Bachs Cellosuiten interpretiert von Yo-Yo Ma
Cello solo? Funktioniert das? Und ob! Johann Sebastian Bachs Suiten für
Violoncello solo (BWV 1007 -1012) sind auch durchaus nicht die einzigen
Solo-Stücke für dieses Instrument, aber die bekanntesten und wohl auch
die spieltechnisch weitaus anspruchsvollsten. Und sie eignen sich sogar
für einen kompletten Konzertabend.
überspringen
Am 17.1.2008 gastierte Yo-Yo Ma mit den Suiten Nr. 2, Nr. 3 und Nr. 6 im
Rahmen seiner Welttournee auch in unserem "Heimatkonzerthaus"
Dortmund und hat einen tiefen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Yo-Yo Mas Interpretationen der 6 Cello-Suiten liegen seit 1997 in einer
neuen Einspielung auf CD vor. Und zwar - wenn dieser Ausdruck erlaubt
ist - als "Soundtrack" zu einem 6-teiligen Film mit dem Titel
"Inspired by Bach". Yo-Yo Ma, der schon oft neue Wege ging,
erzählt, wie es zu dem Projekt kam: auf einem interdisziplinären Albert
Schweitzer-Symposium in Boston 1991 hörte er ein Zitat dieses großen
Theologen, Arztes, Musikers, Menschenfreundes und eben auch
Bachforschers. Schweitzer hat einmal gesagt, Bach sei in gewisser
Hinsicht ein "malender Komponist". Das gab den Anstoß, Bachs
Cello-Suiten zusammen mit anderen Künstlern, nämlich Choreographen,
Architekten, Tänzern, Eiskunstläufern und Regisseuren neu zu erforschen
und zu "visualisieren".
Die Aufnahmetechnik ist atemberaubend gut. Der Hörer sieht den Cellisten
wie im Konzertsaal plastisch vor Augen. Der Klang ist präsent und
natürlich. Und das ist auch im 21. Jahrhundert nicht selbstverständlich.
Das 2001 mit Yo-Yo Ma und den Berliner Philharmonikern unter Lorin
Maazel aufgenommenen Cello-Konzert h-moll von A. Dvorak (Sony) klingt
zum Beispiel klangbreiartig, höhenbeschnitten, dumpf, gestaucht und
undifferenziert.
Yo-Yo Mas Interpretationen der Cello-Suiten liegen in 3 Ausgaben vor:
als reine Musiktitel auf 2 CDs; dann zusätzlich mit einer DVD, die
Ausschnitte aus den Filmen enthält; und schließlich als 3-DVD-Set mit
allen 6 Filmen und natürlich der Musik.
Letztlich wichtig aber bleibt Bachs Werk selbst und dessen
Interpretation. Yo-Yo Ma spielt mit Inbrunst, wundervoller Intonation,
riesigem dynamischen Umfang und vor allem großer Wärme. Die Tempi sind
energisch vorwärtsdrängend, nie aber nur des Effektes wegen. Das
Ergebnis klingt verinnerlichter, konzentrierter, emotionaler, satter,
vielleicht auch subjektiv leidenschaftlicher, als man es von anderen
Interpreten kennt. Oft vermeint man, quasi "polyphon" mindestens
2 Instrumente zugleich zu hören. Diese Interpretation zieht magisch an.
Überhaupt kommt Musik nie so "auf den Punkt" wie in der
Konzentration auf ein Solo-Instrument. Lässt sich der Zuhörer darauf
ein, ist er vom ersten bis zum letzten Takt gefesselt. Wer Bachs
Cellosuiten bislang für kühle Kopfmusik hielt, kann sich von dieser
schönen "modernen" Aufnahme eines Besseren belehren lassen.
Orthodox gesinnte Hörer können ja immer noch auf Pablo Casals, Pierre
Fournier oder Mstislaw Rostropowitsch zurückgreifen. Alternativ gibt es
der "historischen Aufführung" verpflichtete Interpretationen von
Pieter Wispelwey und Anner Bijlsma.
Die Entstehungsgeschichte der Cellosuiten BWV 1007 -1012
Die sechs Suiten für Violoncello solo von J. S. Bach sind um 1720 in
Köthen entstanden. Bachs Urschrift der Suiten ist verschollen. Man nimmt
heute an, dass die Cellosuiten als weiterer Teil einer
Solosuiten-Sammlung gedacht waren, denn auf dem noch erhaltenen Autograf
der Suiten für Violine solo (BWV 1001-1006) steht "Libro primo".
