Yes - Mirror to the Sky

Mirror to the Sky

Unsere Betrachtungen der 2022 (während der ausklingenden Pandemie) eingespielten und 2023 veröffentlichten CD/LP „Mirror to the Sky“ richten sich nicht so sehr an Kenner oder gar Fans der seit 1968 bestehenden Gruppe, sondern an alle entdeckungslustigen und unvoreingenommenen Musikfreunde, die Yes und deren jahrzehntelange Karriere nicht im einzelnen verfolgt haben.

Die Band wurde anfangs unter dem Etikett „Progressiver Rock“ gehandelt, wie etwa Emerson, Lake und Palmer, nur nicht so klassisch adaptiert und keyboardlastig, oder wie die frühen Pink Floyd, nur nicht so psychedelisch angehaucht und bombastisch inszeniert. Einige Yes-Alben aus den 70er Jahren haben noch heute Kultstatus. Dann kam es zu Zerwürfnissen, Ausstiegen, Neueinstiegen und Wiedereinstiegen von Mitgliedern, mancherlei Trennungen und Wiedervereinigungen, ja es gab zeitweise sogar 2 unterschiedlich besetzte Bands, die den Namen „Yes“ beanspruchten, wobei 2016 tatsächlich alle 8 Musiker beider Gruppen in die „Rock`n`Roll Hall of Fame“ aufgenommen wurden.

In der Formation, die jetzt „Mirror to the Sky“ vorlegt, befindet sich keines der 5 Gründungsmitglieder mehr, (von denen bereits zwei verstorben sind). Kontinuität aber wird durch Steve Howe (Gitarre, Gesang) aufrechterhalten, der immerhin seit 1970 dabei ist.

Uns hat das Etikett „Progressiver (Prog)-Rock“ nie gefallen, wir haben vielmehr die Bezeichnung „Art Rock“ bevorzugt, sofern man unbedingt eine Schublade brauchte. Auch die neue Produktion ist eher "nicht-radiotaugliche" Kunst als ein Konsumobjekt, mit ihrer oft kammermusikalisch anmutenden Instrumentierung, den Tonart-, Tempo- und Rhythmuswechseln und ihrer trotz aller Eindringlichkeit zurückgenommenen Noblesse. Dazu kommen Spielzeiten einzelner Tracks von fast 1/4 Stunde. Wer wirklich eine Einordnung braucht, dem schlage ich als Genre "Chamber Rock" vor.

Wesentlich geprägt wird der Gesamteindruck durch die hohe (Kopf-)Stimme von Jon Davison, die einem Countertenor zur Ehre gereichen würde und die exquisite, aber nie aufdringliche Saitenarbeit von Steve Howe, der sicher einer der besten noch lebenden Rockgitarristen ist. Die ersten Takte des Openers werden durch eine Solovioline angestimmt, man ahnt da bereits, dass es spannend wird; und tatsächlich wird die Band durchgehend sehr dezent und eher im Hintergrund begleitet durch ein Streichorchester.

Die Texte der Songs werden oft von langen rein instrumentalen Intros und Outros eingerahmt, sind aber nicht minder wichtig, zeugen sie doch vom Wissen um die Fragilität des Menschen, aber zudem von dessen Potenzial. Auch Eingriffe in die Natur sind ein Thema; so ist Jon Davison die Idee zum Opener „Cut from the Star“ während eines nächtlichen Besuchs des noch nicht "lichtverschmutzten" Joshua Tree National Park gekommen. Man muss sich heute schon weit von jeglicher menschlicher Zivilisation entfernen, um noch den prachtvollen Sternenhimmel bewundern zu können. Das LP-Cover des die Band langjährig begleitenden Designers nimmt diese Inspiration auf.

„Mirror to the Sky“ kommt als Einzel-CD, Doppel-CD, Doppel-LP und Bluray-Disc oder entsprechende (nicht gerade billige) Kombis, wenn man nicht mit einem Streaming zufrieden ist. Für audiophile Analog-Fans ist ganz klar die Doppel-LP erste Wahl, Abmischung, Sound und Pressqualität sind tadellos. Das Album klingt "wie aus einem Guss" gefertigt, obschon die beiden "Amerikaner", also Bassist Billy Sherwood und Drummer Jay Schellen aus den bekannten Gründen ihre Parts in Kalifornien separat einspielen mussten.

Das „riesige“ Booklet mit den vielen Fotos und allen Texten in die Hand zu nehmen, ist purer Genuss. Als Anspieltipp empfehlen wir den 14-minütigen Titelsong, aber auch das hymnische "Luminosity", das melodiöse slidegitarrenverzierte "All Connected", das rhythmisch akzentuierte "Unknown Place" (mit der „Kirchenorgel“ des Keyboarders Geoff Downes!) und den vielleicht größten Song "Circles of Time", ein Stück immerwährender zeitloser Musik, das sich innerhalb der Band in dieser reinen, so einfachen Form gegen andere aufgepepptere Takes durchgesetzt hat.

Am schönsten aber ist es, alle Songs "ensuite", also durchgehend in Form einer Suite „laid back“ an einem lauen Sommerabend zu genießen und dabei seinen eigenen Träumen nachzugehen, um an den Titel des vierten Songs anzuknüpfen. Dann (aber nur dann!) greifen auch wir zur CD oder zum Streaming, um das dreimalige Drehen der LPs zu umgehen.

Wirklich wunderbare Musik, harmonisch, zeitlos, kunstvoll, inspirierend. Fragen Sie aber bitte in diesem Zusammenhang keinen Yes-Fan der ersten Stunde, der monieren wird, die Kapelle klinge so gar nicht mehr wie vor 55 Jahren…