H. Grimaud: Wolfssonate + Lektionen des Lebens
Blanvalet
ISBN 978-3-442-36460-2
Ein provenzalisches Mädchen, Hélène, verhält sich schon mit drei Jahren
ganz anders als ihre Freundinnen. Ihre Wildheit, Unbezähmbarkeit, ja
manchmal sogar offensichtliche "Unerziehbarkeit" bleiben auch
während der Schulzeit existent und machen Hélène zur Einzelgängerin.
Halt findet sie zunächst in der Natur, zusätzlich Erfüllung aber erst
durch das immer professionellere Klavierspiel.
Hélène Grimaud schreibt diese Autobiografie, als sie schon längst eine
international gefeierte Starpianistin ist. Eine eigenartige, ehrliche
Autobiografie, die vor allem auch die Brüche, Zweifel und Zeiten der
Verzweiflung nicht verschweigt. Nicht einmal physische
Selbstverletzungen werden ausgelassen.
Durch das gesamte Buch ziehen sich – kunstvoll eingeflochten –
Bemerkungen zur Natur- und Kulturgeschichte des Wolfes. Der Wolf hat –
wie wohl kein anderes Tier – in allen Kulturen und Zeitaltern den
Menschen, vor allem Literaten, Philosophen, Schamanen und andere
Heilkundige zu Phantasien angeregt. Der Wolf hat einerseits bei den
Griechen und Römern Gottgestalt angenommen, ist aber andererseits auch
in vielen Kulturen schonungslos als dämonisches Wesen verfolgt und
manchmal sogar regelrecht "hingerichtet" worden.
Für Hélène Grimaud ist der Wolf ein Inbegriff von Wildheit, Klugheit und
Überlebenskraft, aber zugleich auch ein beispiellos sozial lebendes
Wesen. Hélène setzt sich vehement für den Schutz der Wölfe ein. Die Nähe
zu den von ihr in einem riesigen Freigehege gehaltenen Wölfen nährt eine
ihrer essentiellen Wesensseiten, die allein durch das Wirken als
Konzertpianistin nicht auf Dauer überlebensfähig wäre.
Leben als Variationen der ihr immer noch innewohnenden
"Wildheit", das hat wohl zum Originaltitel "Variations
sauvages" der französischen Erstausgabe geführt. Dieser Titel trifft
die Intention der Autobiografie m.E. auch viel besser als der wohl unter
absatzstrategischen Gesichtspunkten gewählte deutsche Titel
"Wolfssonate".
Ein sehr gut komponiertes Buch, das uns auf verschiedenen Ebenen
emotional, aber auch intellektuell berührt und vielleicht auch auf dem
Weg der Selbstverwirklichung helfen kann. Vor allem, wenn wir begreifen,
dass Selbstverwirklichung nicht ohne Selbstbefreiung und diese nicht
ohne Selbsterkenntnis erfolgen kann. Hélène Grimaud spricht von
"Instinkt", dem sie auf dem Weg zur "inneren Symmetrie"
folgt. Sie hätte auch von "Wolfsinstinkt" sprechen können.
Hier beispielshaft einige Passagen aus dem Buch:
"Viel später erst begriff ich, dass diese Zwangsvorstellungen
bezüglich der Symmetrie der Dinge bis in die Verletzungen hinein, die
meinen Eltern solchen Kummer machten und die meine Lehrerinnen für
be-un-ruhigend hielten, einfach nur Ausdruck einer grundlegenden
Sehnsucht waren: die Suche nach einem Gleichgewicht, dem Gleichgewicht
meines ganzen Wesens in der Welt und im Universum".
"Sich von den täglichen Gewohnheiten des Körpers freizumachen,
bedeutet, dass man sich die Chance gibt, ein anderes Verhältnis zu
seinem Denken zu gewinnen".
"Martha Argerich hat mich gelehrt, dass ich mich dem Unvermeidlichen
stellen musste; diesem Unvermeidlichen in einem selbst, das allein die
Macht hat, uns zu retten".
