Herbie Hancock - The Imagine Project
Nach dem 2007er Album "River", das ganz den Songs der großen
Joni Mitchel gewidmet war und zwei Grammys erhalten hat, jetzt also 2010
eine neue CD mit dem Titel "The Imagine Project". Und die erste
Ahnung trügt nicht, die Aufnahmen beginnen wirklich mit einer
Interpretation des berühmten Lennon-Songs.
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Bereits beim Anspiel ahnt der Hörer, was da auf ihn zukommt. Ist das
noch Jazz? Oder Jazz-Rock? Oder Fusion? Oder Crossover? Oder
World-Music? Oder Easy Listening? Oder gar Pop? Ist das E- oder U-Musik?
Ist das noch Hancock? Ich bin froh, nicht die Scheibe im Plattenladen in
ein bestimmtes Genre-Fach stecken zu müssen. Hancock wird zwar von manch
einem schon lange als der "Popstar des Jazz" gesehen und von
vielen anderen als Grenzgänger und Suchender zwischen Jazz, Rock, Pop,
Funk und anderen Musikstilen. Aber jetzt dies!
Ich ahne, was die eingefleischten Hardcore-Hancock-Fans bereits beim
Opener "Imagine" fühlen und denken werden. Sie werden eine
Kommerzialisierung, eine Marktorientierung beklagen, gar einen Verrat
innerster Jazz-Werte und ein Abgleiten in "Bombast" und
"Kitsch". Ich aber gehe ganz unvoreingenommen, ohne Erwartungen
und ohne Schubladendenken an diese Musik heran, will nur spüren, ob
bestimmte Saiten in mir mitschwingen, interessiere mich einzig dafür, ob
mir Melodien, Harmonien und Rhythmen gefallen und ob das Arrangement
stimmt. Auch kenne ich Hancock aus seinen früheren Schaffensperioden gar
nicht so gut, kann und muß also glücklicherweise nicht unbedingt
vergleichen. Und wenn einige der neuen Stücke tatsächlich
"radiotauglich" oder gar "massentauglich" sind, wäre das
denn wirklich schlimm? Ist nur elitäre Musik gute Musik?
Klar, die beiden ersten Stücke, nämlich John Lennons "Imagine"
und Peter Gabriels "Don`t give up" sind als Rock-Pop-Songs mit
einer nur kleinen Prise Jazz arrangiert – aber warum auch nicht?
Jedenfalls gefallen mir diese Interpretationen keineswegs schlechter,
als die Originale. Wunderbar, wie die afrikanischen Perkussionisten von
Konono No 1 den Song "Imagine" nach einem
europäisch-amerikanischen Beginn rhythmisch und harmonisch in die
Menschheitswiege Afrika rückverlagern. Und immer höre ich wohltuend
zurückgenommen, aber die Songs zusammenhaltend Hancocks
impressionistisch getupftes Piano heraus, als hätte Debussy die Partitur
geschrieben. Und wenn auch das Intro - wohl bewusst werbewirksam, nichts
desto weniger aber berührend und beseelt - von Pink und Seal gesungen
wird, eröffnen doch gerade diese Namen dem Werk ein andernfalls sonst
niemals erreichtes Publikum.
Beim Weiterhören werden die Stücke komplexer und es wird schnell klar,
was dieses Projekt des bekennenden Buddhisten Hancock wirklich will:
nämlich ein bewusstes Eintreten für solche Ziele wie Weltfrieden,
Toleranz, Humanität und Respekt vor der Schöpfung. Wenn wir - trotz
aller derzeit offenkundigen Unerfüllbarkeit - genau diese Visionen
eines Tages nicht mehr in uns tragen sollten, haben wir als Menschen auf
diesem Planeten letztendlich verloren. Wie sagt John Lennon in
"Imagine”: "You may say I am a dreamer, but I`m not the only
one”. Warum sollte ein Mensch wie Hancock mit jetzt 70 Jahren nicht auch
einmal träumen dürfen? Wem muss er noch etwas beweisen? Der späte
Beethoven hat in seine 9. Sinfonie Schillers Ode an die Freude mit dem
Zitat "Alle Menschen werden Brüder" aufgenommen, ist aber
deswegen meines Wissens nie als "Träumer" oder gar "naiver
Weltverbesserer" diskreditiert worden.
Ich hoffe, die Hardcore-Jazzer bekommen keine Koliken, wenn ich bei
Hancocks Imagine-Projekt an die beiden großen internationalen
Maffay-Zyklen unter dem Namen "Begegnungen" denke. Wer diese
beiden Platten nicht kennt, sollte vielleicht auch dort einmal
unvoreingenommen hineinhören. Mindestens programmatisch sind die
Ähnlichkeiten nicht zu übersehen. Vielleicht hat ja Musik doch etwas
Völkerverbindendes? Auch der klassischen Musik verpflichtete Künstler
wie der Cellist Yo Yo Ma haben ähnliche Projekte gestartet; Yo Yo Ma
nennt sein grenzüberschreitendes Vorhaben
"Seidenstraßen-Projekt".
