Nirvana - Unplugged In New York (1993)
Was eigentlich macht diese Band so unsterblich? Und was hat uns
seinerzeit neugierig, aber auch ein wenig misstrauisch auf die Töne aus
den Kinderzimmern hören lassen? Warum nur lieben junge Leute zu Beginn
der 90er-Jahre solch schwermütige Musik, die man mit dem Schlagwort
Grunge (=Schmutz) belegt hat?
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Am 18.11.1993 ließ Nirvana ein Unplugged-Konzert aufzeichnen, das in
die ganzen Welt ausgestrahlt wurde. 1994 kam es als LP bzw. CD und 2007
auch als (ungeschnittenes!) Konzert auf DVD in den Handel. Bei
Erscheinen der LP bzw. CD war Cobain, der Kopf der Band bereits tot und
die (bis dahin wohl gar nicht geplante) Veröffentlichung war quasi ein
Nachruf. Die neueren Audio-CDs und die DVD enthalten Songs, die nicht im
Fernsehen übertragen wurden.
Die Band um Kurt Cobain hält sich merklich zurück, verzichtet auf ihre
größten Erfolge, bringt dafür aber Covers von David Bowie, den Meat
Puppets, Leadbelly und The Vaselines. Allerdings klingen die Songs so,
als seien sie im Original von Nirvana.
Der kommerzielle Erfolg war ordentlich, es wurden weltweit viele
Millionen Alben abgesetzt, allein 5 Millionen in den Staaten. Und
natürlich erhielt das Album einen Grammy für "Best Alternative
Music". Die Verkaufszahlen erreichten aber nicht die Quote von
"Nevermind", dem zweiten Studio-Album der Band.
So wird also manch einer Nevermind (mit der Hymne "Smells
Like Teen Spirit") als den eigentlichen Nirvana-Meilenstein
ansehen. Wenn die Verkaufszahlen den Ausschlag geben würden, hätten sie
sogar unbedingt Recht. Und wer nach dem Unplugged-Konzert mehr von
Nirvana hören will, muß sich Nevermind besorgen!
Ich glaube aber, dass der Erfolg von "Nevermind" (über 30
Millionen verkaufte Alben!) nur im Zusammenhang mit damaligen
gesellschaftlichen Strömungen zu verstehen ist und dass langfristig eher
das Unplugged-Album "bleiben" wird.
Unplugged erkennt man die Band kaum wieder: eine sparsame, ja
spartanische Instrumentierung, gezupfte Gitarren, gute Abmischungen,
kaum Verzerrungen und Rückkopplungen, klar verständlicher Gesang, ein
unterlegtes Cello, ein elegisches Akkordeon. Das Arrangement mit weißen
Lilien und einem Meer von Kerzen erinnert mehr an eine Beerdigung als an
ein Rockkonzert. Nach den eher lauten Alben "Bleach" (1989),
"Nervermind" (1991) und "In Utero" (1993) dominieren
hier leise Töne.
Cobains Stimme erscheint beim Gesang fest, in seinen Ansagen aber
bereits etwas brüchig. Ob er ahnte, dass dieses Konzert so etwas wie
eine letzte Präsentation seines Schaffens war? Oder wollte er bereits
wirklich "good bye" sagen und spielte schon mit dem Gedanken an
seinen Freitod? Ihn scheint es während des Konzertes zu frösteln, trägt
er doch eine Strickjacke. Und ganz clean ist er wohl auch nicht.
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DVD des Unplugged-Konzertes
Nirvana und andere Bands dieser Zeit hatten offenbar bei den Jungen den
Nerv der Zeit getroffen, den Alten gingen sie vielfach wohl eher auf die
Nerven. Nach dem Engagement der 68er-Generation, dem Punk der 70er und
der reaktiven Anpassungsgesellschaft der 80er Jahre kam es offenbar zu
Beginn der 90er-Jahre erneut zur Hinterfragung bisheriger Werte, zur
Systemkritik und zur (auch politischen) Neuausrichtung. Nirvana
spiegelte die neue Haltung und schrie in die Welt hinaus, was die Jugend
fühlte und bewegte. Links sehen Sie das Cover der DVD des
Unplugged-Konzertes. Enthalten ist neben allen Songs der Audio-CD auch
die Original MTV-Version, wie sie gesendet wurde; zudem Interviews und
einige Rehearsels.
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In Nirvanas Musik war Emotion, Ablehnung, Wut und Widerstand, aber auch
entfremdende seismographische Sensibilität. Man betrachte nur einmal das
entlarvende Cover von "Nevermind" mit dem nach der Dollarnote
grapschendem nackten Säugling. Und es war bei allem Leiden auch
Leidenschaft im Spiel. Nirvana spiegelte all` diese Strömungen perfekt.
Die damaligen Jugendlichen ("Lost Generation X") hatten
keinerlei Illusionen mehr und wollten nicht länger ihren Eltern
nacheifern, die "mit 30 Jahren gestorben waren, aber erst mit 70
Jahren begraben wurden" (Douglas Coupland). Dabei waren der von
Altbundeskanzler Kohl apostrophierte "Freizeitpark" und die
"Spaßgesellschaft" noch gar nicht als solche definiert.
Jugendliche fragten damals: "Warum soll ich arbeiten? Nur um noch
mehr nutzloses Zeugs zu kaufen?". Das konnte bei der Suche nach dem
Sinn des Lebens doch nicht alles sein. Auch eine Angst vor der eigenen
Bedeutungslosigkeit, der Austauschbarkeit und dem Mißbrauch durch
Insitutionen schwang mit. Insgesamt also eine Epoche der
Desorientiertheit, der sich in sich zurückziehenden Rebellion bis zur
Autoagression.
Und Nirvana war ja nur eine der damals angesagten Bands. Allein in ihrer
Heimatstadt Seattle gab es weitere bekannte Gruppen wie
"Soundgarden", "The U-Men" und "The Melvins".
Man sprach vom "Seattle-Grungesound". Grunge hatte Rock- und
Punkelemente in sich und war so gut wie immer gitarrenbetont. Dabei
wurden die Gitarren oft experimentell verzerrt und rückgekoppelt. Die
Musik, vor allem der Sound sollte sich unbedingt vom (oft durch die
allmächtigen Plattenfirmen) glatt geschliffenen Mainstream abheben. Und
natürlich hatten die Gruppen Botschaften, die Texte wurden immer
wichtiger. Für all` diese Ziele suchten sich die neuen Bands kleine
"unabhängige" Labels, die "Independents".
Inspiriert von Nirvana und vor allem deren Album "Nevermind",
das den Durchbruch des Grunge bewirkte, wurden so erfolgreiche Bands wie
Pearl Jam, Smashing Pumpkins und Radiohead. Später wurde die
Bezeichnung Grunge abgelöst von "Alternative".
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Trackliste der neuen Audio-CD und DVD:
- About A Girl (von Bleach)
- Come As You Are (von Nevermind)
- Jesus Doesn’t Want Me for A Sunbeam (von The Vaselines)
- The Man Who Sold The World (von David Bowie)
- Pennyroyal Tea (von In Utero)
- Dumb (von In Utero)
- Polly (von Nevermind)
- On a Plain (von Nevermind)
- Something in the Way (von Nevermind)
- Plateau (von Meat Puppets)
- Oh Me (von Meat Puppets)
- Lake of Fire (von Meat Puppets)
- All Apologies (von In Utero)
- Where Did You Sleep Last Night (von Leadbelly)
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Die Band auf Unplugged:
Kurt Cobain: Gesang, Gitarre
Krist Novoselic: Bass, Akkordeon, Gitarre
Dave Grohl: Schlagzeug, Gesang, Bass
Pat Smear: Gitarre
Gastmusiker:
Cris Kirkwood: Bass, Gitarre, Gesang
Curt Kirkwood: Gitarre
Lori Goldston: Cello