Hannes Wader live (2015)
Viele unvergessliche Wader-Liederabende hab` ich miterleben dürfen.
Hannes allein, mit Begleitband oder mit Wecker und Mey. Manches Konzert
wurde aufgenommen und später veröffentlicht, aber Mitschnitte eines
Solo-Auftritts gab es bisher noch nicht. Erst jetzt wird diese Lücke mit
der nebenstehenden CD geschlossen.
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Das Album startet mit "Heute hier, morgen dort" von
"7 Lieder" aus 1972. Ein Wader-Konzert ohne diesen Song, diese
Hymne ist kaum vorstellbar. Meist schließt Hannes den Abend damit ab,
das Lied eignet sich aber - wie man hier hört - auch bestens als Opener.
Bringt es doch eine sich mir schon lange offenbarende Wader-Maxime auf
den Punkt: Nicht wurzeln, niemals verharren, in Bewegung bleiben, offen
und neugierig sein, notfalls sich auch bekennen, ja sogar kämpfen. Dabei
ist dieser Wader-Klassiker nicht einmal eine Eigenkomposition, er klingt
nur so. Das wird mir allerdings erst dann wieder bewusst, als ich die
eingeschlossenen englischen Originalverse höre.
Waders Stimme ist dunkler und damit (eindrucks)voller als vor 43 (!)
Jahren. Das Gitarrenspiel ist eher noch virtuoser, jedenfalls vermisst
man den in der Originalversion an der 2. Gitarre mitmusizierenden, von
mir hochgeschätzten Werner Lämmerhirt nicht.
Und das stimmt (umgebrochen) so durchgehend für alle weiteren Titel
dieser Live-CD. Ben Ahrens hat die Tour 2014/15 an zahlreichen Abenden
mitgeschnitten. An welchem Ort die letztlich ausgewählten Versionen
dargeboten worden sind, verschweigt das ansonsten tadellose Booklet.
Übrigens klingt die gesamte Doppel-CD wie "aus einem Guss", als
wäre sie wirklich an einem einzigen Abend aufgenommen worden. Sind schon
Waders Studioalben durchgehend klangtechnisch auf hohem Niveau, so
klingt diese Produktion noch einmal lebendiger, ja beinahe audiophil.
Hannes ist nah dran am Mikro und damit nah dran an uns. Eine
herausragende Stimme, eine versierte Folk-Gitarre, nachdenkenswerte
Texte, schöne Melodien, eine tadellose technische Umsetzung, was braucht
es mehr!
Nachfolgend einige Gedanken zu den Liedern der Doppel-Live-CD:
Nach der vom Publikum begeistert aufgenommenen Eingangshymne
folgt "Hotel zur langen Dämmerung" vom Album "Kleines
Testament" aus 1976. Ich erinnere mich noch gut, dass ein mir
befreundeter Lehrer den Text zum Thema einer Deutsch-Klassenarbeit
gemacht hat. Die Schüler sollten eine Interpretation versuchen, zeigten
sich aber offenkundig etwas überfordert. Waren sie doch noch in der
Grundschule, als mein Freund seine 1968er Prägung erfuhr. Ich lade Sie
hiermit ein, sich selbst einmal an eine Interpretation der
Verschlüsselungen heranzuwagen. "Hotel zur langen Dämmerung" ist
einer der 12 besten Wader-Songs, perfekter geht es eigentlich nicht.
Genau deshalb wird man ihn auch nie im Radio hören.
"Griechisches Lied" kommt von "Und es wechseln die
Zeiten" aus 2004. Hannes hat einer griechischen Weise deutsche Verse
hinzugefügt und die schöne Melodie in ein tänzerisches 7/8 gesetzt. Eine
sehr eindrucksvolle Hommage an südländische Gastfreundschaft und
mediterrane Wärme. Die Thematik erinnert mich an Reinhard Meys "Drei
Stühle" und erweckt in einem Preußen vor allem eines: Sehnsucht.
"Im Wartesaal zum großen Glück" ist eine Komposition von
Walter Andreas Schwarz, 1956 für den Europäischen Song Contest
geschrieben. Ein von Wader zu Recht in sein Programm genommenes,
beklemmendes Lied. Ich wage die Behauptung, dass der angesprochene
Wartesaal heute deutlich voller wäre als vor 60 Jahren, wenn auch aus
anderen Gründen. Mir war das Lied bisher unbekannt.
"Charley" ist eine Wader-Eigenkomposition. Ein
"typischer Wader" und ein absoluter Klassiker. Erstmals
veröffentlicht als Opener auf dem Album "Ich hatte mir noch so viel
vorgenommen" aus 1971. Ein Lied, das sich wohltuend gegen
Konventionen auflehnt. Seinerzeit mit Werner Lämmerhirt an der 2.
