Ein ganz normaler Arbeitstag
Es ist noch Nacht, als ich meine Praxis betrete. Ich nutze diese
Stunden ungestörter Konzentration zur Beantwortung höchst diffiziler
Anfragen der Krankenkassen, wie z.B.: Warum ist unser Versicherter denn
noch immer nicht gesund? Weshalb braucht er schon wieder Tabletten und
Massagen? Benötigt dieser hochbetagte Patient wirklich noch einen
Rollstuhl? Ist die im Krankenhaus geplante OP nicht doch ambulant
durchführbar? Reicht statt der Kur nicht auch eine Turngruppe vor Ort?
Und wer hat überhaupt Schuld an der Erkrankung unseres Versicherten?
Üppig und bunt auch die in Rudeln auftretenden Formulare:
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Multiple-Choice-Fragen pro Seite zuzüglich Freitext sind keine
Seltenheit. Da rattert der nächtliche Nadeldrucker entzückt, manchmal
aber auch etwas entrückt über die Bögen. Dann im Sinne eines
Kontrastprogramms Papiere, die nicht EDV-gängig sind und deshalb
dankenswerterweise einmal wieder die eigene Handschrift beüben.
Als Schmankerln zum Schluss die Anfragen der Rentenanstalten, Gerichte,
Ämter, Berufsgenossenschaften, Versicherungen, Rechtsanwälte etc. etc.
Vielleicht ahnen Sie spätestens jetzt, mit welch großer Freude ich
schließlich im Morgengrauen meinen ersten heutigen Patienten begrüße.
Herr Rudi Rastlos leidet an einer vergrößerten Prostata. Ich habe ihm
deshalb eine Resektion (=Schälung) empfohlen. Nun stürmt er herein, bis
zum Platzen voll mit Infos aus seiner neuesten nächtlichen
Internet-Recherche: "Herr Doktor, die Prostata wird heute nicht mehr
geschält, sie wird verdampft!" "Guter Mann", sage ich,
"Sie stehen doch jetzt schon unter Druck. Haben Sie denn mal
überlegt, wo der Drüsendampf verbleiben soll?" Herr Rastlos wirkt
plötzlich etwas ratlos und beschließt, unverzüglich bei Google
"Dampf" einzugeben. Er kommt bald wieder, da bin ich sicher.
Frau Doris Dralle ist Mitte der 50er und fragt nach einer
Brustverkleinerung. Selbst der Orthopäde habe gesagt (und der sage
normalerweise überhaupt nichts), eine derart zarte Wirbelsäule könne
unmöglich solch eine schwere Last tragen. Ich verspreche, mich bei der
Krankenkasse für die gewünschte OP einzusetzen. Frau Dralle wird von
ihrem etwas schmächtigen Ehemann Gotthilf, geborener Hecht begleitet.
Der steht - bildlich gesprochen - ja wirklich an vorderster Front und
mischt sich als insofern unmittelbar Betroffener ein: "Wir verlassen
uns da ganz auf Sie, Herr Doktor; wenn einer meiner Frau das Problem
nehmen kann, dann sind Sie das!" Plötzlich verspüre ich selbst einen
Druck auf der Brust und schaue verstohlen einmal kurz an mir herunter.
Hat man doch schon so viel Schreckliches von "Übertragungen"
gehört.
Da trifft es sich gut, dass jetzt Frl. Konstanze Karg an der Reihe ist.
"Herr Doktor, ich brauche eine Brustvergrößerung. Mein Freund
blättert immer in diesen Herrenmagazinen." Ich denke an die letzte
Patientin und antworte: "Da hätte ich vielleicht etwas für Sie
..."
Frau Waldhäuser-Wiesenthal, Lehrerin für Biologie und Religion, leidet
an der allerletzten Schulreform: Sie soll ab sofort die Evolutionslehre
mit der Schöpfungsgeschichte abgleichen. Dieses amtliche Ansinnen hat
sie innerlich zerrissen und krank gemacht. Sie kommt mit einer
Empfehlung ihrer besten Freundin, gegen die zunehmende schreckliche
Schulallergie doch unbedingt einen Versuch mit Bachblüten zu machen. Nun
ist Frau Waldhäuser-Wiesenthal der Natur ohnehin sehr zugetan, war auch
gerade mit Ihrer Klasse im Sumpfbiotop der Waldschule und fragt
hoffnungsvoll: "Herr Doktor, Blüten vom Bachbett, die können mir
doch bestimmt helfen?"
Ich erkläre mit gemischten Gefühlen, dass die Blüten nicht am Bach
gepflückt würden, vielmehr stamme diese Therapie von einem englischen
Arzt namens "Bach". "Übrigens enthalten Bachblüten nicht
etwa pharmakologische Bio-Wirkstoffe, sondern allein spirituelle
Essenzen", bedeute ich beruhigend und einfühlsam. Frau
Waldhäuser-Wiesenthal aber will dieser abrupten Wendung von der Botanik
zur Esoterik und damit vom Wissen zum Glauben nicht schon wieder folgen
müssen. Sie schaut mich an, als wäre nach dem Schulminister nun auch ich
von alle guten Geistern verlassen und beschließt, sich eine "Zweite
Meinung" an der Universität einzuholen.
30 Minuten Call-Center sind angesagt, bei uns heißt das noch etwas
altmodisch "Telefonsprechstunde". Als Arzt ist man ja
dissimulierender Simultant, also nebenher schnell den Container mit
diverser Post, Zeitschriften, Anfragen und Berichten gesichtet und
vorsortiert. Frau Gesine Geiz ist in der Leitung: "Sie betreuen doch
unsere Oma im Heim?" "Ja", antworte ich, "stimmt etwas
nicht?" Doch doch, meint Frau Geiz, Oma gehe es gut. Nur hätte
gerade Herr Geil von der Kasse angerufen und 200,00 € auf die Hand
geboten, wenn der Hausarzt Oma in das Disease-Management-Programm (DMP)
für Diabetiker einschreiben würde. Übrigens erhalte auch der Hausarzt
für seine Mühe Geld, nämlich 20,00 €. Oma bekäme ja offenkundig
Zuckerdiät durch die Sonde und genau das habe die Kasse jetzt bemerkt.
Herr Geil argumentiere nun, DMP-verwaltete Diabetiker würden länger
leben. Eigentlich schade, dass wir Oma selbst zu diesem Thema nicht mehr
befragen können, sie steht nämlich im 98. Lebensjahr und ist leider
schon etwas dement.
Herr Peter Pütt war 27 Jahre unter Tage und kann nicht verstehen, dass
ausgerechnet ihm die Knappschaft eine Kur verweigert. "Haben Sie
schon einmal eine Grubenfahrt gemacht, Herr Doktor?" Ich bejahe,
zeige insofern abgrundtiefes Verständnis und versuche dann einen
Konsens: " Wahrscheinlich ist der Knappschaft die Kohle
ausgegangen?!" Genau das aber kann sich Peter Pütt nun ganz und gar
nicht vorstellen, hat er doch gerade erst in der Knappschaftszeitung den
Verwaltungsneubau in Dresden bewundern dürfen. "Ich sage Ihnen, Herr
Doktor, dagegen ist der Zwinger eine Hundehütte!". Die Schlichtung
ist ganz offensichtlich gescheitert, also helfe ich Herrn Pütt bei der
Suche nach einem guten Anwalt.
Herr Berthold Bitter knallt mir 3 Tablettenschächtelchen auf den Tisch:
"Schauen Sie sich das an, Herr Doktor, was für einen Dreck mir der
Apotheker gegeben hat." Ich erkläre Herrn Bitter ruhig, dass die
Tabletten zwar anders heißen und anders aussehen, aber dennoch den
gleichen Wirkstoff enthalten wie die seit Jahren von mir verschriebenen
Präparate. Nur habe eben seine Kasse mit bestimmten Arzneifirmen
sogenannte Rabattverträge geschlossen. Herr Bitter scheint nicht zu
verstehen. Also führe ich weiter aus, dass seine Kasse vom
Arzneimittelhersteller eine Art Schutzgeld bekommt, wenn der Apotheker
statt der von mir verordneten Medikamente Präparate eben dieses
Herstellers abgibt. Welche Summen da genau fließen, wisse allerdings
niemand. "Aber das sind ja Maffia-Methoden" protestiert Herr
Bitter. Soll ich ihm da wirklich widersprechen ...?
5-Minuten-Pause. Eigentlich wollte ich jetzt einen Schluck
Nervenberuhigungstee trinken und meine Herztropfen nehmen. Daraus wird
aber nichts. Meine Assistentinnen berichten aufgeregt, bei der
Praxisgebühr gebe es eine Abweichung: Es seien 10,00 € zu wenig in der
Kasse. Da hilft dann nur noch eines: zählen, wieder zählen und noch
einmal zählen, die Patienten durchgehen, Listen vergleichen und
erforderlichenfalls mit Hilfe von Steuerberater, Krankenkasse, Bank und
Finanzamt den Fehlbetrag als solchen verbuchen. Den Urton Ulla Schmidt
habe ich noch gut im Ohr: "Bei der Praxisgebühr gibt es nichts zu
verwalten".
Gott sei Dank geht es nun aber zügig mit der Sprechstunde weiter. Herr
Nico Zarette, seines Zeichens bekennender Camel-User, hat Stress: Er
darf in seiner Stammkneipe nicht mehr rauchen. Damit ist aber auch sein
regelmäßiger Alkoholkonsum gefährdet, was das Gesamtproblem noch
erheblich verschärft. Nun hat er, wie durch eine Fügung, am Vorabend im
RTL-Gesundheitsmagazin von dem neuen Wundermittel gegen Nikotinsucht
erfahren. Er bittet um Verschreibung und hofft, dass er damit
schlagartig und ganz ohne eigenes Zutun das Rauchen vergessen, dafür
aber wenigstens weitertrinken kann. "So funktioniert das nicht, Herr
Zarette" erwidere ich und hole aus zu einem längeren Exkurs.
Frau Rosina Runde, nomen est omen, hat im Apothekenblatt von der
Ayurveda-Methode gelesen. "Herr Doktor, dabei wird warmes Öl auf den
nackten Körper gegossen". Ich sage: "Frau Runde, was sollen 125
Kilogramm Körper mit warmem Öl anfangen? Und außerdem hat doch diese
andere indische Methode, ich glaube, sie hieß Kamasutra, bei Ihnen auch
nicht geholfen..."
Leider komme ich gerade jetzt, wo es interessant wird mit meinen
Ausführungen nicht weiter. Herr Pingel von der Gesundheitskasse AVG
(Allgemeine Volks-Gesundheit) ruft an und hinterfragt die Verordnung
orthopädischer Strümpfe. "Herr Doktor, Sie haben unserer
Versicherten Frau Bettina Beinlich doch erst vor 4 Monaten ein Paar
aufgeschrieben". "Ja, Herr Pingel", antworte ich peinlich
berührt, "Frau Beinlich muß aber die Strümpfe doch irgendwann einmal
wechseln; schon nach dem letzten Besuch Ihrer Versicherten in unserer
Praxis mussten wir Duftspray anwenden."
Der Unmut verfliegt schnell, man ist ja schließlich Profi und außerdem
kommt gerade jetzt ein hochgradig hilfebedürftiger Patient: Herrn Rolf
Riester wurde nämlich die Rente verweigert. Und das ist ein wirklich
starkes Stück! Hält er doch seit nunmehr 19 Jahren für diesen Staat
seine Knochen hin, die Jahre der Ausbildung, Arbeitslosigkeit und
Qualifizierungsmaßen eingeschlossen. Und jetzt fällt dieses ignorante
Sozialgericht ein solch katastrophales Urteil! Ich erkläre sibyllinisch,
dass in diesem unserem Lande noch jeder das bekommen habe, was ihm
zustehe und verweise auf einen Einspruch beim Landes- und eine Berufung
beim Bundessozialgericht. Allerdings könne sich die Angelegenheit über
Jahre hinziehen. Herr Riester sieht rot und beschließt, erst einmal
"auszufeiern". Ich ziehe die gelbe Karte und sehe insofern einem
interessanten Gedankenaustausch mit dem Medizinischen Dienst der
Krankenkasse entgegen.
Kürzen wir ab und unterschlagen - auch aus Gründen der Diskretion - die
nächsten Patienten: die Junkies und Workaholics, die Gemobbten und
Geschlagenen, die zu Dicken und die zu Dünnen, die Verfolgten und
Vernachlässigten, die Gekündigten und Gekünstelten, die von der
Fachärzten Verbissenen und von den Krankenanstalten krank Entlassenen,
die von den Versorgungsstellen Unterversorgten und von den Pflegekassen
unpfleglich Behandelten. Ich vertraue diesbezüglich auf Ihre Phantasie.
Schließlich glaubt einem die Wahrheit ja doch keiner.
Dann aber gegen Ende der Sprechstunde der Paukenschlag: Ein Patient mit
hohem Fieber! Horst-Hermann Hals braucht ganz ohne Zweifel dringend
ärztliche Hilfe; er hat eine schwere, eitrige und, wenn ich mich nicht
irre, sogar doppelseitige Mandelentzündung! Sofort fühle ich all` mein
ärztliches Wissen und meine ganze medizinische Kompetenz gefordert - und
verschreibe Penicillin. So nimmt dann der Praxistag doch noch ein
erfülltes und befriedigendes Ende.
Kaum bin ich bei Anbruch der Nacht zu Hause, meint die beste aller
Ehefrauen: "Du siehst erschöpft aus, Du musst unbedingt einmal
abschalten. Ich habe Deinen Termin bei der Arzt-Selbsthilfegruppe
abgesagt und stattdessen Karten besorgt für Dr. Stratmann in Essen. Das
wird Dich aufbauen und auf andere Gedanken bringen, zumal als Gast auch
noch Dr. von Hirschhausen auftritt ..."
Franz von Seboca
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Bettler, Copyright © 1995 MultiMedia (Uwe Bartels) CD-Produktion / 2006
Dr. Puschmann