch die CDs sind nur schwer zu beschaffen und erzielen Sammlerpreise. Das Konzert lässt sich aber streamen, z.B. bei Apple Music (iTunes).

Der Klavierklang ist nach heutigen Maßstäben unzureichend eingefangen, zudem gibt es zahlreiche wirklich fürchterliche Huster im Publikum, verständlich bei einer Liveaufnahme aus Russland im Monat Februar.

Die Einspielung der GV mit allen Wiederholungen dauert 86 Minuten, Sokolov nimmt sich Zeit, ohne jemals "schleppend" zu spielen. Rubati und andere Tempovariationen lässt er außen vor, beachtet aber - soweit wir das nachvollziehen konnten - bei aller Schnörkellosigkeit sämtliche Bach`schen Anweisungen. Sein Anschlag ist höchst kultiviert, differenziert, nie affektiert, immer im Dienst der Partitur. Sokolov ist einer der großen noch lebenden und immer noch Konzerte gebenden Virtuosen unserer Zeit, tritt aber (wie stets) ganz hinter das Werk zurück, und das auch bei den kraftvoll interpretierten Bravourstücken.

Eine pianistisch tadellose, werkgetreue und erfrischend nüchterne Einspielung. Nur der mulmige Klang des Klaviers, Eingriffe des Technikers bei den Pausen (wenn auch weniger gravierend als bei Barenboim), eigenartige Nebengeräusche und die teils wirklich nicht akzeptablen Huster stören erheblich. Nun wissen wir aber alle, dass es von Sokolov auch künftig keine Studioeinspielungen geben wird. Wer die GV von ihm besitzen möchte, muss also hier zugreifen. Von der Interpretation her gesehen würde er mit dem Kauf keinen Fehler begehen. Ähnliche Herangehensweisen (wenn auch mit leicht forcierterem Tempo) findet man alternativ in den dann auch technisch blitzsauberen Studioaufnahmen von Markus Becker, Igor Levit und Lars Vogt.

Mithin eine Einspielung vor allem für Anhänger von Grigory Sokolov.

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Goldberg Variationen Daniel Barenboim

Von Daniel Barenboim gibt es eine 1991er Liveeinspielung der GV aus dem Teatro Colón in Buenos Aires. Die Darbietung dauert mit allen Wiederholungen 80 Minuten und wurde (wie damals üblich) auf 2 CDs verteilt. Leider kamen etliche störende "Huster" mit aufs Band, zudem klingt das Klavier oftmals insbesondere in den Höhen verzerrt, als wäre es bei der Aufnahme übersteuert worden. Zwischen einzelnen Variationen macht Barenboim Pausen, bei anderen Variationen schließt sich die nächste Nummer unvermittelt an. Als störend empfinde ich zudem, dass später "Pausen" zwischen einzelnen Variationen "herausgeschnitten" wurden, was bein Hören (vor allem mit Kopfhörer) als "Bruch" überkommt, da der Hallenklang plötzlich "abbricht".

Barenboim interpretiert laut und wuchtig (um nicht zu sagen "mit Brachialgewalt"), oft spielt er die Takte 1-8 und 17-24 lauter als die Takte 9-16 und 25-32, ein Stilmittel, über das man streiten kann. In einigen Variationen betont er die linke Hand bzw den Bass, diese Stücke entfalten dann schon einen besonderen Reiz, besonders dort, wo Bach "Staccato" vorgeschrieben hat. Die Var. 25 lässt er allerdings unangetastet, hier hört man nur Bach, keinen Barenboim.

Als großer Bewunderer dieses Ausnahmekünstlers darf ich mir vielleicht doch einen persönlichen Eindruck erlauben: Barenboim war an diesem Abend wenig inspiriert. Der Interpretation fehlt zudem etwas Delikatesse, etwas Glanz.

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Rosen Goldberg

1967 eine Aufnahme der Goldberg Variationen auf dem Piano einzuspielen bedeutete, sich mit Glenn Gould`s Interpretation aus 1956, Rosalyn Tureck`s "Anti-Gould-Aufnahme" von 1957 und der ersten (1966) von zwei Einspielungen Weissenberg`s auseinanderzusetzen, denn seitdem waren weiterhin nur noch die Cembaloaufnahmen von Walcha und Kirkpatrick erschienen. Charles Rosen hat 1967 (veröffentlicht 1969) eine sehr einfühlsame Deutung des Werkes vorgelegt, ganz und gar ohne aufgesetzte Effekte, nahezu lyrisch, könnte man sagen und dabei vermuten, dass sich Mancher an einer gewissen "Romantisierung" gestört haben mag. Uns erinnert seine Einspielung sehr an die nur kurze Zeit später von Kempff vorgelegte.

