Richard Dawkins - Das egoistische Gen

Dawkins_Web

Spektrum Heidelberg 2008
ISBN 978-3-8274-1839-5

Wenn Sie sich mit der Entstehung von Leben auf der Erde und der Entwicklung bis hin zu den komplexesten Lebewesen wie dem Menschen näher befassen wollen, sich mit Darwins "struggle for life" und "survival of the fittest" bereits auseinandergesetzt haben, aber noch tiefer in die Geheimnisse der Evolution eindringen wollen, dann empfehle ich Ihnen diesen Klassiker. Aber Vorsicht: Die Lektüre wird Sie irritieren.

Mir liegt die Jubiläumsausgabe von 2008 vor - und zwar in der deutschen Übersetzung. Leser, die auch wissenschaftlich geprägtes Englisch gut verstehen, haben wahrscheinlich mehr davon, den Originaltext zu lesen. Damit will ich aber nicht die Arbeit der Übersetzerin schmälern. Sie hat das brillant gemacht. Doch manchmal ist es nicht einfach, aus vielen möglichen Wortübersetzungen die Treffendste zu finden. Vielleicht hätte man z.B. das Wort "selfish" des Originaltitels statt mit "egoistisch" als "selbstsüchtig" übersetzen könen. Aber das ist nichts als eine Randbemerkung.

Richard Dawkins war bis 2008 Professor an der Universität Oxford. 1976 wurde er einem breiten Publikum mit seinem Buch The Selfish Gene (Das egoistische Gen) bekannt. In diesem Werk analysiert er die Evolution auf der Ebene der Gene. Er führte zudem den Begriff Mem ein als hypothetisches kulturelles Analogon zum Gen. Dawkins ist von Hause aus Zoologe und Evolutionsbiologe, später hatte er in Oxford einen "Lehrstuhl für Allgemeinverständliche Naturwissenschaft". Er hat neben dem "Selfish Gene" zahlreiche weitere Bücher geschrieben.

Prof. Wolfgang Wickler, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Institutes für Verhaltensphysiologie in Seewiesen hat zur Jubiläumsausgabe des vorliegenden Werkes 2006 im Vorwort geschrieben: "Dieses mit Eleganz und Präzision geschriebene Buch ´Das egoistische Gen´ hat in 30 Jahren weder an Faszination noch an Aktualität eingebüßt. Es sollte weiterhin Pflichtlektüre sein für alle Vertreter der Biologie und der Spezialbereiche aus Anthropologie, Epistemologie, Erkenntnistheorie, Ethik, Medizin, Ökologie, Ökonomie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, die sich heutzutage mit dem Beinamen ´Evolutionär´ schmücken".

Längst ist bekannt und allseits akzeptiert, dass Lebewesen sich im Laufe von Jahrtausenden in einigen ihrer Eigenschaften verändern können - und zwar durch Mutationen. Diese Mutationen können Nachteile mit sich bringen, dann werden solche Seitenlinien langfristig aussterben. Oder eine Mutationen bringt gewisse Vorteile für die betreffenden Individuen, z.B. durch eine bessere Tarnung, Zunahme von Schnelligkeit beim Beutegriff oder Anpassung an ein sich veränderndes Klima. Dann wird sich diese Seitenlinie durchsetzen und eines Tages das Gros der gesamten Population ausmachen. Bis schließlich wieder neue Mutationen mit genau den gleichen Folgen auftauchen.

Es ist nicht allein Dawkins‘ Verdienst, diesen Prozess bis auf die chromosomalen Erbanlagen, die DNA und deren einzelne Abschnitte, die man Gene nennt, heruntergebrochen zu haben. Aber Dawkins hat neben eigenen Versuchen viele Theorien zur genetischen Evolution gesichtet, bewertet und sie uns allgemeinverständlich aufbereitet.

Er geht davon aus, dass alle Lebewesen dieser Erde "Überlebensmaschinen" sind, programmiert durch Gene, und das allein zum Zwecke der Genweitergabe an die nächste Generation. Lebewesen sind danach nichts als "Behälter", um "selbstsüchtigen" Genen als Transportmittel und zur Reduplikation zu dienen, um also möglichst viele Kopien von sich selbst herzustellen.

Dawkins erklärt verständlich, warum das notwendig wurde, nachdem die in der "Ursuppe" durch Elektrizität und bestimmte Elemente entstandenen eiweißartigen "Replikatoren" um die nicht unerschöpflichen Ressourcen kämpfen mussten und sich deshalb Kammern (Zellen) zulegten, um ihre chemischen Prozesse und die sich weiterentwickelnde noch primitive DNA zusammenzuhalten.

Dawkins negiert nicht die Beiträge der Weltreligionen und anderer kultureller Einflüsse auf die Entwicklung der Menschheit. Er hat für solche sich wandelnde Faktoren den Begriff "Meme" geprägt in Analogie zu den nach meiotischer Zellteilung und Vereinigung von Samen- und Eizelle neu sortierten Genen. Heute weiß man zudem, dass die Polkörperchen (Telomere) der Chromosomen nicht nur deren Alterung vorbeugen sollen, sondern selbst phänotypische Attribute eines Individuums speichern und auf die nächste Generation übertragen können. Individuen können also bei jeder Zeugung nicht nur genetische Codes weitergeben, sondern auch langjährige Verhaltensmuster.

