Paolo Maurensig: Spiegelkanon
Untertitel: Canone inverso
Hoffmann und Campe
ISBN 3-455-04777-7
Ein vermögender Mann ersteigert bei Christie`s eine Geige aus der
Werkstatt von Jakob Stainer. Er hätte buchstäblich jeden Preis bezahlt,
um dieses Stück zu bekommen. Das Instrument, das durch ganz und gar
untypische mystische Schnitzereien auf dem Wirbelkasten hervorsticht,
mag bereits aus der Phase des zunehmenden Wahnsinns stammen, der den
Tiroler Geigenbauer Stainer in seinen letzten Lebensjahren geplagt
hatte. Nach den Angaben von Christie`s war die Geige übrigens zuletzt im
Besitz einer Wiener Psychiatrischen Anstalt, was sich im weiteren
Verlauf als nicht ganz unwichtig entpuppt.
Nun tritt ein weiterer Mann auf den Plan, der sich als Schriftsteller
bezeichnet und behauptet, mit dieser Geige sei eine schreckliche
Geschichte verbunden, die er zu Ende bringen wolle. Er habe den Besitzer
des Instrumentes, einen gewissen Jenö Varga aus Ungarn 1985
kennengelernt, ihn auf genau dieser Geige in einem Wiener Heurigenlokal
meisterhaft die Chaconne von Bach spielen hören und schließlich seine
phantastische Lebensgeschichte erfahren.
Allerdings habe er später nach einem Unfall mit Gehirnerschütterung und
gleichzeitigem Verlust seiner schriftlichen Aufzeichnungen diese
Begegnung anzweifeln müssen, zumal er im Rahmen seiner Nachforschungen
in Vargas Heimatdorf Nagyret an dessen Grab gestanden habe, auf dem als
Todesdatum 1947 eingraviert sei. Der Dorfpfarrer, der Varga beerdigt
hatte, lebte noch und habe gemeint, manchmal fänden die Toten die
eigenartigsten Wege, um mit den Lebenden zu kommunizieren. Die ganz
unverwechselbare Geige aus der Versteigerung, so fährt der
Schriftsteller fort, beweise ihm nun aber eindeutig, dass seine
Begegnung mit Jenö Varga trotz mancherlei Widersprüchen und Unklarheiten
kein Hirngespinst sei. Übrigens erfährt der Leser an dieser Stelle
nichts über die Todesursache des offenbar bereits mit 28 Jahren
verstorbenen Varga, kann sich aber durchaus bereits hier seinen eigenen
Reim machen.
Und dann beginnt die eigentliche bilderreich und plastisch
beschriebene, trotzdem aber unfassbare Lebensgeschichte des Mannes, der
sich Jenö Varga nannte. Der (übrigens namentlich nicht vorgestellte)
nacherzählende Schriftsteller lässt seinen Protagonisten in der Ich-Form
berichten; somit hat es der Leser an dieser Stelle bereits mit dem
dritten Ich-Erzähler in Maurensigs Buch zu tun.
Als uneheliches Kind geboren übernimmt Jenö die von seinem verschollenen
Vater hinterlassene Stainer-Geige mit dem ungewöhnlichen Schnitzwerk.
Obwohl in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen wird er auf einer
renommierten, aber extrem strengen Musikschule zu einem begnadeten
Geiger ausgebildet, besser gesagt, von sadistischen Lehrern dazu
gedrillt. In der Schule trifft er auf den ihm (fast!) ebenbürtigen
adeligen Mitschüler Kuno Blau. Nach Abschluss der Ausbildung wird er von
Kuno auf dessen elterliches Schloss eingeladen. Dort passieren dann ganz
merkwürdige, manchmal geradezu irrsinnige Dinge, deren die eigene
Identität berührende Bedeutung Jenö Varga erst nach und nach erfasst,
während Kuno Blau offenbar von vornherein gezielt einen bestimmten Plan
verfolgt.