Rosen`s Erstausgabe "füllte" 3 LP-Seiten einer LP-Box mit späten Bachwerken. Er spielt (wie Walcha, Kirkpatrick und später andere) alle Reprisen bis auf die der Aria da Capo. Ob das einer künstlerischen Auslegung der an sich von Bach ja ganz klaren Ansage entspringt, die Aria so zu wiederholen, wie sie zu Beginn des Werkes erklingt, mag man bezweifeln. Unter Beachtung der Wiederholungsvorschrift wäre die dritte Plattenseite über 27 Minuten lang geworden, was man damals wohl vermeiden wollte. Bei Beachtung der Reprisen hätten allerdings heute die 78:10 Minuten gut auf eine CD gepasst, so sind es 75:50 Minuten. Diese Bemerkung bitten wir aber nicht anders als "Randnotiz" zu verstehen.

Unseres Erachtens ist die gefühlvolle Einspielung von Charles Rosen eine in sich stimmige, runde und nach wie vor hörenswerte Deutung des Werkes. Sehr interessant ist das extrem langsame Tempo, mit dem Rosen an die Ouverture herangeht. Würde ein barockes Tanzpaar dazu "schreiten" müssen, sähe das aus wie bei der Wachablösung vor dem Buckingham Palace.

Wie nicht anders zu erwarten, ist der Klavierklang dieser 1967er Einspielung gegenüber dem heutigen Standard etwas eng, manchmal darüberhinaus auch etwas spitz; der Aufnahmeraum (wahrscheinlich ein Studio) scheint bewusst ziemlich "schalltot" zu sein. Trotzdem ein Aufnahme, die es lohnt, angehört zu werden, und sei es nur zu Vergleichszwecken. Mancher wird erstaunt sein über den Unterschied zu Einspielungen heutiger junger Pianisten/Pianistinnen, die - zumindest uns - als oftmals zu schnell, "aufgesetzt", ja "hölzern" erscheinen, vgl. etwa Ingrid Marsoner aus 2012 mit ihrem "Geschwindritt". Bachs Goldberg Variationen, wohl "ein weites Feld", frei nach Fontane.

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Die Goldberg Variationen als Konzertfilm auf DVD/BR oder im Stream

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Ragna Schirmer Goldberg

Cover der DVD 2020 mit Audio-CD

Ragna Schirmer beschert uns während des Lockdown eine Life-Neueinspielung der Goldberg Variationen. Sie lässt am 1.11.2020 im Steintor-Varieté Halle das letzte Konzert einer Aufführungsserie vor nicht mehr als 30 erlaubten Zuhörern in Bild und Ton festhalten, bevor ab dem Folgetag alle weiteren Veranstaltungen verboten werden. Teils hat sie pro Tag bis zu 5 Vorstellungen gegeben, vor jeweils nur 30 zugelassenen Hörern. 30 Variationen für 30 Menschen!

Das ist schon Ragna Schirmers zweite Einspielung der Goldberg Variationen, die erste hat sie 1999 aufgenommen und 2000 als ihr Plattendebut veröffentlicht. Vergleichen Sie die Cover, vergleichen Sie aber vor allem die musikalische Darbietung in Bild und Ton: Welch` ein Reifeprozess auf allen Ebenen, welch` eine "Veränderung"! Irgendjemandem war das wohl nicht ganz geheuer, jedenfalls wurde das Originalcover der 1999er CD kürzlich durch ein portraitloses grafisches Design ersetzt (s.u.).

Schirmer-GV-1999

Ragna Schirmer GV Audio-CD 1999 Originalcover

Natürlich liegen mehr als 20 Jahre zwischen diesen beiden Einspielungen, Jahre einer kontinuierlichen künstlerischen Weiterentwicklung, deren (Zwischen?)-Ergebnis nun vorliegt. Schirmer berichtet uns, dass sie schon als Kind die Goldberg Variationen technisch fehlerfrei spielen konnte und sich deshalb bei jeder neuen Aufführung nur noch der musikalischen Aussage widmen musste.

Die oben abgebildete Box beinhaltet neben der DVD auch eine CD. Sie können entscheiden, ob Sie "sehen und hören" oder nur "hören" wollen. Ich rate Ihnen, beide Alternativen zu ergreifen. Ragna Schirmer spielt beseelt, ohne jegliche Allüren, wohl sogar ohne die Zuhörer überhaupt wahrzunehmen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie sich in eine Art Trance hineingespielt hat.

Wenn die Goldberg Variationen von Bach wirklich als eine Ode an Schöpfer und Schöpfung, als eine Preisung des Lebens mit allen Höhen und Tiefen gedacht waren, dann hat Ragna Schirmer das alles begriffen, verinnerlicht und perfekt umgesetzt. Selten nur erfasst mich der Glaube, nein die Gewissheit, dass es einem Pianisten / einer Pianistin nicht mehr um Noten und Töne, sondern nur noch um die Botschaft geht. Bei Ragna Schirmer ist das genau so eingetreten.