Gitarre aufgenommen. Waders Stimme klang damals völlig anders. Ich bin
froh, heute beide Versionen hören zu können und nicht entscheiden zu
müssen, welche Version die Bessere ist.
"Nah dran" wird von Hannes mit launischen Worten
eingeleitet als "Aufarbeitung" der Beziehung zu den Frauen
seines Lebens. Das Lied kommt von der gleichnamigen CD "Nah
dran" aus 2012 und ist erfrischend selbstironisch. Exhibitionistisch
ist es aber ganz sicher nicht, legt Wader doch allergrößten Wert darauf,
sein Privatleben, seine Familie aus dem Medienrummel herauszuhalten. In
dieser Beziehung ist er sich mit dem von ihm geschätzten Bob Dylan
einig.
"Traum vom Frieden" kommt vom Album "Wieder
unterwegs" aus 1979 und ist die deutsche Nachdichtung eines in
Englisch verfassten Originals, von dem Wader auch hier einige Strophen
einfließen lässt. Es ist ein pazifistischer Song, eine Hoffnung, ein
Traum eben. Aber ein Traum von einer Martin Luther King`schen Dimension.
"Le Déserteur" ist eine 1954 von Boris Vian geschriebene
Komposition. Ein Aufruf gegen den Wehr- und damit auch potenziellen
Kriegsdienst in Form eines fiktiven an den französischen Präsidenten
geschriebenen Briefes. Viele Künstler haben das Lied nachgesungen,
neuerdings auch Reinhard Mey. Der hat ja schon vor vielen Jahren mit
"Nein, meine Söhne geb ich nicht" seine Ablehnung des
Militärdienstes bekundet. Von Hannes Wader kannte ich das Stück bislang
nicht. Er singt jeweils den französischen Originaltext und dann die
deutsche Übersetzung.
Wir bleiben beim Thema: "Landsknecht" entstammt dem Album
"Glut am Horizont" aus 1985. Der Song spielt im 30jährigen
Krieg. Ein absolut unverzichtbarer Wader-Klassiker. Live noch
eindringlicher und bedrückender wirkend als in der Studioversion. Für
mich ist der "Landsknecht" so etwas wie Waders "Mutter
Courage".
"Die Moorsoldaten" hat Wader erstmals auf seiner LP
"Hannes Wader singt Arbeiterlieder" gebracht. Eine Schöpfung von
Häftlingen des KZ Börgermoor (bei Papenburg im Emsland) aus dem Jahre
1933. Also eigentlich nicht wirklich ein Arbeiterlied. Allerdings -
soweit wir wissen - erstmals von Mitgliedern des Solinger
Arbeitergesangsvereins im KZ bei einer geduldeten Aufführung gesungen,
später dann verboten. Doch da war das Lied schon über die Grenzen des KZ
hinaus bekannt geworden. Es gibt viele Interpretationen. Eine äußerst
bedrückende stammt von Liederjan und ist nachzuhören auf der Sammel-CD
"Wasser und Wein".
"Die Gedanken sind frei", ein Lied aus schlesischer
Überlieferung geht zurück auf einen Text des Jahres 1780. Die
Wader-Interpretation kannte ich bisher nicht, wohl aber die von
Konstantin Wecker (samt Kinderchor) von dessen CD "Ohne warum".
Ein gesellschaftskritisches Lied, das bereits vor 300 Jahren trotz aller
beschworener und ja eigentlich offenkundiger Freiheit der Gedanken eine
"Gedankenpolizei" der Herrschenden witterte. Gut, das ist auch
heute - Gott sei Dank - noch eine Fiktion. Aber wissen wir genau, wie
weit die NSA schon ist! Wem das Lied zu melodiös ist, dem empfehle ich
die Rapper-Interpretation der "Brazilian Girls" auf Verve.
"Krebsgang" von der LP "Nie mehr zurück" aus 1991
ist eine Wadersche Selbstreflexion nach Abschluss der wilden Jahre. Der
Krebsgang als Fortbewegungsart ist allgemein nicht gerade als flott und
zielgerichtet bekannt, aber (sofern wir Hannes folgen wollen) immer noch
besser als der weit verbreitete "Kriechgang".
"Wo ich herkomme" wird von Wader als "Talking
Blues" bezeichnet, eine antike Form des Rap, wie er sagt. Mir war
das Lied bisher nicht bekannt. Das Stück steht in der Tradition solcher
Titel wie "Tankerkönig", "Der Putsch",
"Langeweile", "Talking Böser-Traum-Blues" oder "Ich
hatte mir noch so viel vorgenommen". Ein einerseits
gesellschaftskritischer Song, andererseits aber auch Waders wohl
wirklich tief empfundener Dank dafür, dass er nun selbst eine gewisse
Unangreifbarkeit erreicht hat: "Wo ich herkomme, dahin gibt es für
mich kein zurück".
