Wolfgang Koeppen - Tauben im Gras

Koeppen Tauben im Gras

Verlag Suhrkamp
ISBN 978-3-518-37101-5

"Die Zeit" veröffentlicht im Sommer 2012 einen "Kanon der europäischen Nachkriegs-literatur". Das hat mich auf den Gedanken gebracht, meine Literatursammlung dieser Jahre wieder einmal durchzusehen. Gestoßen bin ich auf "Tauben im Gras" von Wolfgang Koeppen aus 1951, eine Lektüre, die - wie ich gerade erfahren habe - glücklicherweise auch heute noch an deutschen Schulen durchgenommen und damit nicht dem Vergessen anheim gestellt wird.

Auf dem Cover steht "Roman". Was uns erwartet, sind zahlreiche kurze, kunstvoll geschachtelte Handlungs- und Seelenbeschreibungen ganz verschiedener Menschen in einer zerbombten deutschen Nachkriegsstadt (sehr wahrscheinlich diente München als Muster). Zunächst scheinen diese kleinen Spots sich etwas wahllos und zufällig aneinanderzureihen, wobei allerdings das Schlusswort des vorigen Absatzes oftmals zugleich das Stichwort des neuen Kapitels ist und damit Zusammenhang stiftet. Erst nach und nach erkennt dann der Leser, dass er es nicht etwa zu tun hat mit einem bunten Strauß, einem Kaleidoskop zufälliger Lebensgeschichten, sondern mit zunehmend sich schicksalshaft ineinander verwebenden Handlungsfäden.

In großen Lettern sind - mitten im Text und ohne Trennungszeichen - die aktuellen Nachrichten dieser Tage eingefügt. Aber auch das nicht zufällig, sondern im sorgsamen Bezug zu den Ängsten und Sorgen der handelnden Personen. Das hilft gerade dem heutigen jungen Leser, sich in diese "schlimme" Zeit hineinzuversetzen. Nordkorea hatte Südkorea angegriffen, Persien bedrohte die Welt, die ersten aufrüttelnden deutschen Nachkriegsfilme (z.B. "Die Sünderin" mit Hildegard Knef) erschienen, überall ist die amerikanische Besatzungsmacht präsent, die allerersten deutschen Unternehmungen etablieren sich, die Gewerkschaften stellen bereits Forderungen. Denn das neue Geld ist da - aber eben auch die Angst vor einem neuen Krieg. Bereits schon damals ging es nicht zuletzt um Ölressourcen.

Die Handelnden sind so unterschiedlich, wie solch ein Buch es eben braucht: Die Millionenerbin, die alles verloren hat, vor allem das "was-du-warst", zudem auch mit dem materiellen Verlust nicht klar kommt und verbliebene Teile ihres Besitzes ins Pfandhaus trägt, um zu überleben. Bereits wieder zu Geld gekommene und schon wieder bohèmeähnlich lebende Filmschauspieler, die ihren Nachwuchs vernachlässigen und in die Obhut einer frömmelnden, andauernd den Gotteszorn beschwörenden Gouvernante geben. Schwarzmarkthändler, Schieber, Schnorrer, Kriegerwitwen, Trinker und andere Abhängige, Diebe, Falschspieler und Jugendgangs, weiße und schwarze Amerikaner, letztere 1951 noch "Neger" genannt, die ersten amerikanischen Touristen, Dirnen, Engelmacher und Doktoren.

Zunächst haben die agierenden Personen noch Namen. Die Frau, die der weiße Amerikaner Richard zum Schluß kennenlernt wird dann aber nur noch als das "Fräulein" bezeichnet. Wohl ein Hinweis darauf, wie unbedeutend das einzelne Schicksal im Gesamtbezug ist.