Ragna-schirmer-GV-Cover-grafisch

Ragna Schirmer GV Audio-CD 1999 Neues Cover

Hat Ragna Schirmers 1999er Einspielung noch etwas akademisch geklungen, emotional eher zurückgenommen, auf absolute Durchhörbarkeit zielend und natürlich auf absolute Fehlerfreiheit, wie sie bei einer "Debut-Studioproduktion" verlangt wird, so ist ihre Live-Interpretation aus 2022 lebendig, lebensbejahend, differenzierter, den Charakter der einzelnen Variationen aufspürend und exakt nachzeichnend, mit einem Wort gelöster und nach meinem Verständnis "barocker". Es macht offenbar einen Unterschied, ob ich als junger Musiker mein Debut auf Tonträger abliefere (abliefern muss), oder ob ich als schon längst etablierter Künstler meine durch eigene Lebenserfahrung geprägte Sicht eines Stückes mitteile.

Mit ihrer Herangehensweise Ende der 90er Jahre hat sie Preise gewonnen (den Bachpreis gleich zweimal), sicher auch gewinnen wollen, das ist nun nicht mehr ihr Ziel. Klar, sie spielt für uns, für ihr Publikum, aber wenn Sie ihrem Spiel zuschauen, ihre Mimik verfolgen, dann werden Sie uns zustimmen: Sie spielt zu einem guten Teil für sich selbst.

Bei absoluter Vergleichbarkeit beider Interpretationen (alle Variationen ausser der Aria da capo werden wiederholt) braucht Ragna Schirmer heute glatte 10 Minuten weniger für das Werk. Nie aber stellt sich der Eindruck von Eile ein. Zwischen manchen Variationen legt sie sogar bewusst Pausen ein.

Die technische Aufnahmequalität hinsichtlich Bild und Ton lässt nichts zu wünschen übrig. Der Bösendorfer Grand Imperial klingt warm und voll, der Raumklang wird gut abgebildet. Die Kameraführung ist ruhig, wir sehen mal das Gesicht, mal ein Vollbild, mal die Hände (bei den Passagen mit den 32stel Noten und ineinandergreifenden Fingern).

Im Unterschied zur Interpretation in 1999 erlaubt sich Ragna Schirmer jetzt mehr Modulationen, dynamische Differenzierungen und Rubati, alles aber immer dem Stück angepasst. So interpretiert sie einzelne Variationen „delikat“ (Var. 11), andere laut und üppig (Var. 12).

Wenn Sie die Möglichkeit haben, sehen oder zumindest hören Sie rein in die Variationen 13-15 und 28-30. Es geht auch anders, aber nicht besser. Eine Referenzeinspielung einer "Goldberg-Spezialistin" (wohl wissend, dass ihr Herz auch für die Romantik schlägt).

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Zhu Xiao-Mei DVD

2007 hatte Zhu Xiao-Mei die GV für Mirare schon einmal als CD aufgenommen (61 Minuten). Das nebenstehende Cover gehört zur DVD-Neueinspielung von Xiao-Mei aus 2014 (veröffentlicht 2016), Accentus Music, 76 Minuten. Beide Versionen kann man über Apple Music streamen, den Konzertfilm kann man bei medici.tv anschauen. Der Konzertabend in der Thomaskirche Leipzig (vor Publikum) wurde nämlich gefilmt und (neben der Streamingmöglichkeit) auch als DVD und CD von Accentus Music veröffentlicht. Der DVD beigegeben ist als Bonus ein Film über Xiao-Mei mit Interviews unter dem Titel: "The return is the movement of Tao, Zhu Xiao-Mei and the Goldberg-Variations".

Zhu Xiao-Mei ist eine zurückhaltende Künstlerpersönlichkeit mit vielleicht etwas mehr unguter Lebenserfahrung, als notwendig. Aber wie es in ihren Augen beim Spiel leuchtet, zeigt ihr ungebrochenes inneres Feuer. Und sie hat ihren ganz eigenen Zugang zu Bachs Meisterwerk gefunden. Zumindest einige Variationen klingen anders, als je zuvor gehört. Xiao-Mei geht es weniger um die Melodie, sondern mehr um die komplexe vertikale Architektur.

Das Cover unten links gehört zur CD aus 2007, das Cover unten rechts zur CD aus 2014 (2016), ist also quasi die "Tonspur" der DVD. DVD und CD gibt es nach meinem Wissen (anders als bei Ragna Schirmer) nicht im Doppelpack.

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Xiao-Mei-Goldberg-2007_CD_klein
Xiao-Mei-2017-Cd-Goldberg_klein

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Koroliov-Goldberg-DVD

Konzertmitschnitt von Evgeni Koroliov auf DVD (Cover links) im Gewandhaus Leipzig beim Leipziger Bach-Fest 2008. Das Konzert lässt sich als Video über medici.tv und auch bei youtube streamen. Nach meinem Wissen ist die Einspielung bisher nicht als CD verfügbar.

Koroliov hatte aber bereits 1999 die GV auf CD eingespielt, siehe unten.

Text folgt

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Koroliov-GV-CD

Evgeni Koroliov auf CD
Das Cover der Doppel-CD links zeigt Koroliov`s 1999er Einspielung aus der Festeburgkirche Frankfurt mit einem schönen Klavier- und Raumklang. Koroliov war hörbar tief inspiriert. Die Aufnahme lässt sich per Apple Music streamen. Sie dauert 85 Min. unter Beachtung aller Reprisen.