Schließlich "entflieht" Varga nach Wien, kommt dort in den nur
subtil angedeuteten Strudel des sogenannten Anschlusses Österreichs an
Deutschland, begegnet der von ihm verehrten jüdischen Geigerin Sophie
Hirschbaum während eines Mendelssohn-Konzertes, erlebt dabei
schreckliche Vorahnungen, aber auch reale Vorboten des kommenden
politischen Wahnsinns, verliert auf behördliche Anordnung seine
angeblich aus einem Diebstahl stammende Geige, zieht in den Krieg,
überlebt diesen zwar, findet sich danach aber im Frieden nicht mehr
zurecht. Zumal Sophie Hirschbaum zwar Treblinka überlebt hat, bald
danach aber an Schwindsucht verstirbt. Die letzten Worte in Vargas
Erzählung lauten: "Und ich folgte ihr. So wie ich [Sophie]
geschworen hatte, dass ich es im Leben tun würde, tat ich es auch im
Tod".
An dieser Stelle ist nicht nur der Leser irritiert, sondern ganz
offensichtlich auch der nacherzählende Schriftsteller. Während letzterer
die Lösung niemals erfährt, wird der Leser von Maurensig, respektive dem
neuen Besitzer der Geige in einem Epilog noch einmal mit auf das Schloss
der Familie Blau genommen. Und wer wirklich will, kann dort die
geschachtelte Geschichte entwirren, wobei einem Arztbericht über Kuno
Blau aus der (offenen?) Psychiatrischen Anstalt Wien die
Schlüsselfunktion zukommt.
In meinen Augen eine wunderbar geschriebene Novelle, an deren Deutung
zwar mancher verzweifeln mag, hoffentlich aber dennoch nicht irre wird.
Jedenfalls scheinen mir der Klappentext sowie auch eine auf der
Buchrückseite abgedruckte Rezension aus L`Unità falsch zu liegen. Der
zitierte "österreichische Aristokrat" kommt nicht durch den
Erwerb der Geige "unvermittelt einem dramatischen Kapitel seiner
Familiengeschichte auf die Spur", nein, er ist der einzige, der von
vornherein bereits alle Puzzlesteine kennt, die Lösung aber erst ganz
zum Schluss preisgibt.
Müssen wir etwas aus dieser Novelle für unser Leben mitnehmen? Wir
müssen nicht, aber wir könnten. Muss man eine eigene Deutung vornehmen?
Nein, natürlich nicht! Trotzdem habe ich genau das versucht und für mich
die Lösung in einer kontrapunktartigen Gegenüberstellung zweier zunächst
verschiedener, aber auch ergänzender Lebenslinien gefunden, die sich
beide letztlich aber schicksalshaft ein und des gleichen Lebens
bemächtigt haben. Ob dieses eine Leben damit fertig wude, erleuchtet
oder krank endete, glüklich oder unglücklich war, normal oder
"unnormal", wer will darüber richten!
Eigenartigerweise, wie durch eine Fügung (ich glaube nicht an Zufälle),
habe ich kurz vor dem "Spiegelkanon" den "Nachtzug nach
Lissabon" von Pascal Mercier und die "Wolfssonate" von
Hélène Grimaud gelesen. Auch in diesen beiden Werken (siehe den
Nachtrag) wird dargestellt, wie unterschiedlichste Persönlichkeiten in
ein und demselben Menschen wohnen können – und da muss man nicht einmal
schizophren sein (kann es aber schlimmstenfalls werden). Bekanntlich
liegen ja auch Genie und Wahnsinn nicht immer sehr weit auseinander.
Und der Titel? Wie ist der zu verstehen? Nun, ein Kanon lebt von
verschiedenen fugisch geschachtelten Stimmen, Linien und Themen und ein
Spiegelkanon von deren Inversion (=Umkehrung). Parallelen zu den
handelnden Protagonisten und zu unser aller Lebensalltag sind kaum zu
übersehen.
Selten hat ein Buch solange in mir nachgeklungen wie Maurensigs
originalbetitelter "Canone inverso".
Integrativer Nachtrag:
"Ich habe nach und nach diese innere Ausgewogenheit erlangt, als ich
meine Widersprüche akzeptierte, als ich begriff, dass manche Menschen
nicht eine Einheit sind, sondern ein Puzzle aus gegensätzlichen
Sehnsüchten, und dass es selbstmörderisch ist, ja geradezu an
Selbstverstümmelung grenzt, wenn man eines dieser Teile verleugnet unter
dem Vorwand, einer Norm entsprechen zu wollen, die einem von einem
Modell aufgedrängt wird".
(Hélène Grimaud, aus "Wolfssonate")
Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose
aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er
will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns
selbst wie zwischen uns und den anderen.
(Michel de Montaigne, aus "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal
Mercier)