Ein Blick auf die Liste der Mitwirkenden lässt ahnen, was da auf uns zu
kommt: Dave Matthews, Anoushka Shankar, Jeff Beck, The Chieftains, John
Legend, India Arie, Seal, Pink, Columbiens Latino-Star Juanes, der
Slide-Gitarrist Derek Trucks, Susan Tedeschi, Chaka Khan, K'Naan,
Wayne Shorter, James Morrison, aus Brasilien Ceu, Lisa Hannigan, die aus
dem Kongo stammenden Gruppe Konono No. 1 und der Afrikaner Oumou Sangaré
aus Mali. Bewusst sind die 10 Titel - soweit möglich - in
unterschiedlichen Regionen unserer Erde aufgenommen worden (teils
allerdings als Overdubs), um authentisch zu sein. Hancock war über ein
Jahr lang global unterwegs. So hören wir neben westlichen
Klängen südamerikanische Latin-Rhythmen, asiatisch-indische Töne und
arabisch-afrikanische Harmonien.
Allein die Titel der Songs zeigen schon die Programmatik des Albums auf:
01. Imagine
02. Don`t give up
03. Tempo de Amor
04. Space Captain
05. The Times, they are a` changin`
06. La Tierra
07. Tamatant Tilay / Exodos
08. Tomorrow never knows
09. A change is gonna come
10. The song goes on
"The Imagine Project" ist aus Hancocks Idee entstanden, Musik
als weltumspannendes Bindeglied verschiedenster kultureller Identitäten
zu nutzen, um wenigstens musikalisch eine gemeinsame Vision von Frieden
und globaler Verantwortung zu etablieren. Musik also als Ausdruck der
menschlichen Vielfältigkeit, aber auch als Hinweis auf den letztlich
gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame Verantwortung. Gibt es eine
universellere Sprache als Musik?!
Hancock sagt in verschiedenen Interviews sinngemäß: "Wir haben so
viele Probleme auf der Welt, eine Kultur alleine kann damit gar nicht
fertig werden. Daher wollte ich ein Zeichen setzen und die Kulturen
zusammenbringen. Mir ist wichtig, so viel wie möglich von der jeweiligen
Kultur mitzubekommen. Und wenn ich dort bin, dann sauge ich die Kultur
mit allen Sinnen in mich auf. Alles, was ich wollte, ist Musik machen.
Da hat es mich nicht gekümmert, was das jetzt gerade für ein Genre ist.
Mir war nur wichtig, dass unterschiedliche Musikrichtungen vertreten
sind. Neue Ideen entstehen nur im Dialog. Wenn man sich vor fremden
Kulturen verschließt, beraubt man sich der Möglichkeit, neue Lösungswege
für Probleme zu entdecken. Was die Menschen so faszinierend macht, ist
ja nicht die Tatsache, dass wir alle derselben Spezies angehören,
sondern dass eine einzige Spezies so viele Unterschiede zulässt. Es geht
um Frieden. Wir sind alle Mitglieder einer einzigen Familie, jeder von
uns. Es ist meine erste globale Platte, aufgenommen in mehreren
Sprachen, entstanden in verschiedenen Kulturkreisen. Eine Art von
Globalisierung, die wir wollen, nicht die Globalisierung der Politiker
und der Finanzjongleure. Dieses Album handelt von der Macht und
Schönheit globaler musikalischer Zusammenarbeit als einem Weg zum
Frieden. Jeder kann was dafür tun. Ich selbst habe nach und nach
angefangen, ganz unterschiedliche Musiker aus verschiedenen
Kulturkreisen zu fragen, ob sie bei diesem Projekt mitmachen wollen.
Wenn du die Leute so respektierst, wie sie sind, dann öffnen sich viele
und du kreierst die wahre Form der Globalisierung: eine menschliche.
Deshalb übrigens habe ich mir dieses Werk selbst zu meinem 70.
Geburtstag geschenkt."
Soweit Herbie Hancock in Interviews und Statements. Kämen diese Sätze
aus dem Munde eines Politikers, würde man sie - wohl zurecht - für leere
Versprechungen halten. Hancock aber hat seinen Visionen ja nachweisbar
musikalische Taten folgen lassen.
Nach meiner Meinung gibt es auf der CD nicht einen einzigen schwachen
Titel. Aber natürlich habe ich einige besondere Favoriten. Da ist
beispielsweise "Don`t give up" aus der Feder von Peter Gabriel.