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Goldberg Angela Hewitt

Auf eine Einspielung von Angela Hewitt aus der Thomas Kirche Leipzig 2022, die man auch als Konzertfilm streamen kann, gehen wir weiter unten ein, wenn es um die über Streaming-Portale erhältlichen Videos geht. Nach unserem Wissen gibt von diesem Konzert keine DVD oder CD.

Es gibt aber neben einer älteren Einspielung aus 1998/1999 eine Aufnahme auf CD von 2015/2016 (Hyperion, 82:14, Fazioli Flügel, Christuskirche Berlin Oberschönweide, alle Wiederholungen), Cover der 2015er CD rechts.

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Goldberg Variationen auf Medici.TV
und Primephonic

Als Ergänzung zur obigen Übersichtsarbeit möchte ich noch darauf hinweisen, dass es heute möglich ist, viele Einspielungen zu streamen, und zwar als Video- und/oder Audio-Datei.

Die meisten von Ihnen werden YouTube kennen, Amazon Music, Spotify oder iTunes. Diese Portale stellen allerdings Musik (auch bei der kostenpflichtigen Version) nur in komprimierter, also datenreduzierter Form zur Verfügung. Wer Musik unkomprimiert hören will, etwa über die HiFi-Audio-Anlage, wählt meist andere Platformen, etwa Qobus, Deezer oder Tidal.

Wer im Wesentlichen Klassik hört, ist bestens bedient mit medici.tv (für Videos) und war bestens bedient mit dem leider gerade "abgeschalteten" primephonic (für Audio). Ab März 2023 gibt es allerdings einen Nachfolgedienst, siehe unten.

Die letztgenannten Dienste sind immer kostenpflichtig. Je nach Abonnement fallen monatliche Kosten zwischen 7,00 und 19,00 € an. Bei allen Streaming-Diensten kann man zunächst ein kostenloses Probehören wählen. Auch zum Test, ob die lokale Internetgeschwindigkeit ausreicht; sie sollte mindestens 20 mbit/s betragen.

Ich empfehle medici.tv für Filme und einen hoffentlich kommenden Nachfolger von primephonic für reines Audio. Primephonic übertrug wahlweise MP3-Dateien oder Flac-Dateien in Auflösungen von 16 bit 41 kHz bis HighRes 24 bit 192 kHz. Als Nachfolge-Plattform soll laut primephonic Apple Music dienen. Und das ist nun auch tatsächlich eingetreten: ab März 2023 hat Apple (iTunes) eine neue App rein für Klassische Musik ins Netz gestellt. Die App entspricht weitgehend dem abgeschalteten „primephonic“ und hat entsprechende komfortablere Suchfunktionen als die bisherige Apple-Musik-App, die es parallel weiter gibt.

Noch ein Hinweis: es ist nicht möglich, HighRes-Einspielungen (mit mehr als 16 bit) von einem Streaming-Empfangsgerät über Bluetooth auf die Musikanlage zu übertragen. Dazu braucht es eine Kabelverbindung, z. B. ein USB-Kabel vom Laptop zum DAC der Elektronik Ihrer Anlage. Aber vielleicht reicht Ihnen ja schon die Qualität einer gehobenen MP3-Datei völlig aus. Dann genügt als Empfangsgerät ein Handy, das die Musik per Bluetooth übertragen kann.

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Hewitt-Goldberg-2021_klein
Hewitt-Goldberg-1999_klein

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Die Goldberg Variationen als Video über medici.tv

Wer bisher keine Gelegenheit hatte, die Goldberg Variationen live und dazu noch nahe am Klavier zu erleben, dem empfehle ich auf medici.tv oder in einer Mediathek insbesondere die Life-Interpretation von Angela Hewitt aus der Thomas Kirche Leipzig (2021). Bedingt durch den Lockdown ist die Kirche allerdings menschenleer.

Neben dem Hören dieser ewig gültigen, lebendigen, aber doch klassisch-durchgeistigten Interpretation ist es ein Genuss, der Pianistin auf die Hände zu schauen - und auch ins Gesicht. Angela Hewitt lebt Bach, in jeder Sekunde. Und man erfährt hautnah, wie schwierig es sein muss, die Variationen auf einem einzigen Manual zu spielen.

Von der Pianistin gibt es eine CD mit den GV aus 1998/1999 (Hyperion, 78:25, Henry Wood Hall, Steinway Flügel, en bloc eingespielt, Aria da capo ohne Wiederholung, Cover oben rechts) und eine Neueinspielung aus 2015/2016 (Hyperion, 82:14, Fazioli Flügel, Christuskirche Berlin Oberschönweide, alle Wiederholungen), deren Cover oben links wiedergegeben ist.

Hewitt`s präsenter, perlender Anschlag ist wunderbar, ihr Spiel ist virtuos, dabei aber stets unaufdringlich. Sie hält die Balance zwischen Emotion und klarer Struktur und wird so nach unserem Dafürhalten Bachs Intentionen absolut gerecht. Sie stellt mit den Einspielungen aus 2015/16 und 2021 ihren Landsmann Glenn Gould weit in den Schatten.