Hannes Wader ist heute eine geachtete (entschuldige Hannes: auch eine
etablierte!) Liedermacher-Ikone. Und das hat er sich selbst hart
erarbeitet. Er hat sich nie verbiegen lassen, ist seiner inneren Stimme
wie einem Ruf gefolgt, hat sich niemals angebiedert. Heute ist er, wie
er selbst sagt, immer noch kritisch, links, aber auch ein bisschen
"altersweise". Ob das doch noch eines Tages für das
Bundesverdienstkreuz reicht, wie es Reinhard Mey schon lange hat? Und ob
Hannes es denn auch wohl annehmen würde? Schön, dass es noch solche
spannenden, höchstwahrscheinlich auch künftig unbeantwortet bleibenden
Fragen gibt.
"So wie der" aus dem kürzlich erschienenen Album
"Sing" nimmt das Thema des vorherigen Songs noch einmal auf.
"So wie der bin ich nicht mehr" heißt es hier anlässlich der
Beschreibung eines zahnlosen Straßensängers; ein erkennbar dankbarer
Rückblick auf die nun der Vergangenheit angehörenden eigenen Anfänge und
vor allem auf die durch sein Publikum getragene spätere Karriere.
"Manche Stadt" aus dem Album "Rattenfänger" von
1974 klingt hier deutlich getragener als das Original. Es sind halt noch
einmal weitere gut 40 Jahre vergangen, die Rückschau ist entsprechend
umfangreicher und gerät wohl deswegen noch ein Stück wehmütiger. Erst
durch einige englisch gesungene Zeilen wurde mir wieder bewusst, dass
dieser Song ursprünglich nicht von Wader stammt, obwohl er genau so
klingt. Ein sehr schönes Lied, bei dem ich aber froh bin, auch die
Studioversion mit der 2. Gitarre und dem schönen Cello zu besitzen.
"Für Dich" von "Sing" ist ein dankbares, aber
auch wehmütiges Liebeslied von dieser ergreifenden Art, in der Wader
schon einige andere geschrieben hat. In Liebesliedern darf auch der alte
Kämpfer mal Anflüge von Sentiment und Emotion zeigen. Eine schöne Zeile
aus dem Lied lautet: "Nutzen wir die Zeit, indem wir sie
verschwenden".
"Im Januar" kommt von "Nie mehr zurück" aus 1991.
Das Lied reflektiert den unerwartet rasanten Klimawechsel und wirft
schon vor einem Vierteljahrhundert die Frage auf, wie unsere Kinder mit
diesen durch uns verursachten Folgen klarkommen werden. Höchst aktuell
und beklemmend!
"Folksinger`s rest" aus "Sing" blickt auf Waders
Wanderjahre zurück und beschreibt die Nacht in einem irischen Pub. Man
muss die dortige Stimmung einmal persönlich erlebt haben, um Wader
folgen zu können. Ein Füllhorn zumeist melancholischer Lieder, geprägt
und nur zu verstehen durch die Tatsache einer jahrhundertelangen
englischen Unterdrückung.
Das heute wie ein Volkslied klingende "In einem kühlen
Grunde", eine Eichendorff-Dichtung, kannte ich bisher noch nicht
als Wader-Interpretation. Es ist auch nicht auf der Setlist des Albums
"Hannes Wader singt Volkslieder". Hannes muss es aber schon
lange im Repertoire haben, hat er es doch - wie er selbst berichtet - im
Folksinger`s rest zum Besten gegeben. Mit seinem wehmütigen Text wirkt
es wie eine Vorbereitung auf die beiden folgenden Lieder.
"Brüder, es zieht ein Geruch übers Land" und
"Schau wie die Nacht" sind Bellman-Lieder. Sie finden
sich auf Waders Bellman-Sammlung "Liebe, Schnaps, Tod", dort
unter Mitwirkung von Reinhard Mey und Klaus Hoffmann gesungen. Wer mehr
über den schwedischen Rokoko-Komponisten Bellman und die Wader-CD
erfahren will, kann nachfolgend auf Liebe, Schnaps, Tod klicken.
"Lied vom Tod" aus dem Album "Nah dran" des
Jahres 2012 befasst sich mit der Endlichkeit unseres Daseins. Das aber
durchaus politisch-bissig und eher weniger "altersmild", doch
offenbar auch manchmal scherzend. Ich habe das Gefühl, mit diesem Thema
ist Hannes noch nicht wirklich durch.
