Vom Hasen und Igel: Fabel-Parabel-Realsatire

Vom Hasen und vom Igel

Sie kennen doch die Fabel vom Hasen und vom Igel? Genau, das ist die Geschichte mit der Wettlauf-Wette. Mittels eines kleinen Betruges war der Igel immer schon am Ziel, wenn der Hase ankam. Darüber ist der Hase ganz krank geworden und mußte zum Fuchs. Der Fuchs betreibt nämlich eine Arztpraxis.

Wenn der Hase aber nun glaubte, dem Igel endlich entkommen zu sein, dann hatte er sich gründlich getäuscht.

Der schlaue Fuchs hatte nämlich gerade den listigen Igel als segensreichen Umsatzgaranten entdeckt. Igel steht übrigens in diesem Zusammenhang ganz offiziell für "Individuelle Gesundheits-Leistungen", kurz "Igel-Leistungen". Das sind Leistungen, die die kranken Kassen nicht übernehmen, die also der Hase selbst bezahlen muß. Immer mehr Füchse (pardon: Ärzte) haben diesen Igel für sich entdeckt, seit sie unter der Budgetierung durch die kranken Kassen leiden. Früher konnte der Fuchs ganz einfach gute und ehrliche Medizin auf dem Boden eigener Erfahrungen und anerkannter wissenschaftlicher Erkenntnisse betreiben. Das ernährte ihn und seine Familie.

Seit der von den kranken Kassen aufgezwungenen Budgetierung geht es ihm um so schlechter, je mehr er leistet. Früher mußte er nicht einmal gegen Barzahlung akupunktieren, um zu überleben. Mit jeder alljährlich neu verordneten Jahrhundert-Gesundheitsreform wurden dann aber die Nadelstiche von Seiten der kranken Kassen immer schmerzhafter. Schließlich hatte der Fuchs gar keine andere Wahl, als diese Nadelstiche an seine Patienten weiterzugeben. Zum ebenfalls stechenden stacheligen Igel war es jetzt nur noch ein kleiner Schritt.

So wird also der arme kranke Hase in der Praxis des schlauen Fuchses doch wieder vom listigen Igel eingeholt. Nun hat aber der Hase von jeher großen Respekt vor dem Fuchs in seinem weißen Kittel. Zudem hat er ja noch einiges gespart und für seine Gesundheit ist ihm ohnehin nichts zu teuer. Hauptsache, er muß selbst nichts dafür tun, nichts ändern, sich nicht anstrengen. Dann ist es ihm fast egal, wieviel er draufzahlen muß. Haben denn nicht die kranken Kassen selbst gerade eben diverse Zuzahlungen eingeführt, also deutlich gemacht, daß der Arztbesuch unweigerlich ans Portemonnaie geht?!

Das kann den Fuchs in seinem Ansinnen nur bestätigen. Und schließlich und überhaupt muß der Fuchs in seinem weißem Kittel ja wissen, was für den armen Hasen gut ist, will er doch nur sein bestes: er empfiehlt also für gutes Geld 5 Schmierspritzen ins Knie, denn die Knie schmerzen immer noch vom verlorenen Wettlauf. Und dann unbedingt wieder einmal die recht preiswerte Augendruckmessung, schließlich stehen die Hasenaugen nach dem ganzen Streß bedenklich weit vor. Natürlich unerläßlich der Abstrich auf Papillomaviren, denn es geht ja diese rätselhafte Hasenpest um. Einige Vitaminspritzen und Infusionen zusätzlich können nicht wirklich schaden. Und da man ja nicht jünger wird vielleicht eine Frischzellenkur und ein bißchen Sauerstoff, Ozon oder Chelat.

Dem armen Hasen wird ganz schwindelig. Der schlaue Fuchs bemerkt igelnd: bei Schwindel und anderen Alterserscheinungen empfiehlt sich unser allerdings nicht ganz billiges Wellness- und Anti-Aging-Paket, bestehend aus Magnetfeldbestrahlungen, Bach-Blüten-Therapie, Ayurveda-Behandlungen und Wasserbettmassagen. Und die schlimmen Falten am Hals sollten wir mit dem vergleichsweise preiswerten Laser glätten. Dann zur Langzeittherapie für die Figur unerläßlich der regelmäßige Kauf des schlankmachenden Diätpulvers. Und wie wäre es mit einer leider kostenpflichtigen Knochendichtemessung an Ihrer Achillesferse, man gönnt sich ja sonst nichts. Letztlich zur Abrundung unbedingt noch dieses fast geschenkte geile Piercing vom Fachmann, das die schönen großen Ohren erst so richtig zur Wirkung bringt.

Die weise Eule hoch oben im Baum der Wahrheit hat alles mit angehört und denkt bekümmert bei sich: Was waren das noch für Zeiten, als der Fuchs nicht zu wildern brauchte! Was waren das noch für Zeiten, als der Hase sich sicher fühlen konnte, dass ihm beim Arzt nichts unsinniges und überflüssiges widerfuhr! Was waren das für Zeiten, als der kranke Hase noch Patient und nicht Kunde war! Was waren das für Zeiten, als Doktor Fuchs noch Arzt und nicht igelnder Unternehmer und zertifizierter Disease-Manager war!

Der Hase hatte inzwischen ganz vergessen, warum er eigentlich in die Praxis gekommen ist. Das wäre an sich nicht so schlimm, wenn sich wenigstens der schlaue Fuchs noch erinnern könnte. So aber nimmt das Schicksal unerbittlich seinen Lauf. Dabei steht der Termin beim Zahnarzt erst für den Nachmittag an und ein Besuch in der Apotheke ist noch nicht einmal ernsthaft in Erwägung gezogen. Aus der Fabel ist eine Parabel geworden und längst droht aus der Parabel eine Realsatire zu werden...

Dr. med. Franz von Seboca

Bildnachweis dieser Seite:
als Märchen der Gebrüder Grimm bekannt geworden,
Illustration aus einer Buchausgabe des Jahres 1855