James Hilton: Der verlorene Horizont

Der verlorene Horizont

Piper ISBN 978-3-492-23963-9
Der 1933 unter dem Titel "Lost Horizon" veröffentlichte Roman spielt in einem geheimnisvollen Lamakloster. Hilton nennt es "Shangri-La" und verlegt es in ein abgelegenes tibetanisches Hochtal. Die deutsche Erstausgabe erscheint unter dem Titel "Irgendwo in Tibet". Nicht zuletzt damit beginnt das Missverständnis mancher Leser, die das Werk unter dem Aspekt eines Abenteuerromans, eines Reisebuches oder einer Einführung in den Buddhismus erworben haben.

Diese Leser sehen ihre (falschen) Erwartungen dann oft bitter enttäuscht. Andere glorifizieren das Buch aus rechtsradikaler Sicht. Entsprechend wimmelt es im Web nur so von abstrusen Rezensionen. Beigetragen zum oft missverstandenen, aber weitverbreiteten Mythos des Romans haben wohl auch Verfilmungen mit Titeln wie "In den Fesseln von Shangri-La" aus dem Jahre 1937.

Hilton hat den fiktiven Schauplatz seiner Erzählung sicher nur deshalb in das tibetanische Bergland verlegt, weil der Himalaya seinerzeit die wahrscheinlich am wenigsten zugängliche Region dieser Erde war. Heute würde der Autor den Roman vielleicht auf der "Rückseite des Mondes" oder auf dem Mars spielen lassen. Das tibetanische Kloster Shangri-La ist letztlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Metapher für einen abgeschiedenen Ort der Stille, des Friedens, der inneren Ordnung, der Nachhaltigkeit und der Reflektion. Dabei soll und will Shangri-La kein "Paradies auf Erden" symbolisieren, der (wenn auch späte) Tod der Geweihten als endgültige Bestimmung eines erfüllten Lebens ist fest eingeplant.

Die apokalyptische (und heute vielleicht gar nicht mehr so utopische?) Vision des 1933 erschienenen Romans beschäftigt sich mit dem kommenden Untergang der Menschheit, wobei vorausschauend sowohl ein fürchterlicher globaler Vernichtungskrieg, eine Umweltkatastrophe oder auch ein kompletter wirtschaftlicher Zusammenbruch für möglich gehalten werden. Und das lange vor der Erfindung der Atombombe und deren Einsatz im 2. Weltkrieg, vor der Erkenntnis der wohl kaum noch aufhaltbaren Klimakatastrophe und vor der augenblicklichen verheerenden und sicher nicht letzten Weltwirtschaftskrise mit ihren weitreichenden Folgen.

In Hiltons Erzählung ist Shangri-La eine Klostergründung buddhistisch geprägter Lamas. Später kommt es durch die Aufnahme eines christlichen Missionars zur Synthese beider Glaubensrichtungen. Es entsteht dabei aber nicht etwa eine neue Religion, sondern eine sehr gemäßigte, sehr tolerante Weltanschauung und Grundgeisteshaltung. Doktrinen gibt es keine und selbst irdische Genüsse sind nicht verboten. Durch den Verzicht auf Übertreibungen, die meditativ erzielte Einheit von Leib, Seele und Geist sowie vielleicht auch bestimmte lebensverlängernde Kräuter werden die überwiegend aus China und Europa stammenden Klosterbrüder ungewöhnlich alt und überblicken so riesige Abschnitte der menschlichen Geschichte. Die Lamas in ihrer geografisch isolierten und damit eben auch gut vor weltanschaulichen Irrwegen geschützten Enklave widmen sich ganz der Kontemplation. Anders als Eremiten im engeren Sinne arbeiten sie aber zudem an der Bewahrung des abend- und morgenländischen Wissens und Kulturgutes für die Zeit nach einer antizipierten weitgehenden Vernichtung der Menschheit. Übrigens ist ja auch unsere Generation nicht frei von solchen Visionen und baut beispielsweise Samenbanken und Mikrofilmarchive zur Bestandssicherung "für die Nachwelt" auf.

Sehr raffiniert ist die eigentliche Story in eine Rahmengeschichte eingebettet, und zwar als kaum glaubhafter Augenzeugenbericht eines ehemaligen Bewohners von Shangri-La. So kann bereits innerhalb der Erzählung von den handelnden Personen über den Wahrheitsgehalt der Ereignisse spekuliert werden, und das durchaus in sehr spannender Art und Weise. Der Roman endet "offen", der Leser muß ihn also für sich selbst zu Ende denken und hat dabei verschiedene Möglichkeiten. Für manchen von uns mag das irritierend und durchaus nicht leicht sein.

Die begleitende Handlung wird äußerst sparsam skizziert und erscheint letztlich überhaupt sekundär. Es geht in diesem wunderbaren Roman um die Kraft der Worte, der Dialoge, der Einsichten, der Visionen. Drei Engländer und ein Amerikaner gelangen unter ganz mysteriösen Umständen in das Kloster Shangri-La und müssen sich fortan mit der dortigen, ihnen zunächst fremden Geisteshaltung auseinandersetzen. Das gelingt unterschiedlich gut, löst damit Konflikte aus und endet in einer Flucht oder treffender ausgedrückt, in einem Fluchtversuch.

Wer sich ganz allgemein in einem esoterisch orientierten Buch wohlfühlt, wird beim Lesen von "Der verlorenen Horizont" auf seine Kosten kommen. Dabei kann "Shangri-La" durchaus zu einer individuell ganz unterschiedlich interpretierbaren Metapher für eigene Visionen werden.

Beeindruckt hat mich eine Rezensentin auf der Amazon-Seite: "Ich kann nicht genau erklären wie, aber Shangri-La hat mich verzaubert". Muß denn aber ein Zauber auch wirklich immer erklärbar sein …?

Hier für "Neugierige" noch einige Zitate aus dem Buch:

"Wenn ich es in wenige Worte fassen soll, dann möchte ich sagen, dass wir vor allem an Maßhalten glauben. Wir lehren die Tugend der Vermeidung jeglichen Übermaßes, ein Übermaß an Tugend selbst inbegriffen, wenn Sie das Paradoxon gestatten wollen".

"Müssen wir denn, weil eine Religion wahr ist, alle anderen für unwahr halten!?"

Conway (Anmerkung des Rezensenten: Conway ist der Protagonist des Romans) hatte jedoch nie den Eindruck, dass die östlichen Völker ungewöhnlich träge seien, sondern vielmehr, dass Europäer und Amerikaner in einem Zustand beständiger und recht lächerlicher Fieberhaftigkeit durch die Gegend rasten.

"Einer der ersten Schritte zur Klärung des Geistes besteht darin, ein Panorama der eigenen Vergangenheit zu erhalten, und wie jeder andere Blick auch wird dieses genauer, wenn es perspektivisch gesehen wird. Wenn Sie lange genug unter uns weilen, werden Sie merken, wie Sie Ihr altes Leben allmählich deutlicher sehen, so als würden Sie an einem Fernrohr die Schärfe einstellen".

"Vielleicht ist ja die Erschöpfung der Leidenschaften der Weisheit Anfang".