Die älteste heute noch vorhandene Quelle der Cellosuiten ist eine Kopie,
die Johann Peter Kellner um 1726 anfertigte. Heutige Notenausgaben
beruhen aber zum überwiegenden Teil auf der Abschrift durch Anna
Magdalena Bach von etwa 1727. Gedruckt wurden die Suiten für Violoncello
solo erst gut 100 Jahre später im Pariser Verlag "Janet et
Cotelle".
Auch wenn es sich bei den Bachschen Violoncello-Suiten nicht um die
ersten Kompositionen für Violoncello solo handelt, hat Bach mit Ihnen
doch etwas grundlegend Neues geschaffen. Früheste Werke für Violoncello
solo entstanden mit den "Ricercari" von Domenico Gabrielli um
1680 und den Solo-Sonaten von Giuseppe Jacchini um 1700. Man nimmt aber
an, dass Bach beide Kompositionen, die noch nicht für das
"moderne" Violoncello geschrieben wurden, nicht gekannt hat. Das
"moderne" Violoncello mit seinen vier Saiten in der Stimmung
C-G-d-a, wie wir es heute kennen, wurde erst ab 1710 von Stradivari
gebaut, also erst etwa 10 Jahre vor der Entstehung der Bachschen Suiten.
Unbekannt ist, für welchen Interpreten Bach die Cellosuiten geschrieben
hat. Es existieren keine Widmung und keine anderweitigen Hinweise. Man
glaubt, dass die Stücke für Christian Ferdinand Abel oder Christian
Bernhard Lienigke gedacht waren, die als Cellisten in der Köthener
Hofkapelle tätig waren. Die spieltechnischen Schwierigkeiten steigern
sich von Suite zu Suite und zeugen von den entsprechenden Qualitäten des
damaligen Interpreten. Bach profitierte diesbezüglich von den
musikalischen Ansprüchen seines "Arbeitgebers", Fürst Leopold
von Anhalt-Köthen, der 1715 eine neue Hofkapelle gründete und zu diesem
Zweck nur die besten Musiker engagierte. Viele stammten, wie auch Abel,
aus der Berliner Hofkapelle Friedrichs I., die 1713 unter dem
"Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. aus Spargründen aufgelöst
wurde.
Bachs Suiten für Violoncello solo sind schon kurz nach dem Tod des
Komponisten völlig aus dem Konzertleben und dem Bewusstsein der Menschen
verschwunden, wohl auch, weil viele Interpreten spieltechnisch
überfordert waren. Man glaubt, dass die Cellosuiten über Jahrzehnte
lediglich als eine Art "Etüden" zu Lehrzwecken für Cellisten
verwendet wurden. Erst im 19. Jahrhundert wurden sie von Robert Schumann
für das Konzertleben wiederentdeckt. Schumann komponierte eine
Klavierbegleitung. Heute gehören Bachs Suiten für Violoncello solo in
der ursprünglichen Fassung zum Repertoire eines jeden großen Cellisten
und sind aus dem Konzertleben nicht mehr wegzudenken.
Bei der sechsten Suite in D-Dur gibt es bis heute noch einige
ungelöste Fragen. So ist nicht klar, für welches Instrument das Stück
ursprünglich geschrieben wurde. Fest steht, dass diese Suite für ein
5-saitiges Instrument mit einer zusätzlichen e`-Saite komponiert wurde.
Manche Wissenschaftler nehmen an, Bach habe sich selbst eine Art
"Viola pomposa" bauen lassen, die in der Stimmlage eines Cellos
angesiedelt war, aber wie eine Bratsche in Armhaltung gespielt wurde.
Jedenfalls ist die sechste Suite nicht wie die anderen 5 Suiten für das
damals "moderne" Cello geschrieben worden. Allerdings ist heute
eine Interpretation auf dem 4-saitigen Cello sehr wohl möglich, und zwar
dank der "Daumenlage", bei der der Daumen der linken Hand
ebenfalls als Spielfinger eingesetzt wird. Zu Bachs Zeit war diese
Technik aber noch unbekannt.
