Konnte man die bisher veröffentlichten Alben noch guten Gewissens unter
"Musik" einordnen, so sollte der geneigte Newman-Novize den
beiden hier besprochenen "Songbooks" aus 2003 und 2011 eher
unter der Prämisse ironischer, ja sarkastischer Texte näher treten.
Newmans parodierende Lyrik kann aber auch dann - und zwar selbst für
einen gut englisch sprechenden Zeitgenossen - noch missverständlich
sein, man muß also höllisch aufpassen, dem Künstler nicht in die von ihm
selbst aufgestellte "Falle" zu tappen.
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Zur Klarstellung vorab: die beiden Songbooks bringen nicht etwa
unveröffentlichtes Material, sondern Neuinterpretationen bekannter
Stücke aus der bisherigen schon 45 Jahre währenden Schaffensperiode.
Wobei der Titel "The Randy Newman Songbook" mir bereits eine
Persiflage in Hinblick auf das oft zitierte "American Songbook"
zu sein scheint.
Newman schlüpft oftmals in Rollen. Seine provozierenden Texte spiegeln
dann sehr bewusst die Vorurteile der spießigen und oft auch arroganten
(nicht nur amerikanischen) Mittelschicht, stellen also keineswegs die
eigene Meinung dar, ganz im Gegenteil.
Randy Newman ist unverwechselbar. In Deutschland aber ist der 1943
geborene US-Sänger/Songwriter viel zu wenig bekannt. Am ehesten kennt
man ihn durch Filmmusiken, die ihm zahlreiche Preise eingebracht haben,
darunter zwei Oscars. Zudem ist der Grammy-Gewinner auch Autor so
mancher Songs, die erst durch andere Sänger bekannt wurden. Insofern
bestehen gewisse Ähnlichkeiten zu Bob Dylans früher Schaffensperiode.
Auch ist Newmans Stimme ähnlich gewöhnungsbedürftig.
"Good Old Boys" (1974) und "Sail Away" (1972) sind seine
bekanntesten eigenen Alben. Sehr gelungen ist auch "Land of
Dreams" (1988), eingespielt mit so illustren Musikern wie Mark
Knopfler, Guy Fletcher, Steve Lukather, Dean Parks, Nathan East, Jeff
Pocaro, Tom Petty, Mike Campbell und Jeff Lynne.
Der Wegfall des instrumentellen Arrangements in den "Songbooks"
verschlankt die Stücke und verkürzt sie dadurch beträchtlich. Die
(flüchtige) Bekanntschaft mit "Lucinda" bis zu deren
Überrolltwerden durch den Reinigungstruck dauert beispielsweise nur
1:37. Schon möglich, dass so eines Tages alle Newman-Songs auf 3 CDs
passen. Dieses Stilmittel zwingt den Autor und sein Publikum zur
Konzentration auf die Lyrics, was - zumindest für uns Hörer - nicht
immer einfach ist. Zumal der Barde so schrecklich nuschelt.
Zudem stammen viele seiner frühen Songs noch aus der Zeit des
traumatisierenden Vietnam-Krieges und der viele Amerikaner
frustrierenden Nixon- und Bush-Administration, besitzen also
historisches Zeitkolorit. Dennoch lassen sich die kritischen Inhalte
mühelos auch auf heutige politische Verstrickungen und aktuell
menschenverachtendes Verhalten der Mächtigen übertragen.
Vielleicht macht sich einmal jemand die Mühe, allen Texte Newmans eine
sinngemäße deutsche Übersetzung gegenüberzustellen, idealerweise auch
mit kleinen Kommentaren. Es würde sich sicher lohnen. Solche
Textübersichten gibt es beispielsweise von fast allen Bob Dylan-Songs.
Denn ich gestehe frei: Nicht alle Texte verstehe ich in ihrer
hintergründigen Bedeutung.
Die Texte wollen etwas bewegen. Die bissige Kritik ist kein Selbstzweck,
Zynismus ist allenfalls Stilmittel, giftiger Sarkasmus wird als
provokatives aufrüttelndes Element eingesetzt. Am ehesten erscheinen die
Songs in ihrer Essenz satirisch. Im deutschen Sprachraum hat einmal
Georg Kreisler mit surrealistischer und absurder Lyrik ähnliches
versucht, allerdings mit einem seinerzeit deutlich kabarettistischen
Einschlag. Auch Neuss und Hüsch lassen grüßen, aber einen wirklichen
"deutschen Newman" gibt es wohl nicht.
