Daniel Barenboim: Klang ist Leben
Siedler Verlag
ISBN 978-3-88680-892-2
Als ich das Buch des Starpianisten, weltweit verehrten Dirigenten und
Gründers des West-Eastern Divan Orchesters auf meinen Wunschzettel
schrieb, erwartete ich etwas Grundlegendes über Theorie und Praxis
musikalischer Aufführungen. Schon das Vorwort ("Prélude")
benennt dann aber Barenboims eigentliches Ziel: Die Darstellung von
Analogien zwischen Musik und gesellschaftlichem Leben.
Barenboim stellt diese Analogie zunächst in einen allgemein-politischen
Kontext, kommt dann aber schnell zu seinem Herzenswunsch, dem Dialog
zwischen Juden und Arabern. Als Bürger Israels hat er das natürliche
Recht, die israelische Politik aufs Schärfste zu kritisieren (und das
tut er auch), zumal er seit 1999 mit seinem "West-Eastern Divan
Orchestra" nachweist, wie (und dass überhaupt!) jüdisch-arabische
Verständigung praktisch funktionieren kann.
Ausführlich beschreibt Barenboim, wie es unter Mitwirkung des
Palästinensers Edward Said zur Gründung dieses Orchesters kam und wie
schließlich ab 2002 die Workshops regelmäßig in Sevilla (Andalusien)
stattfanden. Diese Ortswahl stellt alles andere als einen Zufall dar,
lebten in Andalusien doch über Jahrhunderte Juden und Araber im
friedlich kulturellen Austausch zusammen.
Allein schon das Kapitel über den Auftritt des Orchesters in Ramallah
lohnt die Anschaffung des Buches und lässt uns verstehen, warum
Barenboim weltweit nicht nur als Musiker, sondern auch – und nicht
zuletzt – als Mensch verehrt wird. Dieses Kapitel zeigt aber auch, wie
unendlich weit weg wir noch von einem friedlichen Miteinander von Juden
und Palästinensern sind. Zugleich wird deutlich, dass es weniger die
"normalen" Menschen sind, die die Trennung forcieren, sondern
ihre jeweiligen – oft extremen – politischen Führungen.
Am Beispiel zweier palästinensischer Musiker macht Barenboim das
menschliche Dilemma deutlich: Der eine, aufgewachsen in den West Banks,
war von Radikalisierung bedroht, bis er zur Musik kam. Der andere,
aufgewachsen und nahezu assimiliert in Israel, kämpft mit dem Verlust
seiner geschichtlichen und kulturellen Identität. Eine Art
künstlerischer Ersatzheimat haben beide dann in Barenboims Orchester
gefunden.
Von größtem Interesse sind Barenboims Gedanken zu Richard Wagner, seiner
Person, seinen antisemitischen Schmähschriften, vor allem aber zu seiner
Musik. Nur ein universeller Geist kann dieses in hunderten von
Publikationen behandelte Reizthema auf wenigen Seiten so prägnant,
undogmatisch und doch allumfassend auf den Punkt bringen.
Zum Ende seiner Ausführungen arbeitet Barenboim präzise seine
"Analogie" zwischen Musik und politischen Prozessen heraus: Der
Dirigent, der Solist, das Orchester, die Partitur, die Interpretation,
die kontrapunktischen fugischen Stimmführungen, die Durchführung der
Themen (wie in der Sonatenform), Dynamik, Tempi, Rhythmen, Melodien und
Harmonien – alles hat seine Entsprechung im gesellschaftlichen Alltag.
Musik zu erlernen, zu begreifen und zu praktizieren kann nach Barenboims
Überzeugung deshalb einen wichtigen Baustein verständnisvoller
zwischenmenschlicher Beziehungen bilden. Die Musikpraxis lehrt uns, dass
jede Aufführung wieder bei "0" beginnt, also die Chance einer
ganz neuen Auseinandersetzung mit dem Stück bietet. Warum sollte das bei
Gesprächen zwischen Menschen ganz anders sein!
Wenn Barenboim von Klängen, von Musik schreibt, meint er ausschließlich
die "klassische Musik". Sehr gut zum Thema aber würde sicher
auch die Sicht eines Jazz-Musikers passen. Dieses musikalische Genre
führt schon lange Schwarz und Weiß, West und Ost, Arm und Reich und
Angehörige aller Religionen zusammen. Und gerade der Jazz zeigt auf, wie
unter Beachtung einer von allen verabredeten festen äußeren Form sich
jeder Mitwirkende frei improvisierend verwirklichen und doch das Ganze
zu einer Einheit führen kann. Ein Buch mit solchen Betrachtungen gibt es
sicher schon, ich kenne es nur nicht.
Aber zurück zu Barenboim: Einige angehängte Interviews (z.B. mit Joschka
Fischer), Ausführungen zur Musik Mozarts, ein Essay über Wilhelm
Furtwängler und eine kleine unbequeme Rede vor der Knesset runden das
Buch ab. Angehängt sind einige Notenbeispiele.
Ein Buch über Musik? Nicht direkt! Eher ein philosophisches Werk zu den
Möglichkeiten einer Völkerverständigung unter Einbeziehung der
machtvollen Mittel der Musik. Unter dieser Sichtweise könnte Klang
allerdings wirklich zu Leben werden - so wie es ja auch der Untertitel
sagt.