Im Grunde gut - Rutger Bregmann
ISBN 978-3-7425-0643-6
Es gibt eine von den alten Griechen bis heute immer wieder kontrovers
diskutierte Frage: Ist der Mensch von Natur aus gut oder ist er böse?
Sind wir im Grunde soziale oder doch eher asoziale Wesen? Rutger Bregman
trägt in seinem Buch zusammen, was Forscher zu diesem Thema
herausgefunden haben. Wenn auch Sie sich mit dieser Thematik schon immer
vorurteilslos befassen wollen, empfehle ich Ihnen die spannende aber
auch höchst irritierende Lektüre.
Der Untertitel "Eine neue Geschichte der Menschheit" trügt.
Rutger Bregman kann die Menschheitsgeschichte natürlich nicht neu
schreiben. Allerdings kann er aufräumen, aufräumen nämlich mit Mythen,
die befördert wurden durch Religionen, Machthaber, politische Systeme
und auch durch zweifelhafte Experimente. Hatte doch manch ein Forscher
bereits zu Beginn seiner Studie das von ihm prognostizierte und damit
erwünschte Endergebnis fest im Blick.
Es ist schon erschreckend, wie Studien manipuliert wurden, was aber erst
heute nach Öffnung der Archive erkennbar wird. Erschreckend auch, wie
sich Machthaber und Systeme dieser "Forschungsergebnisse"
bedient und sie für ihre Zwecke missbraucht haben. Bregman zitiert
dutzende Studien, deren Ergebnisse nach heutigen Erkenntnissen nicht
mehr haltbar sind, aber über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte die Gestaltung
von Gesellschaftssystemen und deren Einrichtungen wie Schulen,
Gefängnisse, Kommunen, Unternehmen, Verwaltungen etc. beeinflusst haben.
Und schon vor der Zeit wissenschaftlicher Studien haben große Denker ihr
Weltbild "werbewirksam" ausgebreitet, vor allem im Zeitalter der
Aufklärung. Bregman kommt in diesem Zusammenhang immer wieder auf Thomas
Hobbes und Jean-Jacques Rousseau zurück mit ihren so völlig
unterschiedlichen Auffassungen von der Natur des Menschen. Beide Denker
haben ganze Systeme geprägt und bis heute Spuren hinterlassen.
Wenn das Buch von Rutger Bregman eines kann, dann ist es das: Zweifel
anmelden an protegierten im Brustton der Überzeugung verkündeten
Wahrheiten über die "eigentliche Natur" des Menschen. Damit
liefert es ein Stück undogmatische Aufklärung. Das wird auch der Grund
sein, dass dieses investigative Werk in Deutschland von der
"Bundeszentrale für politische Bildung" verlegt wird. Dort
können Sie es übrigens für 4,50 € incl. Lieferung bestellen.
Nun denken Sie aber bitte nicht, dass Bregman Ihnen die Frage
beantwortet, ob der Mensch "im Grunde" gut oder schlecht sei,
wenn er auch ganz offenkundig die erstere Variante favorisiert. Nein,
die Beantwortung überlässt er dem Leser und damit Ihnen.
Doch er liefert eine Fülle von Materialien, die beweisen, dass in den
allermeisten Menschen ein freundliche, friedliche, hilfsbereite und
mitfühlende Wesensbasis vorherrscht, ja sogar genetisch verankert ist.
Dann aber zeigt der Autor auf, wie diese positiven Grundeigenschaften
durch Systeme und Machthaber umgelenkt und missbraucht werden können.
Sind wir manipulierbar, zum Bösen verführbar, gerade weil wir so
freundliche Wesen sind? Es spricht manches dafür.
Ob sich die Lektüre des Buches für Sie lohnt, liegt ganz an Ihnen
selbst. Ein Gewinn wird es für jene sein, die Zweifel daran hegen, ob
alles, was man uns täglich sagt, ja einbläut und geradezu predigt auch
wirklich wahr ist. Wenn Sie allerdings eine felsenfeste Meinung zur
Natur des Menschen haben und den Homo sapiens etwa für das schlimmste
Raubtier auf Erden halten, dann wird Bregman Sie nicht umstimmen können.