"Bei Dir" kommt wieder von "Sing", dem letzten
Studioalbum. Es klingt wie ein Volkslied, ist aber eine Wader-Schöpfung
über eine verpasste, vielleicht sogar verschmähte, aber eben auch noch
nicht wirklich beendete Beziehung.
"Boulevard St. Martin" vom Album "Nah dran" ist
ein politisches Lied, das im von den Nazis okkupierten Paris spielt und
die Flucht des gefangen genommenen und gefolterten, zur Résistance
zählenden Widerstandskämpfers Peter Gingold beschreibt. Man möchte
hoffen, dass sich solche Zeiten nie mehr wiederholen. Und dass wir die
Geschehnisse niemals vergessen oder gar verdrängen werden. Waders Lied
kann dazu einen Beitrag liefern.
"Morgens am Strand" kommt von "Sing", spielt in
einer italienischen Badebucht und beschreibt den plötzlichen, natürlich
ganz und gar unerwarteten Körperkontakt mit der im seichten Wasser
treibende Leiche einer schwarzen Flüchtlingsfrau. Eine
"Berührung" der besonderen Art. Hier nur ein Alptraum, aber ein
leider brennend aktueller.
"Dass wir so lange leben dürfen" entstammt dem Album
"Nah dran". Eine durchaus dankbare Hommage an das Leben, wenn
auch mit Bellman`schen Anklängen. Also - trotz alledem - zum Ausklang
ein eher versöhnlich klingendes Lied nach all` den vorherigen wehmütigen
Texten.
Der Abschluss dieser Live-Doppel-CD gehört "Dr. Sidi Abdel Asser
vo El Hama", einem Lied des Schweizer Liedermachers und
Wader-Freundes Mani Matter. Wader singt es hier als Zugabe bei einem
Konzert in Bern auf "Bärndütsch". Ich musste mir doch wirklich
erst eine deutsche Übersetzung besorgen, um den Text zu verstehen:
Thematisch wieder einmal eine verpasste Gelegenheit, der nun lebenslang
nachgetrauert wird. Natürlich mit einer gehörigen Portion Selbstironie.
Das passt in dieser Form absolut in den Wader`schen Lieder-Kosmos.
Dieses Live-Album verlässt nun schon seit geraumer Zeit allenfalls
kurzfristig das CD-Laufwerk. Es ist eine aktuelle Wader-Werkschau auf
höchstem musikalischem Liedermacher-Niveau. Durchaus keine "Best
of", dafür ist es auch zu früh. Andernfalls müsste ich spontan noch
gut ein Dutzend weiterer Wader-Lieder nennen, die ich auf dieser Scheibe
vermisse, wie etwa "Kleine Stadt", "Erinnerung", "Es
ist an der Zeit", "Am Fluß", "Schon morgen",
"Mit Eva auf dem Eis", "Denkmalsbeschreibung", "Gut,
wieder hier zu sein", "Pablo", "Die Ballade von der
Hanna Cash", "Wieder eine Nach", "Schlaf, Liebste",
"Unterwegs nach Süden" und "Rohr im Wind".
Das Wader-Oeuvre ist zwischenzeitig derart umfangreich, dass nicht
einmal alle Highlights in einem Livekonzert Platz finden würden. Selbst
dann nicht, wenn sich alle Wader-Fans und Hannes selbst darauf
verständigten, was denn nun die wirklichen Highlights sind (keine Sorge,
das wird niemals passieren).
Ich kann nur ganz subjektiv aus meiner Empfindung heraus raten: Besorgt
Euch diese Doppel-CD. Für altgediente Wader-Enthusiasten sind die
Live-Aufnahmen eine notwendige Ergänzung der bereits vorhandenen
Studioalben. Für junge und alte Neueinsteiger andererseits eine
exzellente Möglichkeit, Hannes Wader erstmals wirklich kennenzulernen,
wobei es bei diesem Erstkontakt dann vermutlich nicht bleiben wird.
Hoffentlich klingt es nicht zu emotional, was ich diesem großen
Liedermacher hier versichern möchte: "Deine von Dir selbst
beschworene `politisch-weltanschauliche Grundhaltung´ ist sehr wohl auch
nach 50 Jahren noch deutlich erkennbar. Du und Deine
Liedermacher-Kollegen habt mich und meine Generation ein halbes
Jahrhundert lang begleitet, geleitet, sensibilisiert, bestürzt,
bestärkt, befeuert, befreit – und letztlich trotz aller weiterhin
gebotener Wachsamkeit auch besänftigt. Danke!"