Pascal Mercier: Nachtzug nach Lissabon
Btb-Verlag ISBN 978-3-442-73436-8
Bisher ist das Leben des Berner Altphilologen Raimund Gregorius
jahrzehntelang eher vorhersehbar, ja vielleicht sogar etwas spröde
verlaufen. Das hat ihm Achtung, aber auch Spott ("Papyrus")
eingetragen. Innerhalb weniger Stunden wird durch den Kontakt zu einer
mysteriösen Portugiesin und die danach nicht mehr ganz zufällige Lektüre
eines bedeutungsvoll erscheinenden portugiesischen Textes sein ganzes
Sein auf den Kopf gestellt. Mitten im Unterricht verlässt Gregorius
seine Klasse und nimmt den Nachtzug nach Lissabon, um den Spuren des ihn
faszinierenden portugiesischen Text-Autors zu folgen. Im Rahmen seiner
immer detaillierter werdenden Erkenntnisse tritt bei ihm ein unbekanntes
befreienden Lachen auf, zunehmend aber auch eine bedrohlichere
Symptomatik ...
Das ist die "Rahmengeschichte" dieses als "Roman"
bezeichneten Werkes und der "Spiegel" spricht von einem
"fesselnden Abenteuer". Gut, man kann das Buch auch auf dieser
Ebene lesen, sozusagen auf der "Gregorius-Ebene", spannend genug
ist das, was der "geflüchtete" Berner Lehrer erlebt und ein
intellektuelles Abenteuer ist es allzumal.
Darunter aber liegt die viel tiefgründigere Schicht einer anderen
Lebensgeschichte, die des Amadeu Inácio de Almeida Prado. Dessen Texte
mit dem Titel "Ein Goldschmied der Worte" und dessen
geheimnisvolles Portrait in dem antiquarisch erworbenen Buch hatten
Gregorius aus seinem bisherigen geradlinigen Lebensgleis geworfen. Durch
Zeitzeugen und zahlreiche weitere "ausgegrabene" Textfunde
rundet sich das Bild einer faszinierenden, aber zugleich tragischen
Persönlichkeit im Portugal der Salazar-Diktatur.
Auch diese "abenteuerliche" Lebensgeschichte allein gäbe den
Stoff für einen Roman her, ist aber immer noch nicht das, was an
Merciers Buch so tief berührt. Nein, der Leser kann das Buch aus einem
anderen Grund nicht mehr aus der Hand legen. Es sind die
"nachgelassenen" Texte des (wohl fiktiven) Amadeu de Prado, die
in Bann schlagen. Diese Texte tauchen im Buch immer wieder in Gestalt
von Essays oder Briefen auf und sind der Bedeutung halber in
Kursivschrift gesetzt. Oft haben sie Überschriften bestehend aus nur
zwei Worten wie eine päpstliche Enzyklika, und in ihrem gedanklichen
Anspruch stehen sie einer solchen nicht nach, verhalten sich aber
inhaltlich - bei allem Respekt - nicht selten konträr zur Auffassung der
katholischen Amtskirche.
Festgemacht an den Lebensstationen eines universellen (Quer-)Denkers,
charismatischen Freigeistes und zugleich tief mitfühlenden Menschen
lesen wir philosophische Texte von erschütternder, ja beklemmender
Aktualität. Dabei wirft dieses Buch mehr Fragen auf, als dass es fertige
Antworten gäbe. Aufgerüttelt und berührt von den Fragen kann sich die
Antworten nur jeder selbst allein geben. Wer das nicht will, sollte
besser erst gar keine Fragen zulassen und das Buch lieber nicht lesen.
Sonst könnte ihm wie Gregorius "schwindelig" werden.
Wer sich aber auf dieses wunderbare Werk von Pascal Mercier einlässt,
wird seinen Blick "nach innen" schärfen und sich im Idealfall
selbst besser kennenlernen. Auf dem Weg dahin aber zahlt der Leser
womöglich den Preis einiger schlafloser Nächte …