Northmann - Lebend kriegt der Tod mich nicht

Lebend kriegt der Tod mich nicht

ISBN: 978-3-86935-250-3

Auf den ersten Blick schmal und leicht erscheinend ist sein Inhalt doch groß und gewichtig: Northmanns neuer Lyrikband ist ein Abriss tiefer Einsichten von einem, der auch dort noch selber denkt, wo andere bereits denken lassen. Das Resultat seiner oftmals grätschenden Analytik fasst der Autor vornehmlich in feine Verse – formuliert aber auch pointierte, ja ketzerische Aphorismen. Nein, artig sind sie nicht, seine "entartigten Gedichte", und schon gar nicht angepasst.

Northmann lässt sich durch "Konsumjunktur" und "Sinnflation" nicht täuschen und legt den Finger in so manche Wunde. Dabei aber formuliert er mit derart kritisch-subtiler Ironie, dass der Leser zwischendurch trotz aller Betroffenheit schmunzeln muss.

Kirche, Staat, Familie, Medizin, Kunst und TV-Kultur, die Zuckerberg-Medien – alle kriegen sie Nachdenkenswertes ins Stammbuch geschrieben:

Gott Vater, der zu seinen Fehlern steht und sich vielleicht gerade dehalb nach etwas mehr Blasphemie sehnt, zugleich aber auch die Arche bereitstellt, weil er ganz einfach "zur Neuschöpfung zu faul" ist.

Der Staat mit seiner platt-opportunistischen Geschichtkorrektur und seiner noch platteren Vorortarchitektur (die nach "Architektonik" schreit).

Die Eltern, die ihren Kindern zwar keine "Steine in den Weg" gelegt, aber "auf die Schultern" gepackt haben.

Das moderne Medizingetriebe mit seiner Bitternis, wenn man dieses "Kuckucksnest" mal nicht mehr überfliegen kann, sondern darin notlanden muss.

Das neue deutsche Liedgut, bei dem (sich allein noch reimend) "nur die Vokale nicht entgleisen" und der Rap mit seiner "Rhetorik als Pubertätsverlängerung".

Die uns im Fernsehen vorgegaukelte "Heile, Welt" mancher Produktionen von Pilcher & Co., die weder heilen wollen, noch wirklich können.

Facebook und Twitter als Quotenbringer, zugleich aber Auslöser verwirrender innerer Vereinsamung.

Ganz ohne Sarkasmus kommt Northmann nicht aus, Gott sei Dank; aber da, wie er schreibt, "Zynismus Sarkasmus im Kampfanzug" ist, bleibt er in Zivil. Nein, kämpfen muss er nicht gegen andere, er kämpft mit sich, für sich und gegen sich selbst und hat damit wohl wahrlich genug zu tun.

Der Titel des Buches und das nachdenklich machende Foto mit dem nach innen in die Flasche gezogenen Korken stellen sofort klar: Hier wehrt sich jemand. Wehrt sich mit wahren Worten – und findet dadurch in Katharsis Trost. Dabei erzeugen gerade die Gedichte mit den ganz einfachen Wendungen Gänsehaut:

  • "Bis hierher und dann weiter", einer verlassenen Frau gewidmet.
  • "Vermisste Funktion", nämlich die des bewussten und ersehnten Vergessen-Könnens.
  • "Nimm`s leicht - aber nimms", eine Aufforderung, das Schicksal anzunehmen.
  • "Das Aller-, Allerwichtigste", ein "exekutiver Blankoscheck zur skrupellosen Durchsetzung der nationalen Sicherheit".
  • "Die ungewollte Konsequenz", die der Marionette widerfährt, als sie bei der Flucht in die Freiheit ihre Fäden zerreißt.

Northmann schließt mit dem Gedicht "Denkste!". Dessen letzte Strophe klingt wie das Ausgangsmotiv für die Entstehung des Buches:

Bleib misstrauisch und habe Mut
zu prüfen, wie die Dinge sind.
Manch blinder Passagier sieht gut,
ein Seher ist mitunter blind.

Bei aller bereits im Eingangsgedicht augenzwinkernd formulierten Kritik an den in unsere Sprache eindringenden Anglizismen ist eines der schönsten Gedichte betitelt "Emergency Exit(-us)". Bitte interpretieren Sie selbst:

Die Schwüre wurden zum Geschwür,
statt Heilung fand nur Schminke statt.
Der Notausgang ist eine Tür,
die außen keine Klinke hat.

Du warst gewarnt. Du hast gewählt.
Die Konsequenz war dir bewusst.
Du weißt, du hast dein Ziel verfehlt,
du willst nicht weitergehn – du musst.

Der ohne Rückweg bist jetzt du.
Du hattest Mut, doch keine Zeit.
Die Tür ging auf, die Tür ging zu …
Jetzt bist du draußen und es schneit.

Und meinen Lieblingsaphorismus aus Northmanns Sammlung will ich Ihnen auch noch mitgeben:

"Die Mutigen bekommen die schönsten Grabkreuze –
aber die Feiglinge stellen sie auf."

Wer den kleinen Gedichtband erstmalig in der Hand hält, findet auf der Rückseite eine Art "Gebrauchsanweisung":

Meine Lyrik möchte stechen,
sie hat Spitzen, Nadeln, Sporne.
Aber lass dir nichts versprechen,
dreh` das Buch – und lies von vorne.

Keineswegs unwahrscheinlich, dass auch Sie sich nach der inspirierenden Lektüre dieses blitzgescheiten und (be)stechenden Lyrikbandes nicht weiter von außen entkorken lassen wollen, sondern als Gegenwehr den Korken nach innen ziehen. Oder sich gegen die "Verklappung" in einer "Seniorenklappe" wehren. Oder ....

Wünschen würde ich es Ihnen. Ein sehr wertvolles Werk, angesiedelt im weiten Feld zwischen Kästner und Morgenstern – mit einem guten Schuss Tucholsky. Nach "Fernschach via Flaschenpost" eben wieder mal ein echter Northmann.