Die Wirtschafts- und Finanzkrise

Wirtschafts- und Finanzkrise

Dr. Franz von Seboca gebührt große Anerkennung, dass er uns "Nicht-Bankern" auch komplizierteste Zusammenhänge einfach und verständlich vermitteln kann.

Im Folgenden erklärt er uns die Wirtschafts- und Finanzkrise exemplarisch am Aufstieg und Fall einer Berliner Wirtschaft, pardon, Kneipe:

Barbara Koslowski, in der Szene nur als "Babsi" bekannt, führt die miserabel laufende Wirtschaft "Schneller Trost" im Berliner Bezirk Kreuzberg. Nach einem Pfändungsbeschluß ihrer Hausbank steht sie kurz vor der Insolvenz. Mit Hilfe der angesehenen Unternehmensberatung "Nepp & Co. KG" erhält sie ein allerletztes Überbrückungsdarlehen und entwickelt zugleich ein neues, in die Zukunft weisendes Geschäftsmodell: Zur Ankurbelung ihres Umsatzes gibt sie unbeschränkten Kredit. Alle Getränke ihrer Stammkunden werden auf einer Art virtuellem Bierdeckel, genannt Personal-Pappdisc angeschrieben.

Dank exzellenter Arbeit der überregionalen Werbeagentur "Alko-Promotions" spricht sich dieses Szene-Highlight in Kreuzberg und darüberhinaus schnell herum und zieht nicht zuletzt auch zahlreiche arbeitslose Hartz-IV-Empfänger, Zuwanderer und andere sozial benachteiligte Mitbürger an. Immer mehr Kundschaft drängt sich in der Wirtschaft, die jetzt - nicht ganz zufällig - "Babsi`s Bermuda-Bar" heißt. Da sich die Kunden um die Bezahlung keinerlei Sorgen machen müssen, kann Babsi die Preise für Bier, Schnaps und Wein fast wöchentlich anheben. Und das wirkt sich bilanztechnisch ganz nebenbei als enorme zusätzliche Umsatzsteigerung aus.

Die Wirtschaft hat jetzt 24 Stunden am Tag geöffnet, was die Gäste zu unmittelbaren Anpassungsmaßnahmen bewegt: Kaum einer von ihnen will künftig wirklich noch arbeiten. Vom Arbeitsamt erhält Babsi deshalb Zulagen, stellt sie doch dank ihres Einsatzes 5 Stellenvermittler frei. Die aber können sich nun endlich wichtigeren Verwaltungsaufgaben zuwenden, weisen Babsis Kunden den Status "in Anpassungsmaßnahme" zu und rechnen sie damit - politisch korrekt - aus der Arbeitslosenstatistik heraus. Von mehreren Journalen und Wirtschaftsverbänden wird Babsi zur "Jungunternehmerin des Jahres" gewählt, bekommt zahlreiche lukrative Preise und tritt in diversen Talk-Shows auf. Wegen ihrer integrativen Arbeit und des hohen Migrantenanteils der Kundschaft überreicht ihr der Senat den angesehenen und hochdotierten Berliner Kulturpreis für Mitmenschlichkeit und Völkerverständigung.

Dem benachbarten börsennotierten Ruin-Großklinikum beschert "Babsi`s Bermuda-Bar" einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung infolge eines massiven Zustroms chirurgischer, urologischer, internistischer und psychiatrischer Notfälle. Die Krankenhausverwaltung kann endlich den schon lange geplanten Reha-Trakt anbauen und einen gewinnbringenden Fahrdienst als Pendelverkehr zwischen Klinik und Kneipe einrichten.

Babsi hat inzwischen das Geldinstitut gewechselt und ist geachtete und hochangesehene Kundin einer überregionalen Großbank geworden. Der für sie zuständige junge, dynamische Finanzberater ist von ihrem Umsatz geradezu überwältigt, gratuliert zum schier unglaublichen Geschäftserfolg und bietet ihr eine unbegrenzte Kreditlinie an.

Um die Absicherung der Gelder muß er sich keinerlei Sorgen machen, er hat ja die Schulden zehntausender trinkgewaltiger Gäste als Deckung. Zur Refinanzierung widmen international agierende Investmentbanker die Bierdeckel in verbriefte Schuldverschreibungen um. Die PR-Abteilung der Bank erfindet für diese Obligationen so griffige Bezeichnungen wie "Suffinvest", "Alkobond" oder "Thekohyp" und vereinigt sie im extra neu aufgelegten "Bermuda-Fonds".

International laufen die Papiere unter der modernen Bezeichnung RBI (Real Bermuda Invest, sprich: ArBiEi) und werden zur Beruhigung der Bankenaufsicht durch eine kirgisische Online-Rückversicherung verbürgt. Deren Garantieerklärung liegt der Bank als E-Mail vor.

Die RBI-Papiere, bis dahin nur Insidern bekannt, werden wegen der jetzt verbrieften Bonität von mehreren Rating-Agenturen mit ausgezeichneten Bewertungen versehen. Zwar weiß niemand ganz genau, was sich hinter der Abkürzung wirklich versteckt; dank steigender Kurse aber werden diese märchenhaften Anlagen ein Renner für institutionelle Investoren und betuchte Privatleute.

RBI ist der Hit der Branche, Vorstände und Investmentspezialisten der Bank erhalten Boni im zweistelligen Millionenbereich.

Trotz immer noch steigender Kurse schlägt der wegen zunehmend unübersehbarer globaler Verflechtungen neu eingestellte Risk-Manager Ludwig E. Basel vor, mit der Realisierung der Bierdeckelwerte zu beginnen. Er wird noch am selben Tag aufgrund seiner das Geschäftsklima negativ belastenden Grundhaltung fristlos entlassen. Der Vorstandsvorsitzende Ackerspieler wird mit den Worten zitiert, man werde sich doch dieses schöne Geschäft nicht einfach "verbaseln" lassen. Erst anlässlich einer milliardenschweren Fehlspekulation mit VW-Aktien beschließt die Bank, die ältesten Deckel von Babsis Kunden zur Kompensation der entstandenen Liquiditätslücken abzukassieren ("fällig zu stellen" nennen das die Banker).

Völlig überraschenderweise aber und von niemandem auch nur im Entferntesten vorhergesehen können Babsis Stammkunden ihre Schulden nicht bezahlen. Bei manch einem übersteigen die aufgelaufenen Kredite das verfügbare Jahresbudget um ein Mehrhundertfaches. Und die kirgisische Online-Rückversicherung ist und bleibt irritierenderweise "offline".

Durch die gezielte Indiskretion eines Mitbewerbers verlieren "Suffinvest", "Alkobond" und "Thekohyp" auf einen Schlag 98% ihres Wertes. "Babsi`s Bermuda-Bar" geht pleite. Babsi selbst liegt seit ihrer Rückkehr aus Liechtenstein von den Medien gut abgeschirmt auf der Privatstation der Ruin-Kliniken. Die Wein- und Schnapslieferanten gehen in Konkurs, hatten sie sich doch jahrelang mit RBI-Vorzugspapieren bezahlen lassen. Auch die globalen Folgen sind unübersehbar: Weltweit setzt ein gewaltiges Heuschreckensterben ein.

Der Babsi beliefernde Biergroßhandel, Tochter der umsatzstärksten deutschen Brauereikette, reißt diese wegen der hohen Außenstände mit in die Zahlungsunfähigkeit. Beide aber werden schließlich wegen der besonderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung der Bierindustrie von der Regierung unter deren "Milliarden-Schutzschirm" gestellt, dadurch weitestgehend entschuldet und im Nachgang sofort gewinnbringend von einer polnischen Investorengruppe übernommen.

Die Bank entlässt als Vorleistung 2500 Mitarbeiter und wird darauf hin durch den Staat mit Steuergeldern vor der Insolvenz gerettet. Zuvor hatte sich der Bankvorstand noch schweren Herzens eine Verdoppelung seiner Gehälter genehmigt, verzichtet dafür aber publikumswirksam im laufenden Geschäftsjahr auf den Bonus …

Barbara Koslowski, unheilbar vom Virus des Finanzkreislaufes infiziert, gründet in Berlin-Mitte unter dem Namen ihres südamerikanischen Lebensgefährten José Desperado eine neue Wirtschaft.

© Franz von Seboca