Preußen - Aufstieg und Niedergang 1600-1947
Christopher Clark
ISBN 978-3-570-55060-1
Das umfangreiche Geschichtswerk wurde 2006 von einem englischen in
Cambridge lehrenden Geschichtsprofessor verfasst.
Wo im deutschen Titel "Preußen" steht, stand in der britischen
Originalausgabe "Iron Kingdom".
Gut, dass die Übersetzer diesen eher mystifizierenden Begriff gecancelt
haben. Möglicherweise hätte ich das Buch sonst gar nicht erst in die
Hand genommen. Oder vielleicht doch?
Denn manchen Deutschen beschleicht auch heute noch ein Unwohlsein bei
dem Gedanken, tiefer in die sich so zwiespältig darbietende preußische
Geschichte einzudringen. Wenn Sie aber beispielsweise Berlin und Potsdam
besuchen, kommen Sie an Preußen und seinen Hinterlassenschaften gar
nicht vorbei, auch wenn vom ehemaligen Mythos nicht mehr viel
übriggeblieben ist. An Letzterem wird sich auch durch die Neuerrichtung
der Fassade des Berliner Stadtschlosses nichts ändern. Die Argumente der
Befürworter und Gegner dieser Baumaßnahme zeigen aber immerhin sehr
deutlich, welch` völlig gegensätzliche Assoziationen beim Begriff
"Preußen" auftreten können. "Preußen", was ist das
eigentlich?
Das Faszinierende an Clark`s Monumentalwerk (896 Seiten) ist die
Vielschichtigkeit seiner Darstellungen. Man kann das Buch als Chronik
der Brandenburgisch-Preußischen Hohenzollern lesen, als Abriss der
Ursachen und Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und der gefühlt
weiteren tausend Kriege, in die Preußen verwickelt war, als Beschreibung
des deutschen Absolutismus und der deutschen Aufklärung, als Darstellung
jahrhundertelang dauernder umwälzender gesellschaftlicher Reformprozesse
oder als Geschichte des Untergangs von Kaiserreich und Weimarer Republik
- und kommt dabei als Leser in all` diesen Kapiteln auf seine Kosten.
Viel wichtiger aber sind die von Clark minutiös herausgearbeiteten
macht- und bündnispolitischen, gesellschaftlichen, kulturellen und
religionsgemeinschaftlichen Zusammenhänge der jeweiligen Epochen. Hier
wurde ein wirklich umfassendes Quellenstudium geleistet und das Ergebnis
konkurrenzlos in leicht verständlicher Sprache dargestellt.
So ist es keineswegs erforderlich, das gesamte Buch in einem Mal
durchzulesen. Man kann sich problemlos in einzelne Zeitabschnitte
einarbeiten und selbst entscheiden, welche Unterkapitel man sofort lesen
oder erst einmal beiseitelegen will.
Auf jeden Fall aber sollte man sich mit den Anfängen Preußens befassen,
die Clark sehr ausführlich beschreibt. Der fränkische Hohenzollern-Graf
Friedrich VI. von Nürnberg, der spätere Markgraf Friedrich I. erhält zu
Beginn des 15. Jhd. (1411) die seit 1157 bestehende Mark Brandenburg als
Lehen von König Sigismund aus dem Hause Luxemburg. Im Gegenzug
unterstützte der Graf die Ernennung von Sigismund zum römisch-deutschen
Kaiser. Erst einige Jahre später wurde die Mark Brandenburg ein
vererbares Kurfürstentum, Friedrich I. erhielt dadurch die Kurfürsten-
und Erzkämmererwürde, womit auch eine Stimme bei allen künftigen
Kaiserwahlen verbunden war (und damit zugleich ein nicht zu
unterschätzendes entsprechendes "Entgelt").
Zu dieser Zeit war der Name "Preußen" noch ausschließlich
verbunden mit dem Herzogtum Preußen (einem Teil des im Zuge der
Reformation säkularisierten und aufgeteilten Deutschordensstaates), das
vom polnischen König 1525 einem Hohenzollern der Ansbacher Linie als
Lehen übertragen worden war. Erst der brandenburgische Kurfürst Johann
Sigismund war als Familienerbe ab 1618 zugleich "Herzog in
Preußen". Hier beginnt letztlich das Staatsgebilde, was schließlich
nicht mehr Brandenburg-Preußen, sondern nur noch Preußen genannt werden
wird. Entsprechend ist die Angabe "1600-1947" im Untertitel des
Buches zu verstehen.
Auf Friedrich I. folgen 13 weitere Kurfürsten, in deren Zeit kleinere
Landzugewinne (Neumarck, Uckermark) fallen, zudem Beschneidungen der
Rechte des Adels und der Städte und Stände, der Bau des Berliner
Schlosses und die Annahme des reformierten Glaubens.
Die Geschichte des Kurfürstentums Brandenburg nimmt schließlich wieder
Fahrt auf mit Friedrich Wilhelm, genannt der "Große Kurfürst",
der von 1640–1688 regierte und nicht zuletzt aus den Erfahrungen des
Dreißigjährigen Krieges heraus wichtige Reformen initiierte, die zu
einem zentralistisch geführten Staatswesen und einer Art Beamtentum mit
den verpflichtenden Eigenschaften aktiver Einsatz, harte
Pflichterfüllung und innere Disziplin führten.
Unter dem Großen Kurfürsten verzeichnete Brandenburg erhebliche
Landgewinne (Clark verdeutlicht das an verschiedenen entsprechend
markierten Landkarten). Friedrich Wilhelm gelang es auch, das Herzogtum
Preußen aus der polnischen Oberhoheit zu lösen und zur Souveränität zu
führen. Was wiederum die entscheidende Voraussetzung war, dass sich sein
Sohn, Kurfürst Friedrich III. als absolutistischer Herrscher 1701 selbst
zum König in Preußen krönen konnte, worauf er den Namen König Friedrich
I. annahm. Damit war die Verschmelzung von Brandenburg und Preußen
vollzogen. Doch erst viel später setzte sich die Bezeichnung
"Preußen" für den von den Hohenzollern beherrschten
norddeutschen Gesamtstaat durch.
Ganz besonders lesenswert und wichtig für das Verständnis nicht zuletzt
des "Klischees Preußen" ist die direkt folgende
Geschichtsperiode unter Friedrich Wilhelm I. (1713-1740), der den
Beinamen "der Soldatenkönig" trug und die höfische
Prachtentfaltung seines Vaters beendete sowie dessen Sohn Friedrich II.
(1740-1796), den wir als "Friedrich den Großen" kennen und
dessen Wesenszüge sich nicht zuletzt als Gegenreaktion zur Haltung
seines Vaters entwickelten. Psychologisch gesehen sehr aufschlussreich
ist die Beschreibung des Spannungsverhältnisses zwischen Vater und Sohn,
der aus seiner Verantwortung fliehen wollte, eingekerkert wurde und aus
dem Gefängnis heraus mit ansehen musste, wie sein Freund und
Fluchthelfer Hans Hermann von Katte geköpft wurde.
Unter Friedrich Wilhelm I. kam es zu umwälzenden Reformen, es wurden ein
stehendes Heer aufgebaut, die Schulpflicht eingeführt, die Steuerpolitik
neu geordnet, die Verwaltung zentralisiert
("Generaldirektorium"), die Wirtschaft gestärkt, die
Staatsfinanzen konsolidiert und eine beispielslose Ansiedelungspolitik
vorangetrieben. Friedrich Wilhelm hat durch diese Maßnahmen seinem Sohn
Friedrich II. einen in jeder Beziehung stabilen und geordneten Staat
hinterlassen und so den Boden für weitere Machtentfaltung bereitet, die
Friedrich II. schließlich den Beinahmen "Friedrich der Große"
einbrachten. Der Leser aber mag entscheiden, ob nicht eher Friedrich
Wilhelm I. der wirklich "Große" war, und das (fast) ganz ohne
Kriegsführung.
Clark legt großen Wert auf die penible Darstellung der damaligen
gesellschaftlichen Strömungen und geht auf die großen Gelehrten und
Reformer dieser Zeit ("Aufklärung") ein, stellvertretend seien
hier Moses Mendelssohn, Voltaire, Kant, Lessing, Reichsherr von und zum
Stein und Fürst von Hardenberg genannt. Der Autor bespricht aber auch
die besondere (und wie fast immer und fast überall tragische) Rolle der
jüdischen Religionsgemeinschaften, daneben zudem die Spannungen zwischen
Katholiken, Lutheranern, Calvinisten und Pietisten. Natürlich finden
auch die 3 "Schlesischen Kriege", die erste Teilungen Polens und
das sich immer mehr zuspitzende Verhältnis zum Habsburger Kaiserhof
unter Maria Theresia ausführliche Erwähnung. Waren die preußischen
Hohenzollern doch unter Friedrich II. inzwischen nach den Habsburgern
die zweite Macht im deutschen Reich.
Die Darstellung dieser Epoche unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich
II. ist das absolute Highlight des gesamten Buches. Wenn es wirklich so
etwas wie "preußische Eigenarten" oder gar "peußische
Tugenden" gibt, dann haben sie sich vor allem in dieser Zeit
etabliert.
Friedrich II. war ein Vertreter der Aufklärung und verstand sich selbst
als "ersten Diener des Staates". Er schaffte die Folter ab,
verminderte die Zensur, legte den Grundstein für das Allgemeine
Preußische Landrecht, gewährte völlige Glaubensfreiheit und holte
weitere Aussiedler ins Land. Machtpolitisch gelang ihm durch die
zusammen mit Russland und Österreich betriebenen Teilungen Polens eine
Einverleibung aller preußischen Gebiete, wodurch Pommern und Ostpreußen
nicht mehr durch polnisches Staatsgebiet getrennt waren. Friedrich war
nun nicht länger "König in Preußen" sondern "König von
Preußen". Zu keiner Regentschaft zuvor hatte Brandenburg-Preußen so
viele Kriege geführt wie unter Friedrich II. ("dem Großen"), so
große Siege, aber auch so vernichtende Niederlagen erlebt.
Friedrich der Große blieb kinderlos, sein Neffe Friedrich Wilhelm II.
übernahm die Regentschaft (1786-1797), gefolgt von Friedrich Wilhelm
III. (1797-1840). In diese Zeit fällt die französische Revolution
(1789), der Sieg Napoleons über Preußen (1806), aber auch die
Vertreibung Napoleons in der Völkerschlacht von Leipzig (1813) und der
Schlacht bei Waterloo (1815) mit dem nachfolgenden Wiedererstarken
Preußens. Auf dem Wiener Kongress 1815 erhielt Preußen den Großteil
seines 1807 verlorenen Staatsgebietes zurück, allerdings nicht die durch
die 2. und 3. Teilung Polens gewonnen Länder, so dass der Preußische
Staat geographisch wieder wie früher in zwei nicht zusammenhängende
Gebiete geteilt war. Auch die Darstellung dieser Epoche gelingt Clark
meisterhaft, sowohl was die diversen Bündnisse, deren Brüche, die großen
Schlachten als auch die Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft angeht.
Außenpolitisch durch die Niederlage gegen Napoleon geschwächt kam es
innenpolitisch ab 1807 zu den großen, ja auch noch aus heutiger Sicht
großartigen Stein-Hardenbergschen Reformen. Die betreffenden lebendig
geschriebenen Kapitel sind ein weiterer Höhepunkt des Werkes von
Christopher Clark.
Natürlich geht es in der Beschreibung Preußens weiter, über Friedrich
Wilhelm IV. (1840-1861), die Revolution von 1848 und deren
Niederschlagung, den 1871 nach dem Sieg über Frankreich zum Kaiser
gekrönten Wilhelm I. (1861-1888), den 99 Tage regierenden Interimskaiser
Friedrich III. und Kaiser Wilhelm II (1888-1918), die Gründung des
Freistaates Preußen, die Weimarer Republik, das sogenannte Dritte Reich,
den 2. Weltkrieg bis zur offiziellen und endgültigen Auflösung Preußens
durch die Alliierten am 25.2.1947. Diese Jahre sind den meisten von uns
aus dem Geschichtsunterricht noch recht präsent. Trotzdem kann der Leser
auch hier weiteres Wissen aus zahlreichen, teils neu recherchierten
Fakten schöpfen.
Welch langer Weg von der Vergabe der "Brandenburgischen
Sandbüchse" als Lehen an einen Franken über einen von den
Hohenzollern absolutistisch regierten Feudalstaat, einen
"aufgeklärten", nicht desto weniger aber brutale Angriffskriege
führenden "Fredericus Rex", ein erstes aber niedergeschlagenes
bürgerliches Aufbegehren 1848, das Kaiserreich, die Weltkriege bis hin
zu einer nun schon Jahrzehnte lang stabilen föderalen Demokratie!
Ich habe dieses ganz besondere Geschichtswerk (nicht zuletzt
"coronabedingt") nun schon zum zweiten Mal in die Hand genommen
und Teilaspekte erstmals gelesen oder aufgefrischt. Als Nachkriegskind
mit auf im Rückblick 75 Jahre durchgehendem Frieden in Mitteleuropa
schaudert es ganz sicher manchen Leser, unsere eigene deutsch-preußische
Geschichte nachzulesen; eine Geschichte voller Kriege, mörderischer
Schlachten, Kriegsverbrechen, Hungersnöten, Seuchen, Intrigen,
Revolutionen, Menschenrechtsverletzungen, irrsinnigen Despoten,
Vertragsbrüchen, Annexionen, Vertreibungen, Unterdrückungen, Völkermord
und vielem Schlimmem mehr.
Aber blickt man in die uns umgebende Welt, so sieht man: alles das gibt
es immer noch, und zwar eigentlich in kaum veränderter Form. Nur die
Waffen sind inzwischen noch schrecklicher geworden. Die Führer der
kriegerischen Mächte sitzen heute allerdings "zu Hause" in
sicher geschützten Festungen und kämpfen nicht mehr (wie ehedem der
Schwede Gustav II. Adolf oder der Peuße Friedrich der Große) mit ihren
Soldaten Seite an Seite an vorderster Front. Kavallerie und Infanterie
wurden praktischerweise durch Panzer, Bomber und ferngesteuerte Raketen
ersetzt. Die Sucht der Despoten nach Machterweiterung und
Machtentfaltung aber ist geblieben, jedenfalls überall dort, wo das Volk
nichts zu sagen hat. Das alles sind natürlich sich dem Rezensenten
aufdrängende Gedanken, sie werden so von Clark nicht verbalisiert. Aber
vielleicht steckt gerade in diesem dem Leser ermöglichten - oder eher
geradezu aufgezwungenen? - "Weiterdenken" der eigentliche Wert
dieses Geschichtswerkes?
Nur noch zur Klarstellung: Preußen hat sich (mindestens bis 1914)
machtpolitisch zu keiner Zeit anders verhalten, als alle anderen
Staaten. Die durch die preußische Staatsmacht begangenen Gräuel und
Schrecklichkeiten sind so oder ganz ähnlich auch bei all` unseren
Nachbarn vorgekommen. Sonst wäre es schon verwunderlich, dass man gerade
Friedrich II., der für zahlreiche vom Zaun gebrochene Angriffskriege
verantwortlich zeichnet, "Den Großen" nennt und heute noch
ähnlich verehrt, wie das unsere Nachbarn mit Napoleon oder den
Habsburger Kaisern halten. Andere Zeiten und offenbar ganz andere
Vorstellungen von dem, was "groß" ist.
Wenn Sie dieses brillante Geschichtswerk lesen, wird es Sie
wahrscheinlich schaudern. Auch werden Sie sich fragen, ob wir weiterhin
vom "Mythos Preußen", von "Preußens Glanz und Gloria"
oder von den berühmt-berüchtigten "Preußischen Tugenden"
sprechen sollen. Aber Ihr geschichtliches Wissen über Preußen
einschließlich der weltpolitischen Einordnung ganz aktueller
Ursupationen wird sich erheblich vertieft haben. Sie werden
differenzieren können zwischen dem, womit die preußischen Herrscher
ihren Untertanen geschadet und dem, womit sie ihren Bürgern gedient
haben. In letzterem Zusammenhang sei nur verwiesen auf die
Beschneidungen der Rechte der Adeligen und Junker, sowie großartige
Reformen betreffend die Ländereien, die Leibeigenschaft, das Schul- und
Universitätswesen (Wilhelm von Humboldt), das Rechtswesen und das
Sozialwesen. Manche dieser Reformen haben bis heute Bestand. Freiherr
vom und zum Stein und Fürst von Hardenberg wurden bereits erwähnt, aber
auch Otto von Bismarck muss in diesem Zusammenhang genannt werden und
wird von Clark entsprechend kritisch gewürdigt.
Sollten Sie sich entschließen, in die Lektüre dieses gewaltigen Werkes
einzusteigen, werden Sie das nicht bereuen, ja Sie werden das Buch
sicher auch künftig immer wieder zur Hand nehmen. Es ist einfach
brillant geschrieben, nüchtern und doch engagiert, wirkt dadurch fast
wie ein Historienroman und wurde kongenial-kundig gleich von drei
Experten übersetzt. Und weil es von einem (neutralen) Briten stammt,
wahrt es bei allen so intensiv beleuchteten positiven und negativen
Fascetten Preußens doch immer den gebotenen Abstand.