Reinhard Mey - Nach Haus

Nach Haus

Ein ganzes Album besprechen, ja selbst nur ein einziges seiner Lieder, geht das überhaupt, ohne zu viel vom eigenen Inneren preiszugeben, ohne sich vor sich selbst und anderen bloßzustellen? Kann man objektiv bleiben bei einer derart emotionalen, sich in höchst subjektiven und subtilen Worten artikulierenden Kunst?

Ist Reinhard Mey doch als Liedermacher zu allererst Poet, erstellt eigentlich (wie er selbst augenzwinkernd sagt) zuvörderst Hörbücher und macht erst im Nachgang seine Gedichte, seine Geschichten zu Liedern. Auch wenn Mey uns so viele schöne Melodien geschenkt hat, geht doch die inhaltliche textbasierte Aussage immer vor.

Was aber entgegne ich in diesem Zusammenhang einem akademischen Musiktheoretiker, der eine gewisse „Einfachheit“ der Kompositionen konstatiert, wie kürzlich ein befreundeter in barocker Kontrapunktik und raffinierter Polyphonie schwelgender Organist, dem ich „Und der Wind geht allezeit über das Land“ näherbringen wollte. Ich habe mich schnell entschlossen, ihn nicht zu bekehren oder gar auf den so tief berührenden (und leider so ungeheuer aktuellen) Text hinzuweisen, sondern habe lieber den seinen Schüler Wagner belehrenden Faust zitiert:

Wenn ihr`s nicht fühlt, ihr werdet`s nicht erjagen,
wenn es nicht aus der Seele dringt...

Eine Anekdote, nicht mehr. Auch ein Mey kommt nicht mit all‘ ihn umgebenden Tönen und Worthülsen zurecht, wovon er uns mehr als nur ein Lied singen kann. Und klar, Liedermacher haben‘s heute schwer. Manche passen sich sogar bereits wider besseres Wissen an.

Reinhard Mey hat mit Manfred Leuchter seit Jahrzehnten einen Multiinstrumentalisten, Arrangeur und Produzenten an seiner Seite, der aus bewusst einfachen Melodiebögen spektakuläre Feuerwerke machen könnte, sofern gewollt. Mey und Leuchter aber wollten nie, wollen auch diesmal nicht, um den Texten den ihnen gebührenden Vorrang zu lassen, dem Himmel sei Dank. Stattdessen steuern Jens Kommnick und der von uns hochgeschätzte Ian Melrose ihr feines Gitarren-Fingerpicking und einige wehmütige Töne auf der Tin Whistle und Low Whistle bei.

Wenn einer unserer großen deutschen Liedermacher sein aktuelles Album vorlegt, raschelt es im Blätterwald. An den jeweiligen Rezensionen erkennt man leicht, ob der Verfasser eine Ahnung hat, was Mey, Wader und Wecker bewegt, wenn sie uns ihre neuen Lieder schenken.

Ich lese, Mey säge mit seiner neuesten CD/LP „Nach Haus“ an der eigenen Legende. Andere loben die wieder im Vordergrund stehenden gesellschaftspolitischen Bezüge. Einige sprechen von einem „Alterswerk“, wieder andere meinen, Mey klinge so jung und aktuell wie vor 50 Jahren.

Nun wollen Kritiken ja ohnehin nicht als Wertung der kritisierten Sache oder Person, sondern als Selbstspiegelung des Kritisierenden wahrgenommen werden.

Hören Sie also nicht auf andere, auch nicht auf uns, hören Sie stattdessen auf die Texte der ersten 12 Lieder und danach der drei „Zugaben“ und schauen dann, was die vor Ihren Augen entstehenden Bilder mit Ihnen machen, welche Ihrer ureigenen Saiten in Ihnen mitschwingen. Wenn Sie keine Resonanzen, keinen Widerhall verspüren, ist das nicht schlimm. Mey drängt sich keineswegs auf, beansprucht für seine oft leisen Lieder keinerlei Allgemeingültigkeit, will nicht missionarisch überzeugen und schon gar nicht dogmatisch agitieren.