Formales zu den Suiten
Die Suiten haben folgende Tonarten:
- Suite Nr. 1 G-Dur
- Suite Nr. 2 d-Moll
- Suite Nr. 3 C-Dur
- Suite Nr. 4 Es-Dur
- Suite Nr. 5 c-Moll (in Skordatur notiert, d.h. die a-Saite wird um einen Ganzton nach g herunter gestimmt)
- Suite Nr. 6 D-Dur (für ein fünfsaitiges Instrument mit zusätzlicher e-Saite komponiert)
Jede der Suiten hat folgenden Aufbau:
- Präludium
- Allemande
- Courante
- Sarabande
- sogenannte "Galanterien", d. h. weitere eingeschobene Sätze:
- Menuett I/II (in Nr. 1 + 2) bzw.
- Bourrée I/II (in Nr. 3 + 4) bzw.
- Gavotte I/II (in Nr. 5 + 6)
6. Gigue
Yo-Yo Ma
Yo-Yo Ma wurde 1955 als Sohn chinesischer Eltern in Paris geboren. Die
Mutter war Sängerin, der Vater Dirigent. Von seinem Vater erhielt er
auch seinen ersten Cellounterricht im Alter von 4 Jahren. Die Familie
verzog dann nach New York, wo er einen Großteil seiner Studienjahre
verbrachte. Sein wichtigster Lehrer (von Leonard Bernstein vermittelt)
war Leonard Rose an der Juilliard School. Ma ist ebenfalls Absolvent der
Harvard University mit einem Studienabschluss im Jahr 1976. Yo-Yo Ma
spielt zwei Instrumente, ein Montagnana-Cello aus Venedig von 1733 und
das Davidoff-Cello von Stradivari aus dem Jahre 1712, das sich zuvor im
Besitz der tragisch früh verstorbenen Jacqueline du Pre befand.
Er erhielt zahlreiche hochrangige Auszeichnungen, unter ihnen 1978 den
"Avery-Fisher-Preis", 1999 den "Glenn-Gould-Preis", 2001
die "Nationale Kunst-Medaille" und 2006 den "Sonning
Preis". 15 seiner bisher 75 Alben haben
"Grammy-Auszeichnungen" erhalten.
Ein Hauptziel Yo-Yo Mas ist es, Klassische Musik als Kommunikationsform
erfahrbar zu machen und damit unterschiedliche Welt-Kulturen zu
verbinden. Unter anderem deshalb hat er 1998 das
"Seidenstraßen-Projekt" ins Leben gerufen. Dieses Projekt hat
zum Ziel die Erforschung kultureller, künstlerischer und geistiger
Traditionen entlang der Seidenstraße, der berühmtesten aller
Handelsstraßen zwischen Asien und Europa. Überhaupt beherrscht Yo-Yo Ma
eine Kunst, die gleichrangig neben seinen außerordentlichen
musikalischen und technischen Fähigkeiten als Cellist steht: Und zwar
die Kunst, zu begeistern, Menschen und Kulturen einander nahe zubringen
und miteinander kommunizieren zu lassen.
Ob Yo-Yo Ma Bach spielt oder Filmmusik von John Williams und Ennio
Morricone interpretiert, ob er der Seele des Tangos in Stücken von Astor
Piazzolla nachspürt, das Album "Hush" mit Bobby McFerrin
produziert oder die musikalischen Traditionen der Kulturen entlang der
Seidenstraße erforscht, stets sind seine musikalischen Entdeckungsreisen
geprägt von grenzenlosem Idealismus und von dem Wunsch, seinen eigenen
Horizont zu erweitern - und den seiner Zuhörer. Nicht von ungefähr
lautet der Titel seiner zweiten CD im Rahmen seines Silk Road Projects
"Beyond the Horizon" und der seiner dritten CD "New
Impossibilities".
Die Süddeutsche Zeitung nannte Yo-Yo Ma den "wohl vielseitigsten,
neugierigsten, aufregendsten und technisch souveränsten Cellisten der
Welt." Dabei geht es Yo-Yo Ma nie darum, seine eigene Person in den
Mittelpunkt zu stellen. Er ist ein Meister des Dialogs und pflegt
musikalische Freundschaften rund um den Erdball. Man mag sich fragen,
woraus Yo-Yo Ma seine nie versiegende Energie schöpft. Die Antwort liegt
auf der Hand: aus der Musik.
Yo-Yo Ma ist verheiratet und Vater zweier Kinder.
________________________________________________________________
zur nächsten Rezension
________________________________________________________________