Hans-Ludwig Kröber - Mord
Rowohlt - ISBN 978 3 498 035631
"Wie nur konnte es zu solch einer furchtbaren Tat kommen?",
fragt man sich immer wieder aufs Neue, wenn die Medien über Gräueltaten
wie Entführung, Vergewaltigung oder gar Mord berichten. "Gibt es
Erklärungen für etwas derart Abscheuliches? Was um Himmels Willen hat
sich dabei in den Tätern abgespielt?" Meist aber werden wir gerade
dies niemals erfahren. Es sei denn, ein Gerichtspsychiater läßt uns
ausnahmsweise einmal über seine Schultern schauen:
Genau das hat der Autor getan. Neun wahre Begebenheiten hat er
dankenswerterweise für uns aufbereitet und niedergeschrieben, natürlich
streng anonymisiert. "Geschichten aus der Wirklichkeit"
untertitelt er sein Werk. Wirklich irritierende Lebensgeschichten! Sind
sie doch verstörend und alles andere als aufbauend. Nein, sie
hinterlassen im Gegenteil ein tiefes Unbehagen, obwohl manchmal sogar so
etwas wie skurriler Humor durchschimmert. Also keine leichte Lektüre,
aber eine gerade deshalb um so mehr Empfehlenswerte, ja nahezu
Notwendige!
Warum aber hat Kröber das alles wirklich aufgeschrieben? Sicher nicht
zur Befriedigung von Sensationsgelüsten. Eher vielleicht, um uns
Einblicke in die verschlungenen Pfade menschlichen Unterbewusstseins zu
geben und aufzuzeigen, wie schmal die Schwelle ist, die jeden von uns
vor kriminellen Handlungen bewahrt – oder eben auch nicht.
Ob beabsichtigt oder eher wohl nicht, vermittelt das Buch ganz nebenbei
einen Einblick in das schwierige Geschäft der Gutachtertätigkeit.
Schließlich dienen die resultierenden Expertisen den Gerichten zur
Entscheidung über Gefängnis, Maßregelvollzug, Sicherheitsverwahrung,
Abschiebung oder auch Haftentlassung. Welche Verantwortung! Was nicht
zuletzt durch den Fall Gustl Mollath noch einmal in den Focus des
aktuellen öffentlichen Interesses gelangen dürfte.
Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne, Krankheit und Gesundung - ein
weites Feld schwieriger Definitionen und bar jeder absoluten Wahrheit.
Schon deswegen erwarten uns mitnichten trockene gutachterliche
Bewertungen. Nur selten überhaupt erahnt man die eigene Position des
Autors zwischen "Wegschließen" und "Resozialisierung",
zwischen Pflichterfüllung und Verständns. Anders würden die Geschichten
auch gar nicht funktionieren. Und dennoch spürt der Leser trotz aller
professioneller Neutralität des psychiatrischen Gutachter-Autors auch so
etwas wie menschliches Mitgefühl. Nicht zuletzt diese immer wahrnehmbar
mitschwingende Ebene macht dieses Buch so besonders.
Doch es soll durchaus nichts beschönigt werden: Erschreckend das Ausmaß
sexuell motivierter Gewalttaten. Erschreckend zugleich die Erkenntnis,
wie sich manchmal geradezu "zwingend" Grenzüberschreitungen
entwickeln, zumal die psychosoziale Ausgangslage der Täter durchweg
hoffnungslos elend ist.
Aber vielleicht gibt es eines Tages einen Band 2 aus dem
großbürgerlichen Milieu, gar der High Society? Oder spielen sich dort
keine Verbrechen ab? Klar, sie wären weniger leicht anonymisierbar, also
schwieriger literarisch aufzubereiten. Denn wie sollte man
besispielsweise einen bundesweit bekannten Wettermann unkenntlich
machen!
Möglich natürlich, dass Kröbers Herz ohnehin mehr für den
unterprivilegierten, für den "kleinen Mann" schlägt. Was man in
diesem Fall sogar wörtlich nehmen kann, haben die berichteten neun
Begebenheiten doch allesamt männliche Akteure, die aus "kleinen
Verhältnissen" stammen. Nebenbei bemerkt also auch bei Mord nix mit
"Frauenquote".
Ganz besonders und in dieser Form wohl einmalig ist der Schreibstil,
changierend zwischen spannendem Krimi, nüchternem Polizeiprotokoll,
wissenschaftlich geprägtem Gutachten und verworrener Krankengeschichte.
Nicht zuletzt durch dieses Stilmittel ziehen uns die neun
erschütternden Mordgeschichten in ihren Bann.
Meine Lieblingsgeschichte ist gleich schon die Erste. Ich verrate Ihnen
hier nicht, warum. Lesen Sie selbst.
Problemlos kann man sich Hans-Ludwig Kröber auch als Autor eines rein
fiktiven Kriminalromans vorstellen. Obwohl, warum eigentlich fiktiv?
Stoff "aus der Wirklichkeit" wäre ganz sicher ausreichend
vorhanden, neue Stories müssten er erst gar nicht erfinden.
Nur gäbe es vielleicht ein kleines Problem: Man würde womöglich die
Geschichten für unglaubhaft, für völlig übertrieben halten. Denn
bekanntlich glaubt einem die Wahrheit ja doch keiner.