Nein, Mey ist keine Legende, will auch gar keine sein. Dazu müssten ihn andere erst einmal machen, damit wieder andere ihn vom Sockel stoßen könnten. Im Normalfall sind Legenden auch gar nicht mehr unter uns, sie stehen regungslos auf Plätzen, schutzlos Tauben und Hunden ausgeliefert. Solche "Legenden" hat Reinhard Mey - nebenbei bemerkt - in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder besungen.

Mey aber hat seit seiner ersten LP im Jahre 1967 eine ihn völlig unbeirrbar begleitende Zuhörerschaft, die sich - wie er selbst - weder einer Mode beugt, noch Denkmäler braucht. Man kann diesen Menschen in seinen Konzerten begegnen. Die meisten von ihnen haben das erlebt, was er gerade besingt, nur hätten sie selbst es nicht in so eindringliche Worte kleiden, geschweige denn eine Melodie dazu komponieren können. So hilft uns Mey, die kostbarsten unserer eigenen Erinnerungen wach zu halten, wir müssen nur einige Namen austauschen.

Wenn man auf diese 57 Jahre zurückschaut, so haben sich die besungenen Kernthemen kaum verändert, erscheinen aber - je nach Lebensdekade - immer wieder in neuem Licht. Mey singt von keinem Zeitgeist gelenkt über das, was ihn bewegt, oft mit einer derart feinen, geradezu Hüsch`schen Ironie oder dem versteckten Sarkasmus eines Roger Willemsen und Dieter Hildebrand, dass der an RTL und SAT geschulte Konsument solcherlei Untertöne schlicht verpasst.

Auch auf dem 2024er Album sind es Themen, die Reinhard Mey seit Jahrzehnten umtreiben, denn nur darüber kann er glaubhaft schreiben und singen.

So etwa thematisiert er die grausamen Unsinnigkeiten des Krieges („Verschollen“) aus dem fiktiven Blickwinkel eines in Russland gefallenen und dort im gefrorenen Boden verscharrten deutschen Landsers, charakterisiert die Würdelosigkeit, mit der Menschen Haus-, Nutz-, Zoo- und Wildtieren begegnen („Miserere mei“) und besingt seine Heimatstadt Berlin aus einer Vor- und Nachwendesicht („Zwischen Kontrollpunkt Drewitz und der Brücke Dreilinden“).

Ein seiner Frau gewidmetes Liebeslied („Du hast mich getragen“) darf nicht fehlen, auch nicht ein Blick auf unser zunehmend künstliches Dasein und den Verlust der natürliche Umwelt („Lagebericht“), orwellartig vorverlegt auf den 21.12.2042 (Mey`s 100. Geburtstag); und natürlich ist auch ein Fliegerlied dabei („Du kannst fliegen“) mit Zitaten aus seiner eigenen Lilienthal-Hommage des Jahres 1997. Darin auch versteckt der nahezu unvermeidbare Blick auf die erlebten Unterdrückungen während der Schulzeit, der diesmal allerdings kein eigenes Lied gewidmet ist.

Wenn Reinhard Mey prognostiziert, dass der nicht namentlich bezeichnete, uns allen aber wohlbekannte „Quiz-König“ 2042 in seiner Show „Leihmütter gegen Samenspender“ antreten lässt, hege ich die Befürchtung, es wird gar nicht mehr so lange dauern. Und seine Vision vom „versunkenen Westerland“ ist so irreal auch nicht.

Mey ist sich längst der Vergänglichkeit unseres Seins bewusst, des möglichen Scheiterns von Beziehungen, des plötzlichen Erlöschens großer Lieben - und kann diese Thematik unsentimental ansprechen („Das Raunen in den Bäumen“, „Nichts ist für immer“), wenn auch jetzt durch aktuelles Erleben und die Veränderungen seiner Stimme neue Facetten hinzukommen.

Fast traditionell beschreibt Mey kleine Dinge, die ein Teil seiner eigenen Lebensgeschichte geworden sind; hier ist es ein uralter Nussbaumtisch, den er vor Jahrzehnten einem italienischen Winzer abschwatzen konnte und der nun unter anderem auch die unübersehbaren Spuren der Familie Mey trägt, was ihn nur noch wertvoller macht („Questo tavola non si vende“).