Dawkins verweist darauf, dass von allen Lebewesen allein der heutige Mensch in der Lage ist, bestimmten genetischen Gesetzen auszuweichen und dass allein er dem einzigen Ziel eines Gens, nämlich dem Ziel, sich zu duplizieren und zu vermehren einen Riegel vorzuschieben kann.

Andererseits ist auch der moderne Mensch nicht dagegen gefeit, dass fremde DNA in ihn eindringt und ihn u.U. krank macht, was gerade wieder einmal durch Coronaviren geschieht und vor einigen Jahren durch Prionen (Sie erinnern sich an die BSE?) geschehen ist. Aus aktuellem Anlas eine Anmerkung des Rezensenten: mRNA-basierte Impfstoffe schleusen keinerlei DNA oder anderweitige Erbinformationen in unsere Zelle ein.

Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass unsere Art des Homo sapiens durch Eindringen fremder DNA, Verschmelzung mit der eigenen DNA unserer Zellkerne und gemeinsamer Vermehrung an Überlebenskraft gewinnt, weil die dann entstandene neue Art besser an eine sich ändernde Umwelt angepasst ist. Das sind spannende Aspekte, z.T. aber muss man irritiert "schlucken", wenn man sich das etwas genauer vorstellt.

Dawkins bringt hierzu sehr umfangreiche Beispiele aus dem Tier- und Pflanzenreich, um zu zeigen, wie Gene durch die Programmierung von Boteneiweißen Lebensprozesse beherrschen, man könnte auch sagen "manipulieren". Das wird besonders an bestimmten Organismen deutlich, die durch "Fremdgene" der in ihnen wohnender Parasiten (aber auch Symbionten!) gezwungen werden, spezielle Leistungen zu erbringen. Umgekehrt kommt es vor, dass sich Organismen "Sklaven" halten, nachdem sie fremde Arten entsprechend genetisch manipuliert haben. Das kann z.B. durch chemische Stoffe erreicht werden, die schädlich auf einzelne Gene einwirken, Individuen also etwa unfruchtbar machen. Solches kommt oft bei staatenbildenen Insekten vor. Dieses Kapitel des Buches ist besonders irritierend.

Darwin (1809 – 1882) wusste noch nichts von Genen. Zwar hatte Friedrich Miescher bereits 1869 die DNA als Substanz entdeckt und auch beschrieben, dass sie sich anders verhält als ein Eiweiß, konnte diesen Stoff aber nicht weiter zuordnen. Erst 1944 wurde nachgewiesen, dass eben diese Substanz (und nicht wie bis dahin angenommen ein Protein) Träger der Erbinformation ist. Und erst 1953 entschlüsselten James Watson und Francis Crick die Doppelhelix-Struktur der DNA. Seitdem werden bestimmte Abschnitte der Doppelhelix als Gene bezeichnet.

Noch ein Hinweis: wenn Dawkins von "Egoismus" oder "Altruismus" der Gene spricht und ihnen andere uns Menschen geläufigen Adjektiven zuweist, so tut er das nur, um uns verständlich zu machen, welche Auswirkungen Gen-Mutationen haben können in Bezug auf die Fähigkeit, sich besser durchzusetzen. Natürlich ist kein Gen wirklich "egoistisch" oder "altruistisch". Es weiß nichts von solchen Eigenschaften und versucht nur, sich und damit seinen Wirtsorganismus in eine bessere Überlebenssituation zu bringen. Es unterliegt allein dem Prinzip "Trial and Error", für das es allerdings in der Evolutionsgeschichte unserer Erde ziemlich viel Zeit hatte. Ein Bewusstsein oder gar eine Ethik ist ihm fremd, nein, es hat nicht einmal ein Ziel. Man könnte sagen, dass für das Gen der Weg das Ziel ist, "Ende offen" sozusagen. Es gibt kein Ziel, ausser sich möglichst oft und damit erfolgreich zu duplizieren.

Trotz eines immerwährenden Kampfes um Vorherrschaft können Gene erfolgreich sein, die aus unserer menschlichen Betrachtung heraus sich offenbar eher freundlich und zurückhaltend, mithin weniger "selbstsüchtig" verhalten, sich also nicht rücksichtslos auf Kosten des Gesamt-Genpools durchsetzen, sondern mit anderen Genen zusammenarbeiten. Aber auch solche Gene werden langfristig nur überleben, wenn sie sich durch diese "Strategie" stärker vermehren können als konkurrierende Gene, die anders gestrickt sind. Man kann das an mathematischen Modellen zeigen und von Hochleistungscomputern durchrechnen lassen. Dawkins geht auf mehrere solche Modelle ein. Diese Kapitel sind sehr schwer zu verstehen, jedenfalls für einen "Nicht-Mathematiker".

Insgesamt aber ein wirklich faszinierendes Werk. Nur wird es kaum ein Leser ohne größere Irritationen "verdauen" können, mancher wird sich ganz sicher sogar gegen einzelne Erkenntnisse wehren, weil sie nicht in sein Weltbild passen. Kann die Evolution doch oftmals extrem brutal sein, gesteuert vom "Egoismus" der Gene.