Markus Werner: Am Hang

Am Hang

Verlag S. Fischer ISBN-13:978-3-10-091066-0

Es gibt Bücher, die liest man, sagt zum Schluss "was für eine wunderbare Geschichte" - und stellt das Werk in den Schrank. "Am Hang" ist anders: Wenn man mit dem Buch durch ist, fängt eigentlich alles erst an, und zwar im eigenen Kopf. Und genau dort will uns Markus Werner auch treffen, nachdenklich machen, Neugier erwecken und auf seine kleine, blitzgescheite, nicht ganz ungefährliche und spannende Zeitgeistreise mitnehmen.

Manch einer wird dazu das Buch ein zweites Mal lesen.

Die äußeren Umstände sind schnell erzählt: Auf einer Hotelterrasse im Tessin treffen sich zwei Männer, ein jüngerer, etwas leichtlebiger, keine feste Beziehung, wohl aber flüchtige Affären eingehender Scheidungsanwalt namens Clarin und ein älterer, offenbar tiefsinniger, manchmal auch ironisierender, spöttischer, schroffer, vielleicht auch etwas verbitterter und misanthropischer Altphilologe namens Loos. Der ist verwitwet, über den Tod seiner als idealtypisch geschilderten Frau bislang nicht hinweggekommen und scheint - offenbar genau deshalb - seine Ehe rückblickend zu glorifizieren. Er ist aber auch irgendwie innerlich erstarrt und das vielleicht sogar willentlich; dazu hier ein charakteristischer Satz von Loos: "Der Versteinerte lebt wetterunabhängiger".

Clarin wird von Loos magisch angezogen, ohne zu wissen, warum. Aber auch Loos scheint ab einem bestimmten Punkt des Gesprächs zunehmend Interesse an seinem Gegenüber zu entwickeln. An nur zwei Abenden kulminiert zwischen beiden ein immer tiefsinnigerer, aber manchmal auch beängstigenderer Dialog über die von Loos intensiv erlebten 68er, die etwas "verlotterte" orientierungslose Zeit danach, den heute zwar von vielen gefühlten, aber auch breit akzeptierten Werteverfall und die Aufhebung von bis dahin geltenden Standards aus den Bereichen Moral, Erotik, Liebe und Treue. Dabei werden beider Überzeugungen und Gefühle deutlich an den gegenseitig berichteten Beziehungen zu zwei Frauen, nämlich Bettina, der ehemaligen Ehefrau von Loos und Valerie, einer eher flüchtigen Liebesaffäre von Clarin. Zu einem verabredeten dritten Gespräch erscheint Loos nicht mehr und bleibt verschollen ...

Der Leser nimmt sehr bald wahr, dass sich hier - vielleicht nicht einmal zufällig - zwei Schicksale ineinander verweben, oder besser verstricken, fühlt die vom Autor subtil aufgebaute Spannung, spürt, dass die Geschichte auf etwas Entsetzliches hinaus will, wird zum Schluss aber dennoch recht plötzlich und kalt überrascht. Dabei hätte man das Ende durchaus auch schon früher vorausahnen können, Hinweise im Buch gibt es genug. Hier so ein Dialog:

- Jetzt müssen Sie mir helfen: Ist Ihre Frau denn nicht gestorben?
- Gestorben wohl, aber gleichsam nicht richtig begraben...

Überhaupt verlangt das Buch dem Leser einiges ab, besteht es doch "nur" aus Dialogen. Ob es stimmt, dass Markus Werner dieses Buch für eine "restaurative Gesellschaft" geschrieben hat, möchte ich bezweifeln. Aber sehr junge Leser dürften jedenfalls noch irritierter reagieren als die "Alt-68er". Vielleicht würden sie auch das Buch als zu "kopfert", zu konstruiert betrachten und bald wieder weglegen. Oder aber doch spüren, dass hinter den unzähligen Gedanken und Metaphern etwas Tieferes mitschwingt, was den heutigen "Zeitgeist" heilsam in Frage stellt. Ein moralisierendes Buch ist "Am Hang" trotzdem nicht.

Sehr viel mehr kann man als Rezensent nicht verraten. Alles andere wäre bereits eine Vorwegnahme der letztlich dramatischen Wende oder eine rückblickende Interpretation. Letztere aber muß ohnehin jeder für sich selbst besorgen, endet das Buch doch recht jäh. Clarin jedenfalls ist nach der Begegnung mit Loos nicht mehr derselbe Mensch, seine Gewissheiten und seine Selbstzufriedenheiten sind zerfallen, sein Weltbild scheint aus den Angeln gehoben. In Anspielung auf den Buchtitel könnte man auch sagen, sein Leben ist in eine Hanglage geraten und dadurch ins Rutschen gekommen. Rein äußerlich zeigt sich das an folgender sehr schöner Metapher ganz zum Schluß: Clarin versucht, nach Looses plötzlichem Verschwinden die Arbeit an einem juristischen Aufsatz fortzusetzen, kann aber seine Gedanken nicht mehr wie bisher "cool" in die Tasten des Laptop "hacken". Er greift stattdessen zu einem Tintenfüller, den ihm ein verstorbener, sehr tiefsinniger und im Gegensatz zu ihm selbst Liebe und Treue hochhaltender Freund hinterlassen hat. Dabei fühlt er, "wie die Tinte in seiner Hand warm wird" …