Die 2021er Aufnahme aus der Thomaskirche gibt es nach meinem Wissen leider weder als DVD noch als CD. 82:14 Minuten Musik wären auf einer Einzel-CD auch kaum unterzubringen, woran Angela Hewitt bei ihrem Live-Konzert ganz offenbar nicht gedacht hat bzw. nicht denken musste.

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Die Goldberg Variationen über Streaming-Dienste

Wenn ich beim Verfassen der Übersichtsarbeit noch keinen Zugang zu speziellen, oft historischen Einspielungen hatte, etwa zur Interpretation eines Claudio Arrau, so ist das nun durch Streamen möglich.

Ich gebe nachfolgend eine Übersicht der (seinerzeit!) über primephonic anwählbaren Interpretationen auf Piano und Cembalo, und zwar solche, die nicht oben im Artikel bereits erwähnt wurden. Bewerten kann ich diese Einspielungen nicht. Es ist nahezu unmöglich, die angebotenen ca. 200 Aufnahmen durchzuhören. Die Aufstellung dient allein dem Zweck, Hinweise auf das Vorhandensein der jeweiligen CD zu geben, im Falle, dass man einen ganz bestimmten Künstler/eine Künstlerin sucht und die Aufnahme vor einem eventuellen Kauf hören möchte.

Wenn Sie über Streamingdienste in die Aufnahmen hineinhören, werden Ihnen als erstes äußerliche Unterschiede auffallen. Die Klaviere klingen sehr verschieden, und noch mehr die Cembali, nicht zuletzt durch die diversen Registrierungen. Entscheidenden Anteil an der Wirkung haben die Tontechniker, die teils historische Aufnahmen nahe und präsent, neuere Einspielungen aber dumpf und entfernt klingen lassen können. Der Tontechniker ist nach dem Pianisten die wichtigste Persönlichkeit für das Ergebnis auf LP oder CD.

Dann fallen sofort Unterschiede der Interpretationsweise auf, hier vor allem bei den gewählten Tempi, den Verzierungen und den Rubati. Manche Aufnahmen klingen "streng" und beabsichtigen wohl, "werkgetreu" herüberzukommen. Bei anderen Einspielungen reibt man sich die Augen und fragt sich, ob man gerade ein Stück von Mozart hört.

Wenn Sie urteilen können, was die "richtige" Interpretation dieses Meisterwerks ist, so tun Sie das getrost. Ich beneide Sie darum. Und selbst, wenn wir genau wüssten, wie Bach seine Variationen vorgetragen hat, würde ich persönlich doch viel Raum lassen für heutige Auslegungen. Ich kenne von den 200 Zyklen, in die ich hineingehört habe, keinen einzigen, den ich für "völlig daneben" betrachten würden.

Zum Verständnis der Listen

Die alphabetische Reihenfolge der Interpreten richtet sich nach den Vornamen, wie auf Musikplatformen üblich. Danach ist der Musikverlag (Label) angegeben.

Die von "primephonic" angegebene Jahreszahl entspricht dem Veröffentlichungsdatum der CD, deren Daten gestreamt werden. Das Aufnahmedatum kann davon erheblich abweichen. So wird bei Claudio Arrau 2016 angegeben, die Einspielung erfolgte aber bereits 1942, wurde jetzt allerdings erstmals 1982 in remasterter Form wieder veröffentlicht.

Von einzelnen Interpreten finden sich mehrere verschiedene Einspielungen. Ich habe in diesen Fällen die jüngste Aufnahme in die Liste übernommen.

Goldberg Variationen auf Cembalo über primephonic:

