Ramones - Das Debut-Album "Ramones"
Debut-LP der Ramones, New York
Nein, ich habe nicht 4 neue Freunde oder gar potenzielle Schwiegersöhne
für Sie gefunden. Auch will ich Sie keineswegs von Beethovens Neunter,
Ornette Coleman`s Horn und Fischer‘s Helene abhalten. Doch diese Scheibe
der New Yorker Punk-Pioniere hat es nach wie vor verdient, wahrgenommen
zu werden. Hier der Versuch einer Einordnung.
1976 bringen die Ramones in New York ihr selbstbetiteltes Debutalbum
heraus – der Punk als Gegenreaktion zu den die Charts dominierenden
Hochglanzproduktionen ist geboren, wenn auch der Begriff damals noch
unüblich war.
Mitte der 70er Jahre standen ganz oben in den Hitparaden Bands wie die
Eagles (Hotel California), Tom Petty and The Heartbreakers
(selbstbetiteldes Album), Pink Floyd (Wish you were here), Queen (Night
at the Opera), Bruce Springsteen (Born to run), Led Zeppelin (Physical
Graffiti), Supertramp (Crime of the Century), Roxy Music (Country Life),
Genesis (The Lamb Lies Down on Broadway) oder Paul McCartney (Band on
the run).
Den Ramones sagte diese Art von Musik nichts, sie wollten zurück zu den
Basics des Rock, weg von den bombastischen Edel-Produktionen mit
„Artrock-Feeling“ und ausgefeilten Arrangements. Auch die
Hippie-Bewegung und die damalige Disco-Szene wurden abgelehnt. Die Jungs
kamen von der Straße, aus dem Drogenmilieu, aus zerrütteten Familien,
aus der Arbeitslosigkeit. Eine traditionelle Karriere war ihnen somit
verstellt, sie mussten ihr Glück mit eigenen Mitteln selbst in die Hand
nehmen.
Die Songs sollten einfach klingen, mussten das auch, denn eine
musikalische Ausbildung hatten sie alle vier nicht. Drei Gitarrengriffe,
eine simple Bassbegleitung auf den Grundtönen, ein einfacher,
durchgehend gleicher Schlagzeugrhythmus, ein eher „dreckiges Shouting“,
simpelste Texte ohne verschlüsselte Botschaft – das musste reichen.
Man kann das heute kaum glauben, aber die Produktion des Albums hat
nicht mehr als 600 Dollar gekostet. Das schmucklose SW-Cover war nicht
nur billig, es ist auch als Antithese zu den damals üblichen und z. T.
durchaus als „Kunst“ zu begreifenden Plattenhüllen zu verstehen.
Trotzdem und ganz ungewollt ist es heute "Kult".
Kommerziell erfolgreich war die Scheibe nicht, sie verfehlte die US-Top
100. Nur wenige Musikkritiker verstanden, was da im Entstehen begriffen
war – und warum. Die Ramones übten allerdings auf den noch in den
Kinderschuhen steckenden britischen Punk eine großen Einfluss aus und
inspirierten Bands wie die Sex Pistols, The Clash oder die Buzzocks.
Überhaupt war der Punk in England viel erfolgreicher als in den USA.
Den Begriff "Punk" gibt es schon seit Jahrhunderten, doch hat er
in dieser Zeit einen mehrfachen Bedeutungswechsel erfahren, bezeichnete
aber immer etwas eher Negatives, Wertloses, Verrottetes, Ausgestoßenes.
Zu Beginn der 1970er Jahre wurde er für die allerschwächsten Mitglieder
einer US-amerikanischen Gang verwendet, aber noch nicht für die hier
beschriebene Jugendkultur bzw. Musikrichtung. So heißt ja auch ein Titel
auf dem Ramones-Debut "Judy is a Punk". Als Oberbegriff für ihre
aus den USA auf England überschwappende Bewegung haben sich die
jugendlichen Rebellen dieses Schlagwort dann nach und nach selbst
übergestülpt.
