Keith Jarrett - Rio

Keith Jarrett Rio

Neue Solo-Improvisationen des Altmeisters dieser Gattung! Das Konzert wurde aufgezeichnet am 9.4.2011 in Rio de Janeiro. Wer hätte gedacht, dass sich Keith Jarrett noch einmal solch eine Schwerstarbeit "antun" würde! Bleibt die spannende Frage: Was kommt in den 15 als "Parts" bezeichneten Stücken auf uns zu?
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Gehen wir die einzelnen Nummern einmal improvisierend durch und lassen dabei der freien Assoziation ihren Lauf:

Part 01: Der Meister holt gleich zu Beginn den Hammer raus. Staccatos dominieren, Sequenzen und Bögen sind dagegen eher versteckt. Als Klanggemälde gesehen haben wir ein recht abstraktes Bild vor uns, das sich nicht jedem sofort erschließen dürfte. Musikalisch sind wir in der Post-Stockhausen-Ära. Der Beifall des Publikums ist eher verhalten.

Part 02: "Der Dissonanzen sind genug gewechselt, so lasst uns Harmonien hören" muss sich Jarrett gedacht haben und spielt ein langsames, lyrisches Stück, das an den Impressionisten Debussy erinnert. Die Tupfer auf der Tonleinwand lassen Konturen erkennen. Ich sehe Boote auf einem großen Strom träge dahintreiben. Der Applaus nimmt zu.

Part 03: Ein zu Beginn langsames, aber rhythmisch geprägtes Stück. Nach und nach schält sich eine quirlige Melodie heraus. Wir sind zuvor wohl gegen den Strom gerudert und jetzt an der sprudelnden Quelle angelangt. Die liedhafte Improvisation reizt zum Mitsingen, pardon, Mitbrummen – und das tut Keith Jarrett dann auch ausgiebig. Erstmals tobt das Publikum.

Part 04: "Nun mal langsam", denkt sich der Meister, "ich bin doch kein Popstar", kehrt zu Debussy zurück und nimmt uns als Treibgut wieder mit stromabwärts. Selbst das Singen stellt er ein, und das will schon etwas heißen.

Part 05: Ein reinrassiger Rock-Song mit Jazz- und Swing-Appeal. Sie werden wohl kaum still sitzen bleiben können - und Keith geht es offenbar ganz ähnlich. Man könnte meinen, wir wären schon bei den Zugaben angelangt. Kein Samba, aber ähnlich heiß: Rio kocht.

Part 06: Rockig-rhythmisch geht`s weiter, aber die Grundstimmung verdunkelt sich etwas. Um im (Klang)-Bild zu bleiben sind wir jetzt bei "Sonic Youth" und "Nirvana" angelangt.

Part 07: Eine romantisches Stück, sehr zart, lyrisch, einfühlsam. Man hört die Melodie, obwohl Keith nur die Begleitung spielt.

Part 08: Auch liedhaft, aber beschwingter, swingender. Ein heiteres, volksliedhaftes Stück. Keith Jarrett jazzt und rockt Brahms in der Bearbeitung von Ravel - und singt wieder begeistert mit.

Part 09: Ein (wohl gerade eben neu aufgefundenes?) Impromptu von Schubert, doch offensichtlich in der Bearbeitung von Skriabin. Bei solch großer Musik verbietet sich eine gesangliche Unterstützung. Das Publikum aber ist dennoch auch so schwer begeistert.

Part 10: Jarrett besinnt sich nach so viel Wohlklang, dass er im Verkaufsregal unter "Jazz" gelistet ist und haut uns eine Serie dissonanter Läufe um die Ohren. Eine halsbrecherische Jazz-Etude. Gnade dem, der sie nachzuspielen versucht. Rio aber goutiert inzwischen auch solch schräge Töne.

Part 11: Eine Bluesvariation, die ins Herz und gleichermaßen in die Beine geht. Jarrett zum Tanzen …

Part 12 und Part 13: Nach dem Blues wird es auf andere Art seelenvoll, und das gleich im Zweierpack. Beide Stücke könnten von einem der großen slawischen Meister in der Nachfolge Tschaikowskys stammen, ich tippe mal auf Rachmaninow. Jarrett zum Träumen, was nicht gerade häufig ist. Das Publikum ist aus dem Häuschen.

Part 14: Das Stück hat das Zeug zu einem Jazz-Standard. Rio swingt stehend mit.

Part 15: Zum Schluss wird es noch einmal klassisch. Wieder ein wohl neu entdecktes Impromptu von Schubert, diesmal aber in der Bearbeitung von Chopin. Es könnte gut sein, dass Sie eine Gänsehaut bekommen.

Fazit: Ein absolutes Traumkonzert! Vor allem für Hörer, die unvoreingenommen absolute Musik lieben, also nicht zuletzt auch Klassik, Rock und Blues. Weniger allerdings etwas für reine Jazz-Puristen. Der Solo-Pianist Jarrett auf dem Gipfel seines universellen musikalischen Ausdruckvermögens.

Ob wir allerdings Jarretts Begleitgesänge wirklich brauchen, darüber darf getrost gestritten werden.

Auch klangtechnisch ist die Aufnahme eine Erleuchtung. Das Klavier ist absolut rein und transparent, aber auch kraftvoll und dynamisch eingefangen.

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