Aline Ratkowska Sarton Records 2011
Anne-Catherine Bucher Naxos 2019
Anthony Newman 903 Records 2012
Avner Arad MSR Classics 2010
Blandine Rannou Zig Zag Territoires 2010
Blandine Verlet Naive 2012
Céline Frisch Alpha 2001
Charlotte Mattax Moersch Centaur Records 2019
Chiara Massini Pan Classics 2020
Christiane Jaccottet Denon 2009
Christine Schornsheim Capriccio NR 2016
Christophe Rousset Decca 1994
Colin Booth Magnatune 2011
Davide Pozzo Pan Classics 2017
Diego Ares Harmonia mundi 2017
Elisabetta Guglielmin OnClassic 2021
Erich Traxler Paladino Music 2020
Fabio Bonizzoni Glossa 2005
Frédéric Haas La Dolce Volta 2010
George Malcolm Universal Music Australia 1961
Glen Wilson Naxos 2010
Gösta Funck Classic Concert Records 2011
Gustav Leonhard Harmonia mundi 1978
Hans Pischner Berlin Classics 2014
Helena Jank Kalamata 2011
Ignacio Prego Glossa 2016
Janine Johnson Magnatune 2006
Joel Pontet Saphir Productions 2012
John Metz Soundset 1998
Jörg Ewald Dähler Claves Records 1986
Jory Vinikour Delos 2000
Joseph Payne BIS 1991
Jozsef Gat Hungaroton 2014
Karl Richter Deutsche Grammophon 1995
Ketil Haugsand Simax Classics 2002
Lisa Goode Crawford Centaur Records 2008
Luc Beauséjour Analekta 1997
Luca Guglielmi Stradivarius 2012
Malcolm Archer Convivium Records 2021
Marcin Swiatkiewicz Rubicon 2020
Masaaki Suzuki BIS 1997
Matthew Halls Linn Records 2010
Michael Tsalka Paladino Music 2020
Millicent Silver Post Classics 2009
Pascal Dubreuil Ramée 2016
Peter Watchorn Musica Omnia 2021
Pierre Houtai Naive 2013
Pieter Dirksen Etcetera 2010
Pieter-Jan Belder Brilliant Classics 2017
Ralph Kirkpatrick Deutsche Grammophon 2000
Richard Egarr Harmonia Mundi 2006
Robert Hill Music + Arts Programs of America 2011
Roberto Loreggian Dynamic 2018
Rozsa Farkas Hungaroton (2 Cembali) 2014
Sergio Vartolo Tactus 2012
Sungyun Cho Passacaille 2016
Susanne Hartwich-Düfel Hartwich-Düfel 2010
Ton Koopman Warner Classics 1984
Trevor Pinnock Archiv 2003
Valeria Petersburgskaya RCD Music 2002
Wladyslaw Klosiewicz CD Accord 2010
Wolfgang Rübsam Naxos 2018
Yoshiko Leki Regulus 2018

Goldberg Variationen auf Klavier über primephonic:

Aapo Hakkinen Alba 2013
Alexander Gurning Avanti Classic 2011
Alexander Paley Haenssler Classics 2004
Alexandre Tharaud Erato/Warner Clssics 2015
Alexis Weissenberg Warner Classics 2001
André Parfenov Naxos 2019
Andrea Bacchetti Dynamic 2012
Andrea Padova Stradivarius 2014
Andrei Gavrilov Deutsche Grammophon 1992
Andrei Vieru Harmonia Mundi 1998
Antoni Beses Edicions Albert Moraleda 2010
Audun Kayser Bergen Digital 1998
Beatrice Rana Warner Classics 2017
Beth Levin Centaur Records 2008
Bob van Asperen Warner Classics 2012
Cédric Pescia Claves Records 2004
Charles Rosen Sony Classical 1969
Chih-Long Hu Blue Griffin Recording 2017
Chiyan Wong Linn Records 2021
Claudio Arrau Sony Classical (Remastert 2016) 1942
Claudio Colombo IMD-Claudio Colombo 2020
Colin Noble Centaur Records 2011
Daniel Propper Skarbo 2013
Daniel-Ben Pienaar Avie Records 2011
David Jalbert Atma Classique 2012
Diana Boyle Divine Art 2017
Dong Hyek Lim Warner Classics 2008
Ekaterina Dershavina Arte Nova Classics 2004
Evgeni Koroliov Haensler Classic 2000
Francesco Tristano Schlimé CD Accord 2010
Geoffrey Douglas Madge Zefir Records 2020
Giovanni Mazzocchin On Classical 2017
Grete Sultan Wergo 2013
Grigory Sokolov JSC Firma Melodiya 2012
H-K Juhn MSR Classics 2006
Igor Levit Sony Classical 2015
Ingrid Marsoner Gramola Records 2012
Irina Zahharenkowa Classic Records 2010
Irma Issakadze Oehms Classics 2008
Isidro Barrio Deutsche Grammophon 1996
Jean Muller Haenssler Classics 2017
Jeno Jando Naxos 2005
Jeremy Denk Nonesuch 2013
Jimin Oh-Havenith Musicaphone 2020
Jörg Demus Musical Heritage Society 1970
Julia Cload Meridian Records 2009
Konstantin Lifschitz Denon 2009
Lars Vogt Ondine 2015
Lilia Boyadjieva Centaur Records 2019
Lori Sims Two Pianists 2015
Mahan Esfahani Deutsche Grammophon 2016
Maria Perrotta Universal Music Italia 2014
Maria Tipo Warner Classics 2007
Maria Yudina Russian Compact Disc 1999
Markus Becker CPO 2000
Mia Chung Channel Classics Records 1999
Minsoo Sohn Honeus 2012
Miquel Villalba Aglae Musica 2015
Monica Leone Pro Classica 2006
Nicholas Angelich Warner Classics 2011
Nick van Bloss Nimbus Alliance 2011
Peter Hill Delphian 2018
Peter Serkin Sony Classical 1965
Pietro Soraci Da Vinci Classics 2019
Pi-Hsien Chen Naxos 1988
Piotr Slopeck DUX 2013
Ragna Schirmer Berlin Classics 2000
Ramin Bahrami Universal Music Italia 2004
Reiko Fujisawa Quartz Music 2018
Remi Masunaga Bayard Musique 2011
Ronald Hawkins MSR Classics 2009
Rosalyn Tureck Deutsche Grammophon 1999
Sachiko Kato Centaur Records 2012
Sachiko Kawamura Claudio Records 2014
Simone Dinnerstein Concord Records 2007
Stepan Simonian Clavi-Music 2017
Steven Devine Chandos 2011
Tatiana Nikolayeva Bluebell 2012
Tzimon Barto Capriccio NR 2015
Victor Ginsburg Classical Records 2018
Virginia Black Collins Classics 1991
Won-Sook Hur DUX 2019
Yuan Sheng Piano Classics 2017
Zhu Xiao-Mei Accentus Music 2016