Als eine Art Spaß, wohl aber auch um ihren Zusammenhalt (wie in einer
Familie) zu beschwören, gaben sich die vier Gründungsmitglieder allesamt
den Nachnamen „Ramone“. So wurde aus Jeffrey Hyman Joey Ramone
(Gesang), aus John Cummings Johnny Ramone (Gitarre), aus Douglas
Glen Colvin Dee Dee Ramone (Bass) und aus Tamás Erdélyi Tommy
Ramone (Schlagzeug). Nachdem Tommy 1978 ausschied saßen am
Schlahzeug Marky, Richie und zuletzt Elvis Ramone,
Dee Dee wurde 1989 von C.J.Ramone abgelöst.
Sich den gleichen Familiennamen zuzulegen haben später die berühmten
Mitglieder der Supergroup "Traveling Wilburys" den Ramones
nachgemacht.
Die Songs der Ramones waren zumeist kurz, schnell und laut, ohne Soli,
Intros oder Interludes. Viele Stücke klangen dadurch sehr ähnlich. Es
gab aber immer wieder auch harmonisch geprägte Titel, die etwa an die
Beach Boys erinnerten (vgl. "Let`s dance"), ohne natürlich die
teils vertrackten Harmonien eines Brian Wilson zu erreichen, was ja auch
gar nicht gewollt war. Neben "Blitzkrieg Bop" wurden "I
wanna be your boyfriend", "Beat on the brat" und "Now I
wanna sniff some glue" breiter bekannt.
Die Texte waren simpel, aus manchen Zeilen lassen sich allerdings
sozialkritische Gedanken herauslesen, so man will. Gleich über den
ersten und wohl bekanntesten Titel „Blitzkrieg Bop“ ist viel geschrieben
und spekuliert worden. Wer mag, kann als Beispiel einmal nachfolgend in
eine Interpretation von Christian Böhm hineinschauen, auch
wenn hier philologisch vielleicht ein bisschen viel „hineingeheimnist“
wurde. Bei Interesse können Sie aus diesem Sublink auf die Gesamtarbeit
ganz oben per "zurück" verzweigen. Christian Böhm hat viele
lesenswerte Details zu den Ramones zusammengetragen:
Textinterpretation des Ramones-Titels "Blitzkrieg Bop"
Unübersehbar ist die Rebellion, die geplante Attacke der Punker auf das
Establishment, das Aufbegehren, das „Sichabgrenzen“, das Provozieren -
und das alles auch durch eine bewusst heruntergekommene, zerrissene,
teils sogar schmutzige Kleidung, eher abstoßende Frisuren, Piercings,
das Tragen von Nazisymbolen und eine ganz generell rotzige Attitüde. Und
natürlich konsumierten die Ramones auch Drogen und Alkohol, was aber dem
Jazz und Rock jener Jahre gegenüber alles andere als ein
Alleinstellungsmerkmal war. Zumindest die zerfetzten Jeans haben es
letztlich als Relikt jener Zeit bis heute in die Edel-Boutiken
geschafft. Und manch’ schwarze Lederjacke aus den 70ern hängt quasi
geheiligt noch heute im Kleiderschrank.
Peter Buck, Gitarrist der Indieband R.E.M hat es rückblickend auf den
Punk(t) gebracht: "Punk bedeutete für uns, dass man sich nicht an
die Regeln halten musste, dass man eigene Stücke schreiben und seine
Platten im eigenen Label herausbringen konnte". R.E.M. hat dann
letztlich aber einen deutlich angepassteren Kurs verfolgt
(paradoxerweise "Indie" genannt). Der Punk bekam aber ohnehin
nach und nach verschiedene Facetten.
Aufbegehrt haben sie, aber antiamerikanisch waren die Ramones sicher
nicht, in ihrem Logo befindet sich das US-Wappentier, der
Weißkopfseeadler und der Schläger des Nationalsports Baseball. Wobei man
mit solch einem Schläger aber alternativ auch ganz schön
"draufhauen" konnte. Die Pfeile und das Friedenssymbol des
Olivenzweigs deuten allerdings Konflikte an. Mithin: "Hey ho, let`s
go"...