Herrlich mehrschichtig Newmans Zwiegespräch mit Karl [Marx] in "The
world isn`t fair":
Oh Karl, the world isn`t fair
It isn´t and never will be.
They tried out your plan,
It brought misery instead.
If you`d see how they worked it
You`d be glad you were dead.
Just like I`m glad I`m living in the land of the free,
Where the rich just get richer
And the poor you don`t ever have to see.
It would depress us, Karl
Because we care
That the world still isn`t fair.
Schade, dass dieses Gespräch wegen bestimmter historischer Gegebenheiten
nur fiktiv geführt werden konnte. Ein realer Diskurs wäre sicher ein
dialektisches Lehrstück geworden, wenn wohl auch schlußendlich ohne
Synthese ...
Ansonsten finden sich Seitenhiebe auf die amerikanische Außenpolitik
("Political Science”), Vergangenheitsbewältigungen im
Sklavenhändlersong ("Sail away"), sarkastische Notizen zur
bürgerlichen Überheblichkeit ("My Life is good"), Kritik am
Rassismus der "Rednecks", Klagen über politische Unfähigkeiten
("Lousiana 1927"), ironische Liebeslieder mit (noch)
unvorhersagbarem Ausgang ("The girls in my life – part 1") und
die (für das Establishment bequeme) Anpassung der Arbeiterklasse
("Birmingham"). Es lohnt auf alle Fälle, sich mit den Texten zu
befassen.
Bob Dylan über Randy Newman: "He`s got it down to an art, it doesn`t
get any better. Not that many people in Randy`s class"
Und die New York Times meint: "Mr. Newman has transformed our
nation`s deepest anxieties into great American songs"
Newman ist sicher kein Entertainer für die Massen. Aber ein Geheimtipp
für Menschen, die gleichermaßen mit schwarzem humorvollem Witz wie auch
traurigem Ernst umgehen können, die gern hinterfragen und Ironie und
Hintergründiges schätzen. Und die Kritik am Vaterland nicht a priori für
zersetzend halten.
Wenn es wirklich um die Texte geht, dann sind die jetzt vorgelegten nur
mit kargem Piano begleiteten, reduzierten Versionen noch eindringlicher,
als die früheren voll "orchestrierten" Stücke. Glücklicherweise
kann das ja nun jeder für sich selbst entscheiden und wählen. Aber nicht
etwa, dass einen Newmans Pianospiel kalt lässt, die Songs swingen auf
ihre Weise und haben musikalische Wurzeln im Blues, Ragtime, Jazz und
Rock. Auf den Songbooks klingt Newman jetzt laut Zeitzeugen genauso, wie
bei seinen Liveauftritten. Einen derart "intensiven" Newman habe
ich zuvor auf Tonträgern noch nicht gehört.
Ursprünglich geplant sind die Songbooks wohl als Trilogie. Wer also noch
einige Meisterwerke früherer CDs vermisst, der sei vorerst einmal
vertröstet.
Hier die Titel der Tracks von Songbook Vol. 1:
- It's Lonely at the Top
- God's Song (That's Why I Love Mankind)
- Louisiana 1927
- Let Me Go
- Rednecks
- Avalon
- Living Without You
- Think It's Going to Rain Today
- You Can Leave Your Hat On
- It's Money That I Love
- Marie
- When She Loved Me
- Sail Away
- The World Isn't Fair
- Political Science
- The Great Nations of Europe
- In Germany Before the War
- Ragtime
Hier die Titel der Tracks von Songbook Vol. 2:
- Dixie Flyer
- Yellow Man
- Suzanne
- The Girls in My Life, Part 1
- Kingfish
- Losing You
- Sandman's Coming
- My Life Is Good
- Birmingham
- Last Night I Had a Dream
- Same Girl
- Baltimore
- Laugh and Be Happy
- Lucinda
- Dayton, Ohio - 1903
- Cowboy!
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Ein Tipp: wollen Sie vorerst nur in eines der beiden Songbooks
hineinhören, so wählen sie das Vol. 2. Randy Newman scheint mir hier
noch relaxter und subtiler zu singen (und auch zu spielen!) als auf dem
Vorgängeralbum. Zudem ist die Soundqualität (vor allem beim
Klavierklang) noch etwas geteigert worden