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Loussier

Die Goldberg Variationen auf anderen Instrumenten

Sie finden über diverse Streamingdienste auch zahlreiche Adaptationen der Goldberg Variationen für andere Soloinstrumente, Duette, Trios, größere kammermusikalische Ensembles oder Orchester.

Zudem haben Rock und Pop zugegriffen und nicht zuletzt hat sich beispielsweise auch Jacques Loussier mit seinem Jazz-Trio ihrer bemächtigt. Und warum denn nicht. Irgendwie schwebt die Musik von Bach (oder ist es gar des Meister Seele selbst?) ohnehin über allem, oder um es salopp zu sagen, sie ist durch nichts und niemanden kaputt zu kriegen.

Spannend sind Einspielungen auf der Orgel (z. B. von Hansjörg Albrecht, Robert Costin und Elena Barshai), auf dem Akkordion (z. B. von Lena Rist-Larsen und Theodoro Anzelotti) und auf der Harfe (z. B. von Parker Ramsay und Sylvain Blassel).

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Anfang 2023 muss ich an dieser Stelle noch anmerken, dass es den Dienst "primephonic" leider nicht mehr gibt. Die erfassten Stücke sollen in Apple Music (früher iTunes) integriert werden. Seit März 2023 gibt es nun bei Apple eine neue App allein für Klassische Musik. Wie gut das neue Streaming-Programm gelungen ist, habe ich noch nicht letztlich überprüft. Aufgefallen ist mir allerdings, dass Apple inzwischen bei vielen Titeln verlustfreie Steaming- und Downloadmöglichkeiten anbietet bis hin zu sogenannten "Hi-Res-Lossles"-Formaten. Die bei einer evtl. Bluetooth-Übertragung systembedingten Einschränkungen bleiben aber auch dann bestehen.

Vergleich verschiedener Interpretationen

Wenn Sie Interpretationen verschiedener Künstler vergleichen wollen, würde ich jeweils die Aria und folgende Variationen anspielen: Variation Nr. 1 (schneller Tanzrhythmus im 3/4 Takt einer Courante), Nr. 13 mit der tröstenden Melodie, Nr. 14 (mit Pralltrillern und flirrenden Zweiunddreißigsteln), Nr. 16 (wunderbare Läufe und punktierte Rhythmen), Nr. 25 (nach Landowska die "schwarze Perle" der Variationen, ein todtrauriges Stück), Nr. 26 (mit virtuos-schnellem 18/16-Takt) und Nr. 29 (eine Art vorweggenommenes "Finale" mit gehämmerten beidhändigen Akkorden). Sie bekommen dabei rasch einen Überblick, wie der Künstler an getragene, gefühlsschwere, aber eben auch bravouröse Stücke herangeht. Und dann, dann müssen Sie sich wohl entscheiden...

Oder Sie kommen zu der Überzeugung, dass die Variationen doch nicht Ihr Gemüt ergötzen, warum auch immer. Und damit wären Sie nicht allein. Mancher Zeitgenosse kann mit Barockmusik und speziell dem Goldberg-Zyklus nichts anfangen. Das ist übrigens nicht neu. Köstlich die Beschreibung in E. T. A. Hoffmanns 1814 erschienener Erzählung "Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden" über das Unvermögen weiter Teile der Biedermeier-Gesellschaft, große Kunst und Musik zu verstehen. Im Anschluss an die misslungene Gesangsdarbietung der völlig unmusikalischen Töchter des Gastgebers greift Kreisler in die Tasten. Bei seinem Vortrag der Goldberg Variationen aber leert sich nach und nach der Salon, und wenn nicht der musikverständige Diener durchgehalten hätte, wäre der Pianist beim Quodlibet schließlich ganz allein gewesen. So aber lässt er sich, unterstützt von einigen Gläschen roten Weines, sogar noch zu weiteren Klavier-Fantasien anregen.

Wenn diese Geschichte (sie ist ja eher eine Persiflage) nicht wahr ist, so ist sie doch wieder einmal gut erfunden und steht Forkel`s zu Beginn unseres Überblicks zitierten Anekdote in nichts nach.

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Barock

Neugierig wäre ich auf die Einspielung von Edwin Fischer ("nicht ich spiele, es spielt") und Wilhelm Backhaus. Allein, sie stehen mir nicht zur Verfügung, sind wohl zur Zeit nicht erhältlich und lassen sich auch nicht streamen.