Welchen gewaltigen Einfluss die Ramones auf die britischen Punk-Bands
hatten, lässt sich in dem Werk von John Robb „Punk Rock – Die
Geschichte einer Revolution“ (ISBN 978-3-453-67550-6) anhand
zahlreicher Zitate nachlesen. Wobei Bands wie The Clash, die Sex
Pistols, die Buzzocks, Vice Squad, The Jam und andere kommerziell
deutlich erfolgreicher als die Ramones waren. Wie man auch immer zu
ihrer Musik steht, die Ramones haben Geschichte geschrieben, wurden in
die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen und mit einem Grammy für ihr
Lebenswerk geehrt.
Das Debut der Ramones gibt es als LP in verschiedensten Pressungen, die
z.T. bereits Sammlerpreise erzielen. Als CD kann man eine Ausgabe mit
den 14 Songs der Ursprungs-LP bekommen sowie eine remasterte CD mit 8
Bonus Tracks, also zusätzlichen Demos bzw. Single-Versionen. Vermarktet
wird des weiteren eine 3-CD-Box zum 40. Erscheinungsjubiläum mit
zusätzlichen Takes, Demos und Livemitschnitten.
Ich empfehle die remasterte 1-CD-Extended Version mit den 8
Bonus-Tracks. Das Remastering hat hier klangliche Wunder bewirkt, die
aber vielleicht von den inzwischen verstorbenen Gründungsmitgliedern gar
nicht gutgeheißen worden wären. Sie erkennen diese CD an dem schwarzen
Sticker mit Aufdruck "Expanded & Remastered".
Sicher muss man nicht alle 12 Studio-Scheiben der Ramones mit ihren 152
Songs besitzen. Neben dem Debut empfehle ich aber zumindest als
Überblick die nebenstehend abgebildete Doppel-CD „Ramones – Anthology“
mit ihren 58 Titeln. Darunter sind auch 6 der bekanntesten Songs des
Debuts.
Musikalisch aktiv waren die Ramones von 1974 bis 1996. Alle vier
Gründungsmitglieder sind bereits zwischen 2001 und 2014 verstorben, Dee
Dee an einer Überdosis Drogen, die anderen an verschiedenen
Krebserkrankungen. Die Ideen des Punk, insbesondere die einer
"Selfmade-Music" aber leben weiter, wenn auch, teils befördert
durch das Internet, teils mit Hilfe großer Labels stark
kommerzialisiert. "Der Punk entlässt seine Kinder", könnte man
frei nach Wolfgang Leonhards berühmten Buch formulieren. So wie die
68er, die "unter den Talaren den Muff von 1000 Jahren" wähnten,
später selbst Professoren geworden sind.
Ein Fan, der mich zu dieser Übersicht inspiriert und mit Material
versorgt hat, empfiehlt „Ramones-Verweigerern“ (ja, die gibt`s!) als
Einstieg die Songs „Danny Says“, „Questioningly“, „Baby I Love You“ (top
10 in England) und „Do You Remember Rock`n`Roll Radio?“.
Zugleich hat er mich auf das als Comic gestaltete Buch „One Two Three
Four Ramones“ von Bruno Cadène und Xavier Bétaucourt mit Zeichnungen
von Èric Carter hingewiesen (ISBN 978-3-95728-190-6), das neben den
Cartoons etliche sehr lesenswerte Hintergrund-Infos zur Band liefert.
Ich gebe diese Empfehlung hier gern weiter. Auch Christian Böhm bringt
in seiner o.g. Arbeit weitere wertvolle biografische Hinweise.
Selbst wenn Sie vielleicht persönlich mit Punk und Rock wenig anfangen
können, so ist es aus kulturhistorischer Sicht lohnend, sich mit den
musikalischen und jugendkulturellen Umbrüchen der 70er Jahre zu
befassen. Zumal in diese Periode auch der Zerfall des traditionellen
Jazz und die Entwicklung der elektronisch geprägten Fusion-Music fällt.