Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder!

Kent Nagano

Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-1233-3

Ob ich noch Wunder erwarte? (!) Über die ganz alltäglichen Wunder hinaus! Wohl eher nicht, auch nicht von Kent Nagano, dem amerikanischen Dirigenten, den ich als Förderer zeitgenössischer Komponisten kenne und schätze. Doch schauen wir mal auf den englischen Originaltitel: "Expect the unexpected". Nun, Unerwartetes passiert ja immer mal wieder. Also bin ich ganz schön neugierig, was mich wohl erwarten mag, als ich das Buch aufschlage.
Um es gleich vorweg zu nehmen: es ist ein tiefsinniges Plädoyer für die Bewahrung der "schönen Künste", vor allem aber der von uns üblicherweise als "klassisch" bezeichneten Musikwerke aus den letzten 4 Jahrhunderten.

Nagano zeigt auf, was ihn und manch anderen so tief beunruhigt: Zwar hätte (!) heute prinzipiell fast jeder über die digitalen Medien einen leichten Zugang auch zu klassischer Musik, müsste also, anders als vor 100 Jahren, keinen Konzertsaal, kein Opernhaus mehr besuchen. Doch unabhängig von diesen großartigen neuen Möglichkeiten melden Starorchester Insolvenz an, große Bühnen schließen. Im Bewusstsein junger Menschen geht die klassische Musik zunehmend verloren, dagegen helfen auch die neuen digitalen Angebote nicht.

Das mag viele Gründe haben. Nagano nennt zwei wesentliche:

In Zeiten knapper finanzieller Mittel werden öffentliche Zuwendungen für große und kleine Bühnen (und für andere Kunsteinrichtungen) gekürzt, was diese Institutionen bedroht, zumal auch das interessierte zahlende Publikum älter wird und langsam ausstirbt.

Zudem wird jungen Menschen viel seltener als früher ein Zugang zu klassischer Musik geebnet, Schulen und Elternhäuser haben sich aus der frühkindlichen klassischen Musikerziehung weitestgehend verabschiedet. Nagano macht mannigfaltige Gründe für diese Entwicklung verantwortlich. Der Zugang zu Klassischer Musik gelingt aber nicht von selbst, er erfordert Mühe, oft sogar Aufopferung und Zeit, muss also aktiv gefördert werden.

Und genau das, nämlich die Förderung klassischer Musik, vor allem auch der neueren klassischen Musik, ist das Hauptanliegen des vorliegenden Buches. Auch wenn auf sehr geschickte Weise Naganos persönliche und künstlerische Autobiographie verwoben wird mit soziologischen und neurophysiologischen Erkenntnissen zur Wirkung klassischer Musik, ergänzt wird durch Reflektionen über große Werke von Bach, Schönberg, Beethoven, Messiaen, Bruckner und Ives und zudem noch angereichert wird durch Statements von Helmut Schmidt, Kardinal Reinhard Marx, der Astronautin Julie Payette und diverser Musikforscher, so ist doch der rote Faden evident:

Nagano will uns aufrütteln, etwas für den Fortbestand der klassischen Musik und anderer schöner Künste zu unternehmen. Hier sind Erzieherinnen, Lehrer, Eltern, Politiker und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen gefordert.

Nagano ist weit davon entfernt, Klagelieder anzustimmen. Ganz im Gegenteil zeigt er an Hand eigener Initiativen detailliert auf, wie man die Musik zu den Menschen bringen kann. Er respektiert dabei auch Pop-Musik, wenn sie Tiefe und damit Bestand hat und erwähnt diesbezüglich u.a. John Lennon, Adele, Jimi Hendrix und Frank Zappa. Er weiß auch um die visuelle Kraft von Rockkonzerten, um deren leichte Konsumierbarkeit und stellt das nicht einmal in Frage. Vordringlich geht es ihm aber um die komplexe ernste Musik, eben die klassische Musik, die wohl nicht zufällig Jahrhunderte überdauert hat.

Anbiederungen, etwa im Sinne eines "Crossover" erteilt Nagano eine Absage. Andererseits betont er die Notwendigkeit, auch mit Hilfe der klassischen Musik Beziehungen zur Lebenswirklichkeit vor allem jüngerer Menschen herzustellen. Wie das gehen kann, schildert er im Zusammenhang der Übernahme des wirtschaftlich ziemlich angeschlagenen Sinfonieorchesters Montreal im Jahre 2006. Er hat dieses Orchester in eine "Werkstatt", in ein "Labor" verwandelt, zeitgenössische Bezüge hergestellt und vor allem die Musik aus den großen altehrwürdigen Tempeln heraus nach außen getragen, in Eishockey-Stadien, in Viertel sozialer Brennpunkte und zu den Inuit ins ewige Eis. Zudem startete er eine intensive Musikförderung von Kindern und Jugendlichen. Nagano belegt, wie dadurch die Zahl der Konzertbesucher und Abonnenten in Montreal kontinuierlich wieder anstieg.