Lohnend ist es, in die vielleicht aber doch etwas zu ungestüme Sturm und Drang-Darbietung von Alexandre Tharaud (mit teils verschwimmenden Tönen) hineinzuhören. Und natürlich gibt es noch dutzende weiterer Aufnahmen, die ich nicht kenne, die aber - folgt man den (natürlich subjektiven) Kritiken - auch ihre Meriten haben. Kein Cembalist oder Pianist kann die Goldberg Variationen spielen, ohne sich zuvor intensiv mit ihnen auseinanderzusetzen und ein eigenes Spielkonzept zu erarbeiten.

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UNSERE REFERENZ-EINSPIELUNGEN ALS HÖREMPFEHLUNG

Nachfolgend nennen wir Ihnen auf der Basis der oben besprochenen Interpretationen je vier Cembalo- und Konzertflügel-Einspielungen der Goldberg Variationen, die zwar eine gewisse Bandbreite abdecken, den "klassischen" Rahmen aber nicht völlig sprengen. Anschließend machen wir Ihnen einige weitere Hörvorschläge, die auch vor zugespitzten Deutungen nicht zurückschrecken.

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Die Referenzen auf Cembalo:

Zusammenfassend empfehlen wir als Referenz ganz und gar authentischer Cembalo-Interpretationen die Aufnahme von Helmut Walcha, die Einspielung von Gustav Leonhard aus 1978, die Interpretation von Jory Vinikour und die opulente Darbietung von Andreas Staier.

Leonhard klein GV
Vinikour klein GV
Walcha klein GV
Staier-GV-klein

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Die Referenzen auf Konzertflügel

Als Referenzen der Einspielungen auf Konzertflügel empfehlen wir den ECM Live-Mitschnitt von András Schiff, die Aufnahme von Murray Perahia, die Einspielung von Lars Vogt und die CD aus der DVD/CD Ausgabe von Ragna Schirmer 2021. Sie finden die jeweiligen Besprechungen oben in der Übersicht.

Perahia-klein-GV
Lars-Vogt-klein-GV
Schirmer-GV_klein
Schiff-klein-GV

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Hat man sich mit diesen Referenzen ausführlich auseinandergesetzt, kennt man das Werk wahrscheinlich auswendig und kann sich gelassen anderen Interpretationen zuwenden.

Hören Sie dann z.B. erst Wilhelm Kempff und dann Lang Lang, erst Keith Jarrett und danach Mahan Esfahani, erst Angela Hewitt und dann Víkingur Ólafsson, erst Trevor Pinnock und dann Jean Rondeau, erst Glenn Gould (1982) und dann Martin Stadtfeld - es werden sich immer wieder ganz neue Welten auftun.

Wenn ich wirklich wählen müsste, würde ich mich für eine Einspielung auf Cembalo entscheiden. Die Töne perlen einfach schöner, haben sie doch (zumindest als Studioaufnahme) nicht den klaviertypischen Nachhall. Und durch die mittels der Register möglichen Klangfarben wirkt die Musik reicher, dem Barock gemäßer. Das gleicht die Tatsache aus, dass man auf dem Cembalo nicht "dynamisch" spielen kann. Doch das hatte Bach ja "notgedrungen" in seiner Komposition bereits berücksichtigt.

Auch scheint eine Klavierinterpretation zu schnellerem Spiel zu verleiten, jedenfalls spielen alle Pianisten deutlich schneller als die Cembalisten. Für die Variation 26 (zugegeben mit den 32tel-Läufen ein zu virtuosen Eskapaden verleitendes Stück) benötigen Walcha und Pinnock (Cembalo) 2:30 bzw. 2:16, Schiff und Lang Lang (Klavier) 2:05 bzw 1:46 Minuten (jeweils mit allen Wiederholungen). Nur Staier ist auf seinem Cembalo mit 2:01 Minuten ähnlich rasant. Beim Vergleich der Interpretationen ohne Wiederholungen benötigen Jarrett und Leonhardt auf Cembalo 1:19 bzw. 1:13 Minuten, Gould und Stadtfeld auf Klavier 0:52 bzw. 0:53 Minuten.

Wenn Sie mir eine ganz persönliche Meinung gestatten: Die Goldberg Variationen brauchen diese Rasanz der Pianisten nicht, ganz im Gegenteil verlieren sie durch eine z. T. abenteuerliche Geschwindigkeit viel von ihrer Schönheit, Weite und Erhabenheit.

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Ein Kollege, Dr. Rudolf Kasparek aus Aachen hat mich kürzlich auf ein Zitat des Philosophen Emil Cioran zur Wirkung der Goldberg Variationen aufmerksam gemacht:

"Wir überlassen uns dem Echo, das sie in uns geweckt haben. Nichts existiert mehr, ausgenommen eine inhaltlose Überfülle, wohl die einzige Art, mit dem Höchsten in Berührung zu kommen."

Kann es ein besseres Schlusswort geben?

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Die Bilder und Illustrationen dieser Übersicht wurden den Covers und Booklets der besprochenen CDs entnommen.

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