Das Schicksal der in unser eher kühles Land aus südlich-fröhlichen Gefilden verschlagenen Gastarbeiter hat Mey schon oft nachdenklich gestimmt, hier ist es ein im grauen Berlin ziemlich verloren wirkender Kellner aus Südtirol („Beef und Lobster“), der eigentlich nur noch eines will, nämlich zurück „nach Haus“.

In manchem von uns werden sich wohl wieder einige Lieblingslieder einnisten und nicht mehr aus dem Kopf gehen. Bei mir sind es die drei folgenden:

„Zwei Musketiere“, ein berührendes Duett mit Hannes Wader, dem Gefährten aus den 60er Jahren und dem - trotz aller offensichtlicher Unterschiede - Bruder im Geiste bis zum heutigen Tag. Ein nur vordergründig wehmütiger Rückblick, letztlich eher eine Danksagung an das Leben und das beiden "trotz alledem" überwiegend günstig gesinnte Schicksal, auch wenn letzteres die zwei alten Recken tüchtig "zerzaust und gegerbt" hat.

„Schlendern“ ist die gefühlvolle Bearbeitung einer 20 Jahre alten Ballade von Konstantin Wecker. „Schlendern ist Luxus“ hatte 1988 schon Ulla Meinecke gesungen, und um eben diesen Luxus geht es hier. Um das auch einmal „Nichts müssen müssen“, das „Nirgendwohin Denken“, das „Zulassen der Stille“, das „Ruhe Finden“, das „absichtslose Verweilen“. Dieses Thema zieht sich durch Mey`s gesamtes Schaffen, hören Sie hinein etwa in „Alle rennen“ aus 1996. Die Wahl des Wecker-Liedes ist aber auch ein Zeichen der Wertschätzung, der Verbundenheit mit diesem anderen Liedermacher-Urgestein. Mey, Wader und Wecker respektieren sich gegenseitig, sie spüren wohl instinktiv, dass sie nicht konkurrieren, sondern einander ergänzen. In gemeinsamen Konzertauftritten kann man sich leicht davon überzeugen.

„Die Legende von den Liebenden“ ist die "schwarze Perle" dieser Liedersammlung, ein besonderes Kleinod, eine wahre Kostbarkeit. Vielleicht wirklich nur (?) eine Legende von der Liebe einer Frau zu einem feinsinnigen, wohl aber auch etwas rätselhaften Mann, dem nur vorübergehend gemeinsamem Glück, seinem Straucheln und Fall, ihrer ihm gegenüber noch im „Exil“ bewahrten Treue, ihrem unerschütterlichen Beistand bis in seine Todesstunde hinein, doch immer verbunden mit der Hoffnung auf das eigene Weiterleben, sogar ohne den kategorischen Ausschluss des Neubeginns an der Seite eines Anderen.

Ich möchte gar nicht wissen, ob irgendeine, und wenn ja, welche Vorlage aus dem realen Leben Mey die Worte gab. So können sich die eigenen Gedanken selbst ihr Bild machen. Eines der größten Lieder im Schaffen des großen Liedermachers, zugleich eines seiner berührendsten Liebeslieder. Wenn ich merke, dass die Melodie Takte aus „Der Bär, der ein Bär bleiben wollte“ zitiert, macht es mir das Stück nur noch wertvoller.

Ein Wort zum Song „Black and white 1945“, komponiert von Ross Brown und hier mit Schwiegersohn Matthew Pearn im Duett auf Englisch gesungen: Ob Brown das Stück jemals selbst auf Tonträger veröffentlicht hat, weiß ich nicht. Es gibt im Netz aber eine Version aus 2008 des in Deutschland nicht unbekannten englischen Singer/Songwriter Mike Silver, den sich Reinhard Mey für dieses Lied als Gitarristen mit ins Boot geholt hat.

