Marlen Haushofer: Die Wand

Die Wand

List, ISBN 978-3-548-60571-5
Wir schreiben Rezensionen nicht für andere, sondern für uns selbst. Dennoch sind wir erfreut, wenn wir Gleichgesinnte zur Lektüre "verführen" können. Bei Marlen Haushofers 1968 erschienenem Roman "Die Wand" möchten wir allerdings warnen: Wir empfehlen dieses Buch ausschließlich Menschen mit Tiefgang, mit Zweifeln an "Werten" der konsumgläubigen Gesellschaft und Menschen mit der brennenden Frage nach dem Sinn des Lebens.

Wer auf Grund anderer Vorinformationen einen utopischen Science Fiction Roman, eine apokalyptische Horrorgeschichte, ein Tier-, Natur- oder Heimatepos, eine harsche Zivilisationskritik oder eine manchmal hineininterpretierte feministische Offenbarung erwartet, dem möchten wir von der Lektüre abraten. Marlen Haushofers Erzählung "Die Wand" lässt sich keinem dieser bekannten Genres zuordnen. Es ist ein Buch für Suchende, nicht aber für Menschen, die das Suchen aufgegeben oder – vielleicht glücklicherweise? – niemals erst begonnen haben.

Idealerweise sollte man das Buch ohne jede vorgefasste Erwartung auf sich wirken lassen. Insofern empfehlen wir auch, das in den späteren Auflagen abgedruckte Nachwort von Klaus Antes gar nicht, oder aber wirklich erst zum Schluss zu lesen. In diesem Nachwort wird der Roman "Die Wand" als Interpretationshilfe in einen Bezug zum Leben der Autorin "Marlen Haushofer" gestellt. Das ist natürlich legitim, folgerichtig und mag manchem von uns sogar bei der Vertiefung in den Text helfen. Wir meinen aber: Entweder erschließt sich das Buch "von allein", oder der Leser sollte es kopfschüttelnd beiseite legen. Nach unserer Auffassung muß ein Kunstwerk, also ein Bild, eine Plastik, ein Musikstück, ein Theaterinszenierung oder eben auch ein Roman aus sich selbst heraus einen Reiz, einen Zauber, vielleicht auch eine Bedeutung entwickeln. Jedenfalls sollte sich ein Werk dem Kunstfreund nicht erst durch Biografien oder Sekundärliteratur erschließen.

Ohne erkennbare Ursache entsteht über Nacht zwischen Marlen Haushofers namenloser Romanfigur, einer ca. 40-jährigen Frau und der übrigen Welt eine gläserne, aber undurchdringbare Wand. Jenseits dieser Wand sind alle Menschen und Tiere tot, sie wirken wie erstarrt und versteinert. Mit der Zeit werden sie und auch alle anderen Zeugen der ehemaligen Zivilisation von natürlicher Vegetation überwuchert. Diesseits der Wand, in einem Alpental eingeschlossen, versucht nun die von der Welt isolierte Frau mit den wenigen ihr verbliebenen Hilfsmitteln zu überleben. Die Wand steht als tragische Metapher für eine innere Distanzierung von Familie, Menschheit und Zivilisation. Sie ist nicht zufällig durchsichtig und ermöglicht damit den Blick auf die andere Seite. Anfänglich noch als Folge einer feindlichen Aggression gedeutet und auf die Okkupation durch "Sieger" wartend, wird die Wand später ohne weiteres Hinterfragen ganz einfach als existent angenommen. Damit spielt die Klärung von Bedeutung und Herkunft dieser irrealen Grenze zunächst keine Rolle mehr. Die Frau, deren Namen wir nicht erfahren, hat ohnehin jenseits der Wand niemanden zurückgelassen, der ihr etwas bedeuten oder der ihr fehlen würde; das gilt bezeichnenderweise auch für ihren Mann und ihre Kinder.

Nachdem im 2. Jahr der Abgeschiedenheit etwas unvorhersehbar Schreckliches passiert, verfasst die Frau als "Ich-Erzählerin" ein rückblickendes tagebuchartiges Protokoll des Erlebten. In dieser ganz bewusst emotionslos als "Bericht" titulierten Schilderung des Überlebenskampfes werden das bisherige bürgerliche Leben, die von nicht durchbrechbaren Konventionen geprägten eigenen Erfahrungen und notwendigerweise damit auch die bis dahin traditionelle Rolle der Frau hinterfragt. Denn alle diese bisherigen Verhaltensmuster taugen nicht, um fortan allein in der teils unbarmherzigen Natur zu überleben. Der Ausweg besteht in der Verschmelzung mit der Natur, in der Akzeptierung der natürlichen, oft unwirtlichen und unberechenbaren Urbedingungen und in der Erfüllung durch bodenständige, sich jedes Jahr wiederholende harte und entbehrungsreiche Arbeit. Hauptsächlich davon handelt der "Bericht". Immer aber schwingt eine zweite Ebene mit, die dieses neue, schwere, aber eben auch irgendwie faire natürliche Leben dem bisherigen, oft verlogenen und damit als noch viel schwerer empfundenen künstlichen Leben gegenüberstellt. Dabei sind es gerade Einsamkeit und Alleinsein, die diese Reflektionen erst ermöglichen oder geradezu erzwingen. Wer von uns wünschte sich nicht gelegentlich eine längere eremitenartige Auszeit, vielleicht ein Sabbatjahr oder auch nur wenige Tage voller Exerzitien zum "Luftholen"?

Wie aber soll man nun mit den irrationalen Begebenheiten, den Realitätsbrüchen und den unlogisch erscheinenden Geschehnissen dieser unglaublichen Geschichte umgehen? Die Wand als solche weist bereits den Weg. Hier geht es ganz offenbar nicht um eine realitätsgetreue Beschreibung oder eine logisch aufgebaute Reportage. Vielmehr haben wir es mit einem quasi in Romanform gegossenen Aufschrei der Seele zu tun. Auch Bildermacher (vgl. Much, Picasso) haben ähnliche Themen künstlerisch umgesetzt und z.B. Menschen gemalt, wie sie uns nicht eben täglich in der Realität begegnen; dennoch können wir oft Gesichtsausdruck und Haltung gerade durch Übersteigerungen und Abstraktionