Ein ganz normaler Arbeitstag

Es ist noch Nacht, als ich meine Praxis betrete. Ich nutze diese Stunden ungestörter Konzentration zur Beantwortung höchst diffiziler Anfragen der Krankenkassen, wie z.B.: Warum ist unser Versicherter denn noch immer nicht gesund? Weshalb braucht er schon wieder Tabletten und Massagen? Benötigt dieser hochbetagte Patient wirklich noch einen Rollstuhl? Ist die im Krankenhaus geplante OP nicht doch ambulant durchführbar? Reicht statt der Kur nicht auch eine Turngruppe vor Ort? Und wer hat überhaupt Schuld an der Erkrankung unseres Versicherten?

Früher war ich mal Hausarzt

Üppig und bunt auch die in Rudeln auftretenden Formulare:
25 Multiple-Choice-Fragen pro Seite zuzüglich Freitext sind keine Seltenheit. Da rattert der nächtliche Nadeldrucker entzückt, manchmal aber auch etwas entrückt über die Bögen. Dann im Sinne eines Kontrastprogramms Papiere, die nicht EDV-gängig sind und deshalb dankenswerterweise einmal wieder die eigene Handschrift beüben.

Als Schmankerln zum Schluss die Anfragen der Rentenanstalten, Gerichte, Ämter, Berufsgenossenschaften, Versicherungen, Rechtsanwälte etc. etc. Vielleicht ahnen Sie spätestens jetzt, mit welch großer Freude ich schließlich im Morgengrauen meinen ersten heutigen Patienten begrüße.

Herr Rudi Rastlos leidet an einer vergrößerten Prostata. Ich habe ihm deshalb eine Resektion (=Schälung) empfohlen. Nun stürmt er herein, bis zum Platzen voll mit Infos aus seiner neuesten nächtlichen Internet-Recherche: "Herr Doktor, die Prostata wird heute nicht mehr geschält, sie wird verdampft!" "Guter Mann", sage ich, "Sie stehen doch jetzt schon unter Druck. Haben Sie denn mal überlegt, wo der Drüsendampf verbleiben soll?" Herr Rastlos wirkt plötzlich etwas ratlos und beschließt, unverzüglich bei Google "Dampf" einzugeben. Er kommt bald wieder, da bin ich sicher.

Frau Doris Dralle ist Mitte der 50er und fragt nach einer Brustverkleinerung. Selbst der Orthopäde habe gesagt (und der sage normalerweise überhaupt nichts), eine derart zarte Wirbelsäule könne unmöglich solch eine schwere Last tragen. Ich verspreche, mich bei der Krankenkasse für die gewünschte OP einzusetzen. Frau Dralle wird von ihrem etwas schmächtigen Ehemann Gotthilf, geborener Hecht begleitet. Der steht - bildlich gesprochen - ja wirklich an vorderster Front und mischt sich als insofern unmittelbar Betroffener ein: "Wir verlassen uns da ganz auf Sie, Herr Doktor; wenn einer meiner Frau das Problem nehmen kann, dann sind Sie das!" Plötzlich verspüre ich selbst einen Druck auf der Brust und schaue verstohlen einmal kurz an mir herunter. Hat man doch schon so viel Schreckliches von "Übertragungen" gehört.

Da trifft es sich gut, dass jetzt Frl. Konstanze Karg an der Reihe ist. "Herr Doktor, ich brauche eine Brustvergrößerung. Mein Freund blättert immer in diesen Herrenmagazinen." Ich denke an die letzte Patientin und antworte: "Da hätte ich vielleicht etwas für Sie ..."

Frau Waldhäuser-Wiesenthal, Lehrerin für Biologie und Religion, leidet an der allerletzten Schulreform: Sie soll ab sofort die Evolutionslehre mit der Schöpfungsgeschichte abgleichen. Dieses amtliche Ansinnen hat sie innerlich zerrissen und krank gemacht. Sie kommt mit einer Empfehlung ihrer besten Freundin, gegen die zunehmende schreckliche Schulallergie doch unbedingt einen Versuch mit Bachblüten zu machen. Nun ist Frau Waldhäuser-Wiesenthal der Natur ohnehin sehr zugetan, war auch gerade mit Ihrer Klasse im Sumpfbiotop der Waldschule und fragt hoffnungsvoll: "Herr Doktor, Blüten vom Bachbett, die können mir doch bestimmt helfen?"

Ich erkläre mit gemischten Gefühlen, dass die Blüten nicht am Bach gepflückt würden, vielmehr stamme diese Therapie von einem englischen Arzt namens "Bach". "Übrigens enthalten Bachblüten nicht etwa pharmakologische Bio-Wirkstoffe, sondern allein spirituelle Essenzen", bedeute ich beruhigend und einfühlsam. Frau Waldhäuser-Wiesenthal aber will dieser abrupten Wendung von der Botanik zur Esoterik und damit vom Wissen zum Glauben nicht schon wieder folgen müssen. Sie schaut mich an, als wäre nach dem Schulminister nun auch ich von alle guten Geistern verlassen und beschließt, sich eine "Zweite Meinung" an der Universität einzuholen.

30 Minuten Call-Center sind angesagt, bei uns heißt das noch etwas altmodisch "Telefonsprechstunde". Als Arzt ist man ja dissimulierender Simultant, also nebenher schnell den Container mit diverser Post, Zeitschriften, Anfragen und Berichten gesichtet und vorsortiert. Frau Gesine Geiz ist in der Leitung: "Sie betreuen doch unsere Oma im Heim?" "Ja", antworte ich, "stimmt etwas nicht?" Doch doch, meint Frau Geiz, Oma gehe es gut. Nur hätte gerade Herr Geil von der Kasse angerufen und 200,00 € auf die Hand geboten, wenn der Hausarzt Oma in das Disease-Management-Programm (DMP) für Diabetiker einschreiben würde. Übrigens erhalte auch der Hausarzt für seine Mühe Geld, nämlich 20,00 €. Oma bekäme ja offenkundig Zuckerdiät durch die Sonde und genau das habe die Kasse jetzt bemerkt. Herr Geil argumentiere nun, DMP-verwaltete Diabetiker würden länger leben. Eigentlich schade, dass wir Oma selbst zu diesem Thema nicht mehr befragen können, sie steht nämlich im 98. Lebensjahr und ist leider schon etwas dement.

Herr Peter Pütt war 27 Jahre unter Tage und kann nicht verstehen, dass ausgerechnet ihm die Knappschaft eine Kur verweigert. "Haben Sie schon einmal eine Grubenfahrt gemacht, Herr Doktor?" Ich bejahe, zeige insofern abgrundtiefes Verständnis und versuche dann einen Konsens: " Wahrscheinlich ist der Knappschaft die Kohle ausgegangen?!" Genau das aber kann sich Peter Pütt nun ganz und gar nicht vorstellen, hat er doch gerade erst in der Knappschaftszeitung den Verwaltungsneubau in Dresden bewundern dürfen. "Ich sage Ihnen, Herr Doktor, dagegen ist der Zwinger eine Hundehütte!". Die Schlichtung ist ganz offensichtlich gescheitert, also helfe ich Herrn Pütt bei der Suche nach einem guten Anwalt.

Herr Berthold Bitter knallt mir 3 Tablettenschächtelchen auf den Tisch: "Schauen Sie sich das an, Herr Doktor, was für einen Dreck mir der Apotheker gegeben hat." Ich erkläre Herrn Bitter ruhig, dass die Tabletten zwar anders heißen und anders aussehen, aber dennoch den gleichen Wirkstoff enthalten wie die seit Jahren von mir verschriebenen Präparate. Nur habe eben seine Kasse mit bestimmten Arzneifirmen sogenannte Rabattverträge geschlossen. Herr Bitter scheint nicht zu verstehen. Also führe ich weiter aus, dass seine Kasse vom Arzneimittelhersteller eine Art Schutzgeld bekommt, wenn der Apotheker statt der von mir verordneten Medikamente Präparate eben dieses Herstellers abgibt. Welche Summen da genau fließen, wisse allerdings niemand. "Aber das sind ja Maffia-Methoden" protestiert Herr Bitter. Soll ich ihm da wirklich widersprechen ...?

5-Minuten-Pause. Eigentlich wollte ich jetzt einen Schluck Nervenberuhigungstee trinken und meine Herztropfen nehmen. Daraus wird aber nichts. Meine Assistentinnen berichten aufgeregt, bei der Praxisgebühr gebe es eine Abweichung: Es seien 10,00 € zu wenig in der Kasse. Da hilft dann nur noch eines: zählen, wieder zählen und noch einmal zählen, die Patienten durchgehen, Listen vergleichen und erforderlichenfalls mit Hilfe von Steuerberater, Krankenkasse, Bank und Finanzamt den Fehlbetrag als solchen verbuchen. Den Urton Ulla Schmidt habe ich noch gut im Ohr: "Bei der Praxisgebühr gibt es nichts zu verwalten".

Gott sei Dank geht es nun aber zügig mit der Sprechstunde weiter. Herr Nico Zarette, seines Zeichens bekennender Camel-User, hat Stress: Er darf in seiner Stammkneipe nicht mehr rauchen. Damit ist aber auch sein regelmäßiger Alkoholkonsum gefährdet, was das Gesamtproblem noch erheblich verschärft. Nun hat er, wie durch eine Fügung, am Vorabend im RTL-Gesundheitsmagazin von dem neuen Wundermittel gegen Nikotinsucht erfahren. Er bittet um Verschreibung und hofft, dass er damit schlagartig und ganz ohne eigenes Zutun das Rauchen vergessen, dafür aber wenigstens weitertrinken kann. "So funktioniert das nicht, Herr Zarette" erwidere ich und hole aus zu einem längeren Exkurs.

Frau Rosina Runde, nomen est omen, hat im Apothekenblatt von der Ayurveda-Methode gelesen. "Herr Doktor, dabei wird warmes Öl auf den nackten Körper gegossen". Ich sage: "Frau Runde, was sollen 125 Kilogramm Körper mit warmem Öl anfangen? Und außerdem hat doch diese andere indische Methode, ich glaube, sie hieß Kamasutra, bei Ihnen auch nicht geholfen..."

Leider komme ich gerade jetzt, wo es interessant wird mit meinen Ausführungen nicht weiter. Herr Pingel von der Gesundheitskasse AVG (Allgemeine Volks-Gesundheit) ruft an und hinterfragt die Verordnung orthopädischer Strümpfe. "Herr Doktor, Sie haben unserer Versicherten Frau Bettina Beinlich doch erst vor 4 Monaten ein Paar aufgeschrieben". "Ja, Herr Pingel", antworte ich peinlich berührt, "Frau Beinlich muß aber die Strümpfe doch irgendwann einmal wechseln; schon nach dem letzten Besuch Ihrer Versicherten in unserer Praxis mussten wir Duftspray anwenden."

Der Unmut verfliegt schnell, man ist ja schließlich Profi und außerdem kommt gerade jetzt ein hochgradig hilfebedürftiger Patient: Herrn Rolf Riester wurde nämlich die Rente verweigert. Und das ist ein wirklich starkes Stück! Hält er doch seit nunmehr 19 Jahren für diesen Staat seine Knochen hin, die Jahre der Ausbildung, Arbeitslosigkeit und Qualifizierungsmaßen eingeschlossen. Und jetzt fällt dieses ignorante Sozialgericht ein solch katastrophales Urteil! Ich erkläre sibyllinisch, dass in diesem unserem Lande noch jeder das bekommen habe, was ihm zustehe und verweise auf einen Einspruch beim Landes- und eine Berufung beim Bundessozialgericht. Allerdings könne sich die Angelegenheit über Jahre hinziehen. Herr Riester sieht rot und beschließt, erst einmal "auszufeiern". Ich ziehe die gelbe Karte und sehe insofern einem interessanten Gedankenaustausch mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkasse entgegen.

Kürzen wir ab und unterschlagen - auch aus Gründen der Diskretion - die nächsten Patienten: die Junkies und Workaholics, die Gemobbten und Geschlagenen, die zu Dicken und die zu Dünnen, die Verfolgten und Vernachlässigten, die Gekündigten und Gekünstelten, die von der Fachärzten Verbissenen und von den Krankenanstalten krank Entlassenen, die von den Versorgungsstellen Unterversorgten und von den Pflegekassen unpfleglich Behandelten. Ich vertraue diesbezüglich auf Ihre Phantasie. Schließlich glaubt einem die Wahrheit ja doch keiner.

Dann aber gegen Ende der Sprechstunde der Paukenschlag: Ein Patient mit hohem Fieber! Horst-Hermann Hals braucht ganz ohne Zweifel dringend ärztliche Hilfe; er hat eine schwere, eitrige und, wenn ich mich nicht irre, sogar doppelseitige Mandelentzündung! Sofort fühle ich all` mein ärztliches Wissen und meine ganze medizinische Kompetenz gefordert - und verschreibe Penicillin. So nimmt dann der Praxistag doch noch ein erfülltes und befriedigendes Ende.

Kaum bin ich bei Anbruch der Nacht zu Hause, meint die beste aller Ehefrauen: "Du siehst erschöpft aus, Du musst unbedingt einmal abschalten. Ich habe Deinen Termin bei der Arzt-Selbsthilfegruppe abgesagt und stattdessen Karten besorgt für Dr. Stratmann in Essen. Das wird Dich aufbauen und auf andere Gedanken bringen, zumal als Gast auch noch Dr. von Hirschhausen auftritt ..."

Franz von Seboca

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Bettler, Copyright © 1995 MultiMedia (Uwe Bartels) CD-Produktion / 2006 Dr. Puschmann