Nicht neu, aber immer wieder faszinierend sind Studienergebnisse, die
sich mit dem Thema der sogenannten "selbsterfüllenden
Prophezeiung" beschäftigen. Stichworte hierzu wären
"Placebo" und "Nocebo". Bregman bringt viele alltags-
und damit praxisrelevante Beispiele zu diesem spannenden Thema. Hier
dürfte ein allgemeiner Konsens bestehen.
Aber keine Frage, das Buch wird bei manchem Leser Widerspruch aufkommen
lassen. "Den" Menschen, den gibt`s doch gar nicht! Und wie kann
bei den tausenden uns bekannten Kriegen und Gräueltaten überhaupt der
Gedanke entstehen, der Mensch sei gut! Wie kann etwas Gutes an den
Despoten sein, die ganze Länder unter ihre Knechtschaft gebracht und mit
Hilfe skrupelloser Helfershelfer Millionen Menschen gefoltert und
getötet haben! Was ging beispielsweise in einem Otto Adolf Eichmann vor,
als er Millionen Juden in den Tod schickte?
Und dann die Heerscharen von Terroristen, von Klein- und
Großkriminellen, von denen wir jeden Tag in den Medien erfahren! Gut,
dass es Gesetz und Ordnung gibt und Ordnungshüter, die uns schützen und
vor menschlicher Gier, Übergriffen und Schlimmerem bewahren, höre ich
Sie gerade sagen.
Oder sind die "Bösen" nur fehlgeleitet? Korrumpiert Macht? Wird
ein "guter" Mensch zu einem "schlechten" Menschen, wenn
er über Andere herrschen kann? Verändern wir uns, wenn wir Besitz
erworben haben und glauben, den schützen und verteidigen zu müssen? Fing
das ganze Elend vor ca. 10.000 Jahren an, als wir seßhaft wurden und
unser Leben in nomadischen Kleingruppen aufgaben? Denn für die Zeit
davor gibt es keine Belege zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Ist
der Mensch also "im Grunde" doch gut, aber oftmals durch
Zivilisationsfolgen fehlgeleitet? Wie erklärt sich sonst die
überwältigende uneigennützige Hilfsbereitschaft bei Katastrophen wie den
Starkregenereignissen in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen im Juli
2021?! Oder ist auch Hilfbereitschaft nichts als eine Spielart eines
tiefverwurzelten Egoismus?
Wenn Sie sich eine eigene Meinung bilden wollen, wie der Mensch wirklich
ist, finden Sie in Bregman`s Buch eine Fülle von Ansätzen zum
Weiterdenken. Das kann Ihnen helfen, wenn Sie einen Betrieb haben und
Mitarbeiter führen müssen. Wenn Sie als Chef einer Schule den Ton der
Anstalt vorgeben wollen. Oder wenn Sie als Verantwortlicher einer
Kommune optimal mit den Bürgern zurechtkommen möchten. Aber auch als
Eltern stehen Sie vor der Frage, was jeweils gut für Ihr Kind ist. In
all` diesen Situationen geht es nicht zuletzt um die Frage, wieviel
Vertrauen, wie viele Freiheiten, wieviel Selbstverantwortung, wieviel
Mitbestimmung Sie zulassen wollen? Was trauen Sie Ihren Mitmenschen zu,
und zwar im Guten wie im Bösen? Ihren Nachbarn, Kollegen, aber nicht
zuletzt Fremden?
Bregman`s Buch ist kein esoterisches Werk, keines, dass zu einem
generellen Kuschelkurs, zum Wegsehen oder Schönreden anstiftet. Es
bleibt immer auf dem Boden der z.B. von einem Bertrand Russel
eingeforderten harten Realität. Genau die allerdings zu erkennen,
braucht es einen wachen und unvoreingenommenen Blick.