Nun könnte man auf die Idee kommen, Nagano argumentiere aus einem Eigeninteresse heraus, ist er doch als klassischer Dirigent unmittelbar betroffen, oder gar bedroht. Längst sind Opern- und Konzerthäuser auch zu Wirtschaftsunternehmen geworden, zu "Marken" und müssen sich gegenüber Musicalbühnen, Rockfestivals und anderen Events leichterer Musik behaupten.

Diesbezüglich jedoch kann ich potenzielle Leser beruhigen. Naganos Buch stellt sich uneigennützig allein in den Dienst einer zu bewahrenden Kultur, zu bewahren wegen ihres unbestreitbaren Einflusses auf Gesundheit, Wohlbefinden, Selbstidentifikation, Bildung und Sozialisierung der Menschen auch des 21. Jahrhunderts. Nagano hält es für sehr kurzsichtig, Kindern und Jugendlichen den Zugang zur klassischen Musik und den anderen schönen Künsten zu versperren. Das ist nicht zuletzt auch ein Appell an die öffentlichen Hände, ohne deren ideelles und vor allem finanzielles Engagement fast alle Kultureinrichtungen sterben würden.

Die Kosten von Theatern, Konzert- und Opernhäusern, Museen und Bibliotheken kann man leicht beziffern. Aber wie "errechnet" man deren sogenannten "Benefit", das "Outcome" oder umgekehrt die negativen Folgen eines Kulturverlustes!

Aber vielleicht müssen wir eben doch, wenn es hart auf hart kommt, eher Alten- und Pflegeheime bauen und unterhalten als eine Elbphilharmonie, wie es Helmut Schmidt im Gespräch mit Nagano betroffen, aber pragmatisch durchklingen lässt.

Kent Nagano fordert uns Leser auf, die eigenen Erfahrungen und Wünsche mit den durchweg optimistischen Kernaussagen seines Buches abzugleichen. Sie werden die Lektüre dieses so vielschichtigen Werkes nicht bereuen und eine Menge Ideen mitnehmen. Und sollten Sie sich gar - einmal mehr - empören über die Allmacht vorhandener oder nicht vorhandener Gelder, so fällt auch das unter Naganos Hoffnung auf einen Erkenntnisgewinn.

Aber warum hält Nagano die klassische Musik für so unersetzlich wichtig? Nun, er sieht in ihr eine Quelle von Kraft, Inspiration und Erfüllung. Musik erweitert unser Empfindungsvermögen, ist charakterbildend und schult unsere ästhetischen Erfahrungen. In ihr begegnen wir Dingen, die größer sind als wir selbst. Das kann uns Orientierung und Halt nicht zuletzt in tiefen Sinnkrisen geben. In der Musik lässt sich von gläubigen Menschen Gott erfahren. Musik entfaltet eine unvergleichliche spirituelle Macht, vielleicht die größte unter den Künsten. Sie baut eine Brücke in die Transzendenz. Auch sind uns heilende Kräfte der Musik gut vertraut, sie kann Erkenntnisse fördern, psychische Blockaden lösen und aus Depressionen herausführen. Auch die Mythologie beschreibt die Kraft von Klängen: So erweicht Orpheus das Herz des Herrschers der Unterwelt mit seiner Lyra und seinem Gesang und Sirenen locken Menschen mit magischen Tönen in den Abgrund.

Nagano zitiert den Dichter Victor Hugo: "Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist, zu schweigen".

Aber in PISA-Studien gehen Musik und andere Künste trotzdem nicht ein, Formen ästhetischer Bildung werden in diesen Tests nicht berücksichtigt. Was aber wird aus einem Menschen, der durch politischen Willen derart gestutzt wurde? Auf welchen Schwingen will er sich - wenigstens hin und wieder - über die Niederungen der Alltagszwänge emporschwingen?

Ob die von Kent Nagano beschworenen Wunder trotzdem noch wahr werden? Ob wir das Unerwartete erwarten dürfen? Hoffen allein wird hier nicht helfen ….