Neil MacGregor - Deutschland

Neil MacGregor - Deutschland

MacGregor - Deutschland
Dies ist ein Geschichtsbuch der anderen Art. Schon der Untertitel "Erinnerungen einer Nation" weist auf den alternativen Ansatz des vom englischen Kunsthistoriker MacGregor verfassten Werkes hin. Der Blick ist sozusagen von innen her gerichtet auf das eigene Land, nicht von außen aus der Betrachtung oder aus dem Quellenstudium eines Historikers. Deshalb heißt es im Untertitel eben auch nicht "Erinnerungen an eine Nation".

Nun werden Sie fragen, wie soll das funktionieren, wenn ein Brite solch ein Buch schreibt. Nun, Neil MacGregor war zunächst Direktor des British Museum Berlin (im Verbund Deutscher Museen Berlin) und danach bis 2018 Intendant des Humboldtforums Berlin. Er kennt sich mit deutscher Geschichte bestens aus und kann als Wahlberliner durchaus "von innen" auf Deutschland schauen. Und vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass es ein Brite ist, der sich diese Aufgabe gestellt hat. Er kann von der "Schande" Deutschlands sprechen, ohne der "Nestbeschmutzung" verdächtig zu sein, aber auch von den "Großen Deutschen", ohne dass man ihm einen verklärten Blick unterstellen könnte.

MacGregor geht nicht chronologisch vor, sondern themen- bzw. objektbezogen. Er nimmt sich beispielsweise das Brandenburger Tor vor und lässt dieses Bauwerk berichten, was es erlebt hat. Gebaut wurde es von Friedrich Wilhelm II 1789 bis 1793 als eine Art Triumph-Tor nach seinem Sieg 1787 über die Vereinigten Niederlande. Aber schon 1806 zog Napoleon durch dieses symbolträchtige Tor in Berlin ein und nahm die Quadriga als Demütigung der preußischen Herrscher gleich für acht Jahre mit nach Paris. Über die folgenden Jahrzehnte sah das Tor Aufmärsche der preußischen Könige und Kaiser, der Weimarer Republik mit ihren konträren Gruppen und der Nazidiktatur. Dann war es Teil der Berliner Mauer und nach deren Fall Hintergrund der großen Reden zur Wiedervereinigung. Auch heute hat das Brandenburger Tor nichts von seiner Symbolkraft verloren, es ist Schauplatz großer Feste, etwa beim Public Viewing im Verlaufe einer Fußballweltmeisterschaft oder beim Feuerwerk zum Jahreswechsel. Klar, dass Mac Gregor mit diesem wohl bekanntesten und symbolträchtigsten Bauwerk der Deutschen beginnt.

Der Autor berichtet all` das aus der Sicht der Deutschen, um deren jeweilige Befindlichkeiten darzustellen – und derer gab es viele. Natürlich flicht er eine Menge historischer Fakten ein, so dass der Leser sein Geschichtswissen vermehren oder auffrischen kann, sich aber nicht durch umfangreiche Details eines herkömmlichen Geschichtswerkes quälen muss.

Das also ist MacGregors Herangehensweise. Nach diesem Muster rankt er seine Geschichtserzählungen um weitere symbolträchtige deutsche Bauwerke, wie z.B. den Aachener Dom, das Reichstagsgebäude, die Berliner Siegessäule, die Walhalla und das Holocaust Denkmal. Daneben greift er sich Institutionen und deren historische Einbindung heraus, etwas die Hanse und das Bauhaus. Oder symbolhafte deutsche Erzeugnisse wie den VW Käfer, Meißner Porzellan, deutsches Bier und deutsche Wurst. Amüsanterweise kaum ein Wort über deutschen Wein!

Natürlich werden auch die ganz großen Kriege beleuchtet, also z. B. der 30jährige Krieg und die Völkerschlachten gegen Napoleon.

Eine Besonderheit des Buches (bei einem Kunsthistoriker als Verfasser nicht ganz überraschend) sind die Verzweigungen zu den deutschen Künstlern und Denkern, was dem Verständnis der von ihnen geschaffenen Werke dient. Wir erfahren Details z. B. über Johannes Gutenberg, Martin Luther, Albrecht Dürer, Tilman Riemenschneider, J.S Bach, Immanuel Kant, Ludwig v. Beethoven, J.W. Goethe, Heinrich Heine, Caspar David Friedrich, Franz Kafka, Thomas Mann, Gerhard Hauptmann, Walter Gropius, Emil Nolde, Bertold Brecht und viele andere, natürlich immer im Bezug zu Ihrer Zeit und der Auseinandersetzung mit ihr.

Besonders ausführlich und durchaus ergreifend sind die Kapitel über Käthe Kollwitz, Ernst Barlach und Christa Wolf. Manchmal fragt man sich, wie Künstler unter den sie umgebenden politischen Umständen überhaupt Kunst schaffen konnten. Oder doch gerade wegen dieser Umstände?

Recht positiv wird das Wirken von Helmut Kohl dargestellt, dem Kanzler der Wiedervereinigung. Der hatte beispielsweise gegen großen Widerstand durchgesetzt, dass eine Bronzeplastik von Käthe Kollwitz mit dem Titel "Mutter mit totem Sohn" in der Neuen Wache Berlin aufgestellt wurde als Mahnmal für die Opfer aller (!) Kriege und aller (!) Gewaltherrschaften.

Zum Schluss versucht MacGregor darzustellen, was uns Deutsche durch unsere eigene Geschichte (die sich erheblich von der englischen oder französischen unterscheidet) bis heute prägt. Vielleicht gibt es doch so etwas wie "deutsche Charaktermerkmale", bedingt durch unsere ältere und neuere Geschichte?

Es mag Sinn machen, dass das Buch nicht von einem Deutschen geschrieben wurde. Der "Blick von Innen" auf sich selbst ist ja für unmittelbar Betroffene nie einfach.

Die beigefügten überaus zahlreichen Abbildungen, die den Text anschaulich untermalen, sind eine eigene lobende Erwähnung wert und runden das Wek perfekt ab.

Das Werk lässt sich übrigens für ganz kleines Geld bei der Bundeszentrale für politische Bildung erwerben. Verschiedene Auflagen haben sehr unterschiedliche Titelbilder. Lassen Sie sich dadurch nicht täuschen. Schauen Sie nur nach dem Titel, wenn Sie unserer Empfehlung folgen möchten, das Buch zu lesen.

ISBN 978-3-7425-0121-9