Stefan Siegert - Ludwig van Beethoven
Reclam - 100 Seiten
ISBN 978-3-15-020557-0
Sie kennen vielleicht den Spruch „Ich schreibe dir einen langen Brief,
weil ich für einen kurzen keine Zeit habe.“ Wobei „keine Zeit“ nichts
anders als eine augenzwinkernde Ausrede für mangelndes Können und/oder
Wollen ist. In unserem Metier werden ausschweifende Doktorantinnen gern
darauf hingewiesen, dass Langerhans für seine bahnbrechende Arbeit zur
Entdeckung der insulinproduzierenden Zellen nur 7 Seiten brauchte.
Beethoven Denkmal in Bonn
Es ist schwer, in aller Kürze das Wesentliche zu einem Thema zu bringen.
Vor allem, wenn man viel weiß. Reclam bietet mit seiner Reihe „100
Seiten“ Autoren eine Plattform, ihr Wissen zu einem bestimmten Thema
kurz, aber prägnant zu publizieren. Stefan Siegert hat das Angebot
angenommen und einen „Beethoven-Band“ vorgelegt.
Sie dürfen sich das Ergebnis nicht als klassische Biografie vorstellen.
Siegert stellt uns den Komponisten Beethoven (1770-1827) vor als
Menschen seiner Zeit, und die war unruhig, geprägt von Revolutionen und
Kriegen. Die uns gegebenen Informationen ranken sich um seine Werke, um
die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Strömungen, um seine
blaublütigen Mäzene, seine bürgerlichen Freunde und seine meist nicht
erwiderten Lieben. Beethovens auch 200 Jahre nach seinem Tod weltweit
aufgeführte Kompositionen werden so im Licht zeitgenössischer Ereignisse
verständlicher. Dabei kann es nicht schaden, wenn Sie vorab bereits
seine ganz großen Werke kennen. Wenn nicht, wird Sie nach der Lektüre
die Neugier nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
Natürlich beleuchtet Siegert auch Beethovens persönliche
(Schaffens-)Krisen, seine Ertaubung (Heiligenstädter Testament), seine
unerfüllten Lieben (Brief an die „Unsterbliche Geliebte“, deren
Adressatin man heute zu kennen glaubt), seinen wenig diplomatischen
Charakter, seine Verbindungen zu den ihn von Beginn an unterstützenden
Adelshäusern und seine teils tragischen Auseinandersetzungen mit
Schwägerin Johanna und Neffen Karl, seinem Mündel. Diese Schilderungen
sind kein Selbstzweck, sondern verdeutlichen die jeweilige
Lebenssituation, in deren Glanz oder Schatten die berühmten Werke
entstanden.
Beethoven Denkmal in Frankfurt
In diesem Sinne wichtig sind die letzten Kapitel über die Entstehung
seines revolutionären Spätwerks nach dem Tod der von ihm angebeteten,
nun aber niemals mehr erreichbaren Josephine Brunsvik, begleitet auch
von einem immer schlechter werdenden Gesundheitszustand. Die Aufführung
der 9. Sinfonie war weltweit eine Triumph, es gab danach Aufträge zu
weiteren Sinfonien, Opern, Messen und Kammermusik. Was wäre nach der 9.
Sinfonie, der Missa solemnis, den späten Klavier- und Cellosonaten und
vor allem nach seinen letzten Streichquartetten auf die Zeitgenossen und
die Nachwelt zugekommen, hätte Beethoven das alles noch realisieren
können!
Ein empfehlenswertes, kurzes, aber alles Wesentliche behandelndes
Traktat über Leben und Wirken des wahrscheinlich größten Komponisten
aller Zeiten. Und zwar ganz ohne die oftmals versuchte Heroisierung des
immer wieder als „Titan“ bezeichneten Tonsetzers. Man denke nur an das
(schreckliche) durch die römische Mythologie beeinflusste
Beethoven-Denkmal von Georg Kolbe in Frankfurt, heute ironischerweise
vor der Kulisse des Nachkriegs-Finanzadels. (Der Titel meines Bildes
lautet übrigens "Sie wollten nur unser Bestes...).
Einer besondere Erwähnung wert ist die geschliffene Sprache, mit der
Stefan Siegert uns sein umfassendes Wissen weitergibt. Zeitgenossen, die
nicht ausschließlich über Messenger-Dienste kommunizieren und schon gar
nicht "zwitschern", werden das begrüßen. Die zahlreichen
Abbildungen runden den Band geschmackvoll ab.