Wohlleben - Das geheime Leben der Bäume

Wohlleben - Das geheime Leben der Bäume

ISBN 978-3-453-60432-2
Erwarten Sie bei diesem Titel etwa Esoterik? Dann muss ich Sie enttäuschen. Peter Wohlleben ist Förster und steht fest auf natur-wissenschaftlichem (Wald)-Boden. Um so mehr wird es Sie verwundern, dass er den Bäumen Augen, Ohren, Gefühle und gar eine Art Gedächtnis zuordnet und sie - wenigstens im Wald - als sozial handelnde Gemeinschaft ansieht. Doch beim Lesen begreift man bald, dass der Wald mehr ist als eine bloße Ansammlung von Buche, Eiche & Co.

Das Buch endet mit dem Satz "Nur wer die Bäume kennt, vermag sie zu schützen". Es geht dem Autor also um den Schutz der Bäume und um eine Vermittlung von darauf zielenden Kenntnissen, soweit diese wissenschaftlich oder zumindest empirisch gesichert sind. Natürlich stehen letztlich nicht einzelne Bäume im Fokus, sondern Baumgesellschaften, die wir gemeinhin als Wald bezeichnen. Sie kennen doch den oft etwas flapsig hingeworfenen Satz: "Er sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht". Wenn Sie Peter Wohllebens Buch gelesen haben, wird diese Floskel für Sie eine ganz neue Bedeutung erlangen.

Ist doch ein Wald viel mehr als die Summe der einzelnen Baumindividuen. Denn vor allem in naturbelassenen oder erfolgreich renaturierten Wäldern existieren sozial strukturierte Baumgesellschaften. Kranke Bäume senden Hilferufe aus und werden daraufhin von ihren Artgenossen unterstützt. Das funktioniert mittels der sich verbindenden Wurzelhaare, vor allem aber (und zwar nicht ganz uneigennützig im Sinne einer Symbiose) über weitverzweigte ganz spezifische Pilzgeflechte, mit deren Hilfe sich Bäume untereinander vernetzen und Signale und Hilfsgüter transportieren.

Ich hatte schon von solchen Netzen in einem Bericht aus Kanada gehört. Die von Bären aus Flüssen herausgefischten Lachse werden meist nicht vollständig aufgefressen. Reste werden durch Mikroorganismen zersetzt, von um Baumwurzeln angeordneten Pilzgeflechten aufgenommen und als wichtige Nährstoffe kilometerweit in den Wald hinein transportiert. So profitieren auch entfernt vom Fluss stehende Bäume vom Lachsfang der Bären. Wie das genau funktioniert habe ich aber erst durch Wohllebens Erklärungen verstanden.

Letztlich geht es dem Autor um die Gesundheit unserer heimischen Wälder als eine der unverzichtbaren Grundlagen irdischen und damit auch menschlichen Lebens. Und da es besser ist, eine kleine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu schimpfen, beklagt er nicht nur (wie viele) die Zerstörung überseeischer Regenwälder, sondern setzt sein Wissen im Forstrevier der Gemeinde Hümmel zum Schutz des Waldes ganz praktisch um.

Dabei hat er Glück, dass die Verantwortlichen ihm weitgehend freie Hand lassen. Das verlangt die Einsicht, dass es besser ist, auf kurzfristigen Profit zu verzichten, um langfristige Werte zu erzielen und zu bewahren. Schließlich kann für uns Menschen der Wald weit mehr sein als eine öde Holzplantage. Ich bewundere Wohllebens Überzeugungsarbeit und die Klugheit der Hümmelner Entscheidungsträger.

Wenn man nun aber versuchen will, ein natürliches Ökosystem namens "Wald" inmitten unserer Kulturlandschaft wieder zuzulassen, braucht man fundiertes Grundlagenwissen. Wie kommunizieren Bäume miteinander? Wie schützen sie sich vor Krankheiten, Parasiten, Fressfeinden und Konkurrenten? Welche Baumarten kommen natürlicherweise in welchen Klimazonen (auch Mikroklimata!) vor? Welche Überlebens- und Fortpflanzungsstrategien haben Bäume entwickelt? Welchen Nutzen hat der Wald für andere pflanzliche und tierische Lebewesen und nicht zuletzt für den Menschen? Über all` das und unzählige andere geheimnisvolle, weil im Verborgenen ablaufende Aspekte klärt uns der Autor in seinem Sachbuch auf.

Zusammengenommen geht es um die Frage, was einen gesunden Baum und einen intakten Wald ausmacht. Und wie wir als Menschen dieses während der Evolution erworbene geheime Wissen und Tun der Bäume ergründen und statt zu sabotieren nach Kräften unterstützen können.