"Manchmal übe ich mich in einer Schweigeaskese, so lange, bis ich im
Schweigen die Musik des Schweigens höre: ein Nichts, aber ein Nichts,
das spricht, das sich zuhört. Die Musik ist eine Fortsetzung des
Schweigens, der Stille, sie ist auch das, was ihr vorausgeht, was im
Herzen des Stückes erklingt".
"Ich habe nach und nach diese innere Ausgewogenheit erlangt, als ich
meine Widersprüche akzeptierte, als ich begriff, dass manche Menschen
nicht eine Einheit sind, sondern ein Puzzle aus gegensätzlichen
Sehnsüchten, und dass es selbstmörderisch ist, ja geradezu an
Selbstverstümmelung grenzt, wenn man eines dieser Teile verleugnet unter
dem Vorwand, einer Norm entsprechen zu wollen, die einem von einem
Modell aufgedrängt wird".
Hélène Grimaud - Lektionen des Lebens
Untertitel: Ein Reisetagebuch
Verlag blanvalet
ISBN:978-3-442-37300-0
Hier der "Nachfolger" der Wolfssonate. Ein Reisetagebuch? Nicht
wirklich! Aber die Beschreibung einer langen Reise zum verlorenen
"ich". Die Pianistin ist eine sensible, ja sensitive
Persönlichkeit und erkennt sehr früh den Verlust oder doch zumindest die
vitale Bedrohung ihrer ureigensten Lebensessenz. Heute würde man diesen
Zustand vielleicht als "burn out" oder "fatigue syndrom"
bezeichnen. In Gesprächen mit ihr schicksalshaft zugeführten, aber wohl
eher fiktiven Reisebegegnungen findet Hélène den Schlüssel zum ganz
individuellen Lebensglück, zur Erfüllung, zur inneren Ruhe.
Völlig unwichtig, ob diese "Reise" tatsächlich stattgefunden hat
und ob die unterwegs von ihr getroffenen Menschen real existieren.
Wichtig allein der Erkenntnisgewinn durch den geistigen Austausch im
Gespräch oder auch Selbstgespräch. Solche Gespräche muss man allerdings
zulassen wollen, dann entstehen sie auch. Eine kleine Auszeit in Form
einer Reise, eines "Tapetenwechsels" kann dabei sehr hilfreich
sein.
Man sollte dieses esoterisch geprägte Werk erst nach der Lektüre der
"Wolfssonate" lesen. So kann man sich bereits in der
Vorbereitung mit der Persönlichkeit und der Wesensstruktur der Autorin
beschäftigen und entscheiden, ob Parallelen zu eigenen Ego bestehen. Nur
wenn der Leser diese Frage mit "ja" beantwortet, wird sich ihm
der Zauber dieses "Reisetagebuchs" erschließen.
Keine "story"! Das Buch lebt allein von der durch Zwiesprache
vermittelten Reflexion des eigenen "ich". Man kann nur allen
Menschen wünschen, während der eigenen Lebensreise auf "Typen"
zu treffen, wie sie in Hélène Grimauds autopsychologischem Meisterwerk
auftreten. Diese "Typen" können übrigens auch in un selbst
stecken, also bisher unbeachtete Seiten unseres eigenen "ich"
sein.
Wer Hélène Grimaud einmal während eines Konzertes sehen möchte, dem
können wir "A Russian Night" empfehlen, einen Mitschnitt vom
Lucerne-Festival aus 2008. Sie spielt dort Rachmaninows 2.
Klavierkonzert, op. 18 in c-moll unter der Leitung von Claudio Abbado.
Wir hören eine sehr empfindsame Interpretation ohne Starallüren, die
aber in den schnellen Sätzen auch mit viel Temperament daherkommt. Ein
Genuss für Augen und Ohren.
Die DVD enthält zudem noch die Orchesterstücke "Der Sturm" von
Tschaikowsky und "Der Feuervogel" von Igor Stravinsky.