Die Jazz Baroness - ISBN 978-3-8270-1150-3 Das Leben der Nica Rothschild
Können Sie sich etwas unter dem Begriff "Jazz Baroness"
vorstellen? Ich konnte es nicht. Jedenfalls nicht, bevor ich das Buch in
die Hand nahm. Nun aber ziert das Cover neben dem Bild einer eleganten
Dame auch ein Foto des unverwechselbaren Thelonious Monk, und spätestens
da "klingelt" es bei einem Jazzfreund. Gab es da nicht im New
York der Nachkriegsjahre eine englische Baronin Nica de Koenigswarter,
die als Mäzenin schwarzer Jazz-Musiker Schlagzeilen produziert hat und
mit Monk liiert war?
Neugierig macht zudem, dass die Verfasserin eine Hannah Rothschild ist
und die beschriebene Jazz Baroness im Untertitel auch den Namen
Rothschild trägt. Und ja, wir haben es hier tatsächlich mit Mitgliedern
der legendären milliardenschweren Bänkerfamilie zu tun, die
Königshäuser, ganze Staaten, aber auch Kriege finanziert hat. Doch wie
passt das zum "schwarzen" Jazz der Nachkriegsjahre im seinerzeit
noch viel schlimmer als heute rassendiskriminierenden Amerika?!
Genau das hat sich auch die Autorin Hannah Rothschild gefragt, wenn sie
als Jugendliche die eine oder andere versteckte Andeutung über ihre
Großtante Pannonica, genannt Nica hörte, ein offenbar "schwarzes
Schaf" der Familie. Hannah hat sich letztlich auf eine jahrelange,
ja jahrzehntelange Spurensuche begeben, Pannonica auch tatsächlich in
New York aufgespürt, mit ihr zahlreiche Interviews geführt, auch viele
andere Zeitzeugen befragt und ein intensives Quellenstudium anhand von
Zeitschriften, Prozessakten, Filmen (z.B. "Bird" von Clint
Eastwood) etc. betrieben. Letzteres war auch deshalb notwendig, weil
Nica unerwartet 1988, also lange vor der Fertigstellung des Buches
verstarb.
Aber was ist das Buch nun eigentlich? Eine Biographie der nach einem
Nachtfalter benannten Pannonica Rothschild, der späteren Baroness de
Koenigswarter? Eine Darstellung der Rothschild-Dynastie, beginnend mit
dem noch in einem Ghetto lebenden Stammvater Mayer Amschel, der im Haus
"Rothschild" wohnte und diesen Namen annahm? Eine Einführung in
die amerikanische Jazzszene um Charlie Parker, Art Blakey, Dizzy
Gillespie, Miles Davis, Sonny Rollins, Charles Mingus, später Quincy
Jones und vielen anderen legendären Musikern? Eine Biographie des
exzentrischen und erst heute ganz verstandenen Thelonious Sphere Monk?
Eine Bloßstellung der Diskriminierung von Afroamerikanern durch Weiße,
die ja trotz zahlreicher Gleichstellungsgesetze bis heute nicht
überwunden ist?
Die Antwort lautet: das vorliegende Buch ist all` das! Es gibt
umfassende, teils sehr intime und nahezu unfassbare Einblicke in das
Privat- und Geschäftsleben aller Generationen der Rothschilds vom 18.
Jahrhundert bis heute.
Cover der englischen Originalausgabe
Es schildert dann in einem ersten biografischen Teil das abenteuerliche
Leben der Pannonica, im englischen Originaltitel "The Rebellious
Rothschild" genannt, die zusammen mit ihrem Mann Baron Jules de
Koenigswarter in mehreren europäischen und afrikanischen Ländern am
Widerstandskampf gegen die Nazis teilnahm und dabei auch Bomber geflogen
hat. In einem weiteren Teil befasst sich die Biographie mit dem nicht
weniger abenteuerlichen Lebensabschnitt als Mäzenin berühmter schwarzer
Jazzer im New York der Nachkriegsjahre. Charlie Parker etwa ist in ihrer
Wohnung verstorben. Und in einem letzten Teil wird ausführlich Nicas
Beziehung zu Thelonious Monk beschrieben, den sie verehrt und bis zu
seinem Tode in ihrem Haus aufgenommen hat. Man erfährt Einzelheiten über
Monk als Menschen, Pianisten und Komponisten, die sich an anderer Stelle
so nicht finden lassen.
Aber warum ist die Biografie erst 2012 erschienen, wenn die Autorin ihre
Großtante doch schon 1984 und bis zu ihrem Tod 1988 immer wieder besucht
und interviewt hat? Eine Antwort auf diese Frage mögen die unzähligen
Quellenhinweise geben, die dem Buch angehängt sind. Hannah Rothschild
hat sehr penibel eine Unmenge von Einzelheiten über das Leben ihrer
Großtante zusammengetragen, gezwungenermaßen vor allem auch nach deren
Tod. Fast hätte sie das Werk nicht vollendet. Wohl, weil sich ihr bis
zuletzt trotz aller (auch psychologischer) Erklärungsversuche Nica`s
Bruch mit der Familientradition sowie ihrer eigenen Biographie und ihre
Hinwendung zum Jazz nicht voll erschlossen hat. Letztlich aber hat sie
nach eigenem Bekunden doch "losgelassen", das Buch abgeschlossen
und veröffentlicht. Sich selbst und uns Lesern empfiehlt sie, bei der
Suche nach dem unaufgedeckten Geheimnis der Aufforderung ihrer Großtante
Nica zu folgen: "Lausch` einfach der Musik".
Für jeden Freund des "klassischen" Jazz der Jahre 1945 bis 1970
ein faszinierendes Buch, das lange nachwirkt. Baroness Pannonica de
Koenigswarter, geb. Rothschild, genannt Nica und Thelonious Sphere Monk,
zwei ganz und gar außergewöhnliche Menschen, sehr wahrscheinlich
"Borderliner" an der Grenze zur Pathologie - oder doch einfach
nur berufene, aber verkannte Genies?
Eine Musikempfehlung, die Nica ihrer Großnichte Hannah gab, möchte ich
gern zum Abschluss an alle geneigten Leser und Jazzfreunde weiterleiten:
Besorgen Sie sich das Album "Thelonica" des Jazz-Pianisten Tommy
Flanagan, der im Trio mit George Mraz (b) und Art Taylor (dr) Monk-Titel
interpretiert.
Auf dem Cover werden sie Nica und Thelonious entdecken, vor allem, wenn
Sie es immer wieder um 180 Grad drehen…