Die "Originalversion" von Silver wird im Video begleitet von erklärenden Fotos zur todtraurigen Geschichte um die nicht folgenlos verlaufende Liaison des französischen Mädchens Elise mit einem deutschen (fahnenflüchtigen?) Besatzungssoldaten. Was an der Story real, was fiktiv ist, bleibt im Dunkel. Warum Reinhard Mey, Meister der deutschen Sprache, das Lied im Originaltext auf sein 2024er Album genommen hat? Versuchen Sie, das selbst herauszufinden, ohne ausschließlich in „schwarz oder weiß“, „gut oder böse“, „Freund oder Feind“, "deutsch oder englisch" zu denken. Ganz nebenher bei allen thematisierten Schuldgefühlen, Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen, tragischen Irrungen und Wirrungen auch ein starkes Antikriegslied, so aktuell wie vor Jahr und Tag.

Im „Notabene“, dem wohl definitiven Schlussstück (wenn auch noch nicht im Rilke`schen Sinne), spricht (!) Mey seine Liederwerkstatt an, seine Zettelkästen mit Notizen zu längst Erlebtem, aber noch nicht zu Liedern gewordenen Steinen im riesigen Lebensmosaik. All` das verwahrt in einer abgeschlossenen Schreibtischlade. Er stellt sich vor, wie seine Hinterbliebenen eines Tages die Lade öffnen und wie der Wind die Zettel, Schnippsel und Skizzen mit seinen Gedanken aufwirbelt und zerstreut. Manni Leuchter spielt dazu eine barocke (sic!) Melodie auf dem Akkordeon. Der eingangs erwähnte Organist wüsste sicher, um welches Stück es sich hierbei handelt.

Ob „Nach Haus“ wirklich Reinhard Mey‘s letztes Album ist? Ob es zumindest noch eine Tournee geben wird mit nachfolgend veröffentlichten Live-Aufnahmen und wie immer erklärenden Zwischentexten? Ich glaube die Antwort zu wissen.

Das Motiv „nach Haus“ kommt über all` die Jahre in vielen Mey-Liedern vor, ist dort aber bisher wohl eher nicht programmatisch gemeint. Beim 2024er Album ist das anders. Mey bezieht sich ausdrücklich auf den vor gut 250 Jahren geborenen romantischen Dichter, den wir unter seinem Künstlernamen Novalis kennen. In dessen Romanfragment über den mittelalterlichen Minnesänger Heinrich von Ofterdingen fragt der Pilger die junge Frau „Wo gehen wir denn hin“?, worauf sie antwortet „Immer nach Hause“.

Novalis meint mit dem „Zuhause“ natürlich nicht die derzeitige Heimstatt, auch nicht das Haus, in dem wir aufgewachsen sind, wohl nicht einmal das, was wir als „Heimat“ bezeichnen würden. Der Begriff ist eher Metapher für einen metaphysischen, gar spirituellen Sehnsuchtsort, einen Ort der endgültigen Harmonie, des Geborgenseins und Seelenfriedens, des Ankommens am sich bereits bei der Geburt abzeichnenden Ziel, letztlich der Erfüllungsort unseres Lebens. Alle Religionen kennen solch einen Ort und haben ihm einen jeweils spezifischen Namen gegeben; manche definieren ihn gar als eigentliche Bestimmung unseres vorübergehenden irdischen Lebens, Rückkehr ausgeschlossen, es sei denn in anderer Gestalt. Und auch für ausschließlich naturwissenschaftlich denkende Zeitgenossen ist es völlig klar, wenn auch vielleicht weniger tröstlich, was mit dem „nach Haus“ gemeint ist.

Ein sehr intimes, wohl gerade deshalb so bewegendes Album, das ich zunächst aus gutem Grund (s.o.) nur ganz allein hören und niemand anderem vorspielen werde. Aber empfehlen möchte ich es Ihnen schon. Dazu das Fotobuch mit hunderten privater Bilder, passend zu den jeweiligen Liedern ausgesucht. Wenn Sie doch noch Fragen haben, ob und wie es vielleicht weitergehen könnte, schauen Sie sich die drei letzten Bilder des Buches an. Noch eindeutigere Botschaften darf man vom Meister der leisen Töne nicht erwarten...