Das Stück erzeugt mit der fragilen, etwas an Sting und auch an Gabriel
selbst erinnernder Leadstimme von John Legend und dem beseelten
Gänsehaut-Refrain von Pink eine melancholische, ja fast intime
Atmosphäre. Und dann diese wunderbar eingestreuten impressionistischen
Pianofiguren Hancocks im Duett mit Dean Parks singender Gitarre,
getragen von einem entspannt-unaufgeregten Fundament der Rhythmusgruppe.
Eindringlicher kann man nicht aufgefordert werden, niemals aufzugeben.
Dann "Space Captain" mit der Bluesröhre Susan Tedeschi und Derek
Trucks, dem begnadeten Slide-Gitarristen, der vielen von uns spätestens
seit Claptons letzter Welttournee und auch aus dessen Gitarren-Festivals
bekannt ist. Schade, dass der Improvisationswettstreit zwischen Hancock
und Trucks aus Kapazitätsgründen nicht länger dauern durfte, denn
spätestens hier sind wir wieder beim vielleicht zwischenzeitig etwas
vermissten Jazz. Vielleicht nur noch einmal zur Erinnerung: Jazz ist
absolute Freiheit des Einzelnen innerhalb einer vorab von allen
Beteiligten vereinbarten strengen äußeren Form.
Wenn Dylans "The times, they are a`changin´” von Hancock arrangiert
wird, klingt diese Hymne natürlich nicht mehr nach dem Original der 60er
Jahre, eher schon wegen der zurückgenommenen Tempi nach Dylans eigenen
späten Interpretationen, wie z.B. auf dem MTV-Unplugged-Mitschnitt. Den
Vokalpart übernimmt Lisa Hannigan, und zwar teils hauchend, teils
glockenklar - der Meister selbst dürfte an dieser Interpretation seine
Freude haben, sofern sich Dylan heute überhaupt noch über irgendetwas
freuen kann. Und dann die durch Fiddel, Dudelsack und Pipe irisch
inspirierte Untermalung der Chieftains und die wunderbare rein
instrumentale Koda mit dem Gitarren-Fingerpicking Lionel Louekes im
Dialog mit Hancocks Pianosplittern! Ein Beispiel großartiger
harmonischer Expansion der Ursprungsmelodie.
Ganz anders das arabisch-afrikanisch-karibische Medley aus Alhassane Ad
Touhamis "Tamatant Tilay" und Bob Marleys "Exodus" mit
Leadsänger K`NAAN, der dem Bluesrock verpflichteten Tuareggruppe
Tinariwen aus Mali und der mexikanisch inspirierten US-Rockband Los
Lobos, das uns nun endgültig dem westlichen Kulturkreis entführt und mit
seinem pochenden Rhythmus-Ostinato etwas mantraartiges hat.
Der wohl nicht zufällig letzte Titel auf der Platte ist "The Song
goes on" von Larry Klein, der auch das gesamte Album zusammen mit
Herbie Hancock arrangiert und produziert hat. Dass wir hier auf unserer
Weltreise in Indien angekommen sind, wird sofort durch Anoushka Shankars
Sitarspiel und Chaka Khans charakteristischen Gesang klar. Aber dann die
Überraschung mit Wayne Shorters Sopran-Saxophon in inniger und
spielfreudiger Zwiesprache mit Shankars Sitar! Und all` das über den
sensiblen Pianoläufen Hancocks. Hat es das vorher schon mal gegeben? Es
wird Sie aber sicher an dieser Stelle nicht mehr wundern, wenn ich Ihnen
sage: das perfekte Arrangement funktioniert grandios! Sobald der letzte
Ton verklingt, drückt man automatisch auf den Wiederholungsknopf.
Das also sind meine ganz speziellen Favoriten, Sie selbst werden wohl
andere Stücke auswählen. Dass Sie aber gar nichts Mitreißendes auf
diesem Album finden werden, kann ich mir kaum vorstellen. Es sei denn,
Sie erwarten Hancock-Jazz wie auf Blue Note aus den frühen 60ern oder
wenig später mit dem Miles Davis-Quintett und wollen sich partout nicht
überraschen lassen.
Ich sage diesem wunderbaren, weil durchaus nicht glatten und ganz sicher
sogar heftig polarisierenden Werk einen großen Erfolg voraus und würde
mich nicht wundern, wenn wir in einigen Jahren einen Nachfolger auf dem
Plattenteller haben sollten. Schließlich gibt es noch Australien und
andere ozeanische Länder zu bereisen, zudem Japan und China und warum
eigentlich nicht auch Russland? Allerdings, wenn Hancock wiederum - wie
auf dem jetzt vorgelegten Album - alle Künstler vor Ort besuchen wollte,
müssen wir wohl doch noch etwas länger Geduld haben. Aber vielleicht
überrascht uns Herbie Hancock demnächst auch wieder mit etwas ganz
anderem, unerwarteten …
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zur nächsten Rezension
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