S. Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit
Verlag Piper ISBN 3-492-10700-1
Dieses ungewöhnliche Buch hat mir eine Mitarbeiterin empfohlen, als wir
einmal über spirituelle Dinge sprachen. Unter dieser Erwartungs- haltung
habe ich zu lesen begonnen und etwas ungeduldig auf die Botschaft
gewartet. Sten Nadolny will aber gar keine Botschaft vermitteln. Seine
Romanerzählung über das Leben des historisch verbrieften John Franklin
nimmt den Leser gefangen gerade wegen der unspektakulären Schilderung
spektakulärer Ereignisse.
"Die Entdeckung der Langsamkeit” erzählt die Lebensgeschichte eines
in jeder Beziehung ungewöhnlichen Engländers zu Beginn des 19.
Jahrhunderts. Sten Nadolny greift als Grundlage seines Romans zurück auf
zeitgeschichtlich verbürgte Personen und Fakten, um die herum er dann
seine Erzählung frei aufbaut. Sehr akribisch notiert der Autor im
Anhang, welche Passagen seines Romans dokumentierter Überlieferung
entsprechen beziehungsweise welche von ihm hinzugedichtet worden sind.
John Franklin träumt schon während seiner Kindheit davon, Seefahrer zu
werden. Und das, obwohl er ein eigentümliches Handicap hat: Scheinbar
nimmt er alles um ihn herum nur sehr verzögert wahr und auch zum
Sprechen und Lesen braucht er viel Zeit. Zudem sind seine Bewegungen
ausgesprochen langsam. Das trägt ihm den Spott seiner Schulkameraden
ein. Allein ein Lehrer erkennt schon früh Johns große Stärke: Sein
exzellentes Gedächtnis, eine äußerst exakte Beobachtungsgabe, ein sehr
ausgeprägter Gerechtigkeitssinn und eine große Beharrlichkeit. Dazu
kommt eine ungewöhnliche mathematische Begabung. John geht schließlich
wirklich zur Marine, macht traumatisierende Erfahrungen während der
Schlachten von Kopenhagen und Trafalgar, gewinnt aber allmählich durch
seine Leistungen auch Freunschaften und Anerkennung.
Auf Grund der eindringlichen Erzählweise entstehen vor unseren Augen
plastische Bilder der handelnden Menschen und der beschriebenen
vielfältigen Landschaften. John Franklin avanciert zum Kapitän der
englischen Kriegsmarine, dann nach seiner Abdankung zum Gouverneur auf
Neuseeland und schlußendlich zum Polar-Expeditionsleiter.
Das zunächst offensichtliche Handicap seiner extremen physischen und
mentalen Langsamkeit erweist sich mehr und mehr als Stärke und
Überlebensgarantie in einer damals schon immer hektischer werdenden
Gesellschaft. Er scheitert schließlich nicht am Menschen, sondern an der
Natur: Von einer Expedition in die Arktis zur Entdeckung einer
schiffbaren Nordwestpassage kehrt er nicht mehr zurück.
Nadolnys Romanerzählung hat sich mir erst langsam erschlossen, klingt
dafür aber noch lange in mir nach. Ob Ihnen das vielleicht ebenso geht?