Wir legen heute mit bestimmten Schutz- und Förder-maßnahmen die Grundlagen für gesunde Wälder, von denen aber erst unsere Ur-Urenkel profitieren werden. Langfristiges Denken über die eigene Generation hinaus ist angesagt, ein Denkansatz, wie ihn Waldbauern früher ganz selbstverständlich hatten, obwohl es ihnen durchaus nicht zuzletzt auch um den Holzertrag ging. Ein solches generationsübergreifendes Denken aber ist manchem heutigen Zeitgenossen fremd. Es wird vielfach nur noch in Amts- oder schlimmer noch Legislaturperioden gedacht.

Übrigens kein ganz neues Phänomen. Manch karger Fels vor allem in Mittel- und Südeuropa ist die Folge menschlichen Ausbeutertums der letzten Jahrhunderte. Ob nach zwischenzeitig erfolgter Bodenerosion dort jemals wieder Bäume wachsen werden? Nun ja, in einigen Millionen Jahren vielleicht doch...

Nichts verdeutlicht die bereits eingetretene Zerstörung der Erde krasser als die weltweite Vernichtung der Wälder und ihrer Lebensgemeinschaften. Und nichts treibt die weitere Zerstörung so an wie die Verbrennung ihrer fossilen Überbleibsel. Die Wälder und ihre urzeitlichen Hinterlassenschaften könnten aber so viel mehr zu menschlichem Überleben beitragen.

Der Autor führt aus, wie die Abholzungen großer Wälder nicht nur lokal für Klimaveränderungen sorgen, sondern sich durch ausbleibende Regenfälle auch noch weit entfernt in zunehmender Trockenheit "niederschlagen". Irgendwie hängt halt auf unserer kleinen Erde - wie auch im Universum - alles mit allem zusammen. Nur merken wir das oft erst dann, wenn die Schäden unseres Tuns auch global unübersehbar werden.

Wohlleben zeigt uns, welch wunderbare und faszinierende Wesen Bäume sind, vor allem in einem naturbelassenem Wald. Sie haben durchaus so etwas wie Gefühle, empfinden Schmerz, besitzen ein Gedächtnis, eine Sprache, soziale Verantwortung und je nach Art ganz unterschiedliche Überlebensstrategien. Dabei sind selbst Bäume einer bestimmten Art genetisch ziemlich unterschiedlich, ganz so, wie das auch bei uns Menschen der Fall ist. Das hilft frei nach (und schon weit vor!) Darwin bei der Anpassung an neue Herausforderungen, sollten diese nicht zu schnell eintreten. Aber genau das ist wegen der Rasanz des Klimawandels heute der "Knackpunkt". Denn auch für den "struggle for life" und das "survival of the fittest" braucht es Zeit.

Wenn man sich mit solcherlei Überlegungen näher befasst und Bäume (wie auch andere Pflanzen) als "Lebewesen" begreift, kann man ihnen durchaus (wie Tieren) eine gewisse "Würde" zumessen, die es gilt gegen rücksichtslosen Raubbau zu verteidigen - und sei es durch Gesetze. Aber Vorsicht: Ist "Tierschutz" wirklich mehr als eine bloße, wenn auch gesetzlich verankerte Absichtserklärung! Achten wir wirklich die Würde der Tiere? Reichen die geltenden Gesetze aus? Schauen Sie mal hinein in einen Großschlachthof, wo täglich tausende Tiere getötet werden. Und dann sehen Sie sich an, wie ein sogenannter "Harvester", also ein riesiger Holzvollernter im Wald zur Sache geht. Bei der Betrachtung beider Schlachtfelder drängen sich unwillkürlich Parallelen auf.

Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass es von verschiedenen Seiten Krtitik an Wohllebens Aussagen gibt. Natürlich zuvörderst von Seiten der kommerziellen Holzwirtschaft. Dabei hat der Autor gar nichts gegen Anbau und Ernte des wertvollen Rohstoffs Holz. Nur sollte es neben den anfälligen künstlichen "Waldplantagen" bitte auch noch ausreichend "richtige" Wälder geben (die man übrigens auch schonend "bewirtschaften" kann, wenn man sie nicht ganz auf sich gestellt wachsen lassen will).

Dann kommen Einwände von Wissenschaftlern, Wohlleben "vermenschliche" die Bäume. Ihre Lebensäußerungen seien nicht - wie bei uns Menschen - Ausdruck von Gefühlen oder gar Beweis bewussten Handelns, sondern nichts weiter als während der Evolution erworbene Überlebensstrategien. So "stille" ein Baum nicht seine unter ihm nachwachsenden Nachkommen, sondern allenfalls bereite er ihnen - und zwar unbewusst - ein Bett aus Humus und versorge sie bei Mangel über unterirdische Kanäle mit dem Nötigsten.

Ja schießt denn bei der gerade von ihrem Kind entbundenen Mutter die Milch bewusst ein? Oder sind das nicht auch alles "nur" durch chemische Hormonverbindungen gesteuerte Prozesse. Kommt ein starkes Herzklopfen bei Angst und Freude aus unserer Psyche, oder ist das alles doch nur Folge eines Adrenalinstoßes. Die allermeisten Lebensäußerungen des Menschen sind unbewusst gesteuert, das gilt etwa auch für Schmerz- und Fluchtreflexe. Elektrische und stoffliche Impulse gibt es bei Bäumen und beim Menschen gleichermaßen. Sie sind Ausdruck von Leben und Überlebenswillen. Gemeinsamkeiten sind weder zu übersehen noch verwunderlich.

Über "Intelligenz" von Bäumen ließe sich sicher streiten, wobei es ja hierzu sehr unterschiedliche Definitionen gibt. Nein, intelligent im allgemein verwendeten Kontext sind Bäume sicher nicht. Ließe man sie aber einfach nur "machen", würden sie als Gewinner der pflanzlichen Evolution nahezu alle Landflächen der Erde überziehen - und zwar zum Nutzen anderer Pflanzen und Tiere. Letzteres sollen "intelligente Wesen" erst einmal nachmachen...

Bäume sind - wie andere Pflanzen auch - faszinierende Wesen, man muss ihnen nur zuhören. Sie bergen trotz intensiver Forschung immer noch viele Geheimnisse, die es zu ergründen gilt. Wälder sollten uns deshalb nicht länger ausschließlich als Rohstofflieferanten interessieren. Sie können die Lebensqualität der Menschen verbessern, so man sie gewähren lässt und nicht weiter kaputt macht. Nichts anderes ist das Anliegen des Autors.

Ob wir den Satz aus dem Alten Testament "macht euch die Erde untertan" doch falsch verstanden haben? Franziskus I. ist jedenfalls dieser Meinung, wenn man seine Enzyklika "Laudato Si, mi Signore" studiert. Er findet deutliche Worte und mahnt zu einem die Schöpfung respektierendem und sie nicht schonungslos ausbeutendem Leben. Zur Klarstellung: dieser Gedankensplitter entstammt den Reflexionen des Rezensenten und keineswegs denen des Autors. Nicht dass man Wohlleben auch noch vorwirft, er messe Bäumen religiöse Gefühle zu und beziehe sich dabei auf den Papst...

Noch ist es nicht zu spät, unsere Wälder langfristig vor dem Untergang zu schützen, führt der Autor aus. Auch wenn sich bislang nur etwa 5% der deutschen Waldflächen natürlich, also ohne menschliche Eingriffe entwickeln dürfen, was klar als absolut unzureichend erscheint, so ist das zumindest ein Anfang. Der Anteil wird wachsen.

Denn letztlich haben wir gar keine andere Wahl. Schauen Sie sich die abgestorbenen Fichtenmonokulturen im Harz, Erzgebirge und Bayrischen Wald mal an, diese riesigen auch im Sommer braunen Flächen. Nun kann man dafür die Trockenheit der letzten Jahre, Vivian, Wiebke, Kyrill und den Borkenkäfer verantwortlich machen. Aber in Wirklichkeit stehen hier die falschen Bäume am falschen Platz. Wenn man dort den Wald vor lauter Bäumen bzw. Baumleichen nicht sieht, ist das kein Wunder. Fichten hätten sich da (trotz mangelnder Intelligenz!) niemals von selbst angesiedelt.

Peter Wohlleben geht immer wieder auf Vortragsreisen, wenn ihn nicht gerade eine globale Seuche stoppt. Von den Ticketverkäufen werden Buchenurwald-Projekte unterstützt. Ich kann nur hoffen, dass der Autor mit seinem Buch und seinen Vorträgen viele Menschen erreicht und sie mit dem geheimen Leben der Bäume vertraut macht. Wenn Kritiker meinen, seine Aussagen seien zugespitzt, so frage ich zurück, wie wir denn sonst aus unserer gelebten Lethargie erwachen und die dringend notwendigen Weichenstellungen vornehmen sollten!

Am Wahrheitsgehalt seiner Prämisse gibt es jedenfalls keinen Zweifel, so man nicht gerade im Weißen Haus wohnt: Verschwinden die Bäume und verschwinden damit die Wälder für immer, wird auch der Mensch verschwinden. Doch weitere Überlegungen zu dieser Horrorvision stellt Wohlleben als zukunftsorientierter, positiv denkender Macher erst gar nicht an. Dem folgt an dieser Stelle gern auch der Rezensent.

PS: Peter Wohlleben hat neben dem hier besprochenen Buch auch eine DVD/BR gleichen Titels herausgebracht. Die von einem Kameramann exzellent eingefangenen Bilder (teils im Zeitraffer!) sind eine sehr schöne visuelle Ergänzung zu den im Buch dargelegten Zusammenhängen. Da Bäume aber alles andere als Actionhelden sind, sich also kaum selbst in bewegten Bildern in Szene setzen können, erfährt man stattdessen im Film viel über Peter Wohlleben selbst und sein Herzensanliegen. So ergänzt der Film sehr schön das Buch.