Die alten Nazis sind noch, die neuen sind schon wieder da. "Hauptrollen" - wenn man das überhaupt so nennen darf - spielen ein deutscher Schriftsteller, dem die geistige Tinte ausgegangen ist und ein berühmter amerikanischer Dichter und Philosoph, der zu Besuch in München weilt und trotz aller Schrecklichkeiten den deutschen Geist beschwört, seinen Deutschlandbesuch aber wahrscheinlich nicht überlebt. Irgendwie fragt man sich, was hat sich eigentlich in der Nachkriegsgesellschaft geändert?!

Der Leser spürt, wie sich die Wege der Handelnden nähern und schicksalshaft aufeinander zulaufen, und zwar hin auf den Vortragsabend im Amerikahaus und den Tagesausklang im benachbarten Soldatenclub. Die Dinge kulminieren, obwohl alles an nur einem einzigen Tag im Nachkriegs-München passiert. Aber warum hat es diese Menschen überhaupt miteinander verwoben? Vielleicht gibt uns ein Zitat aus dem Buch eine Antwort: "Wir verkehren miteinander, weil wir alle deklassiert sind".

Das Buch ist voller verpasster Gelegenheiten, das scheint einer der vorherrschenden Themenkontexte zu sein. Und niemand ist richtig froh, alle tragen an ihren Schicksalen. Nur als der stolze schwarze amerikanische Besatzungssoldat Odysseus Cotton eingeführt wird, lässt der Autor ihn lachen, im scharfen Kontrast zu allen anderen Personen.

Und es gibt eine Reihe tragischer, ja skurriler Szenen. Etwa, als drei Menschen, die sich suchen, in drei verschiedenen Ausschänken dicht nebeneinanderstehen und sich dennoch nicht finden. Und als unter der Bahre des erschlagenen Gepäckdieners ("das Leben beurlaubte ihn nie") das von ihm verwahrte amerikanische Soldaten-Kofferradio zu spielen beginnt. Oder als im Club die amerikanische Soldaten bier- und weinbeseelt in die verjazzten, von einer ehemaligen deutschen Militärkapelle angestimmten, von den Amis aber natürlich nicht verstandenen urdeutschen Gröllieder einfallen und dabei aufstehen.

Ein "happy end" gibt es nicht, ganz im Gegenteil. Auch keine sonstige Erlösung oder Patentanweisung. Auch kein Blick in die Zukunft. Das wäre 1951 ja auch sehr gewagt gewesen. Also bleibt es bei der beklemmenden Milieuschilderung einer Zeit, die wir heute wohl lieber verdrängen würden. Doch sind diese Dinge wirklich schon eine Ewigkeit her? Und ist ähnliches nicht auch heute noch täglich in den Nachrichten zu sehen, wenn auch etwas weiter weg? Bevor wir wegschauen, sollten wir uns lieber von Wolfgang Koeppen noch einmal diesen - wenn auch unbequemen - Spiegel vor Augen halten lassen. Denn dann sehen wir, was wirklich bleibt, wenn man uns alles Materielle und vielleicht auch noch die engsten Bezugspersonen nimmt.

Und der Titel? Wohl eine Metapher für die Zufälligkeit unseres Seins und Aufeinandertreffens. So wie einige Tauben wahllos nebeneinander im Gras hocken, so zufällig lässt uns das Schicksal aufeinanderprallen, und das - wie wir lernen - offenbar selbst in Friedenszeiten mit Todesfolge. Zitat: "Vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes". Oder ein anderes Zitat: "Eine Unendlichkeit zusammengefügt aus allerkleinsten Endlichkeiten, das ist die Welt".

Mancher mag jetzt sicher heftig widersprechen, bitte sehr!

PS: Übrigens hat "Die Zeit" als deutschen Beitrag zur europäischen Nachkriegsliteratur für die Jahre 1945 bis 1949 "Doktor Faustus" von Thomas Mann und für 1950 bis 1959 "Die Blechtrommel" von Günter Grass gewählt. Von solchen Werken können - allerdings ungerechtfertigterweise - schon mal einige Tauben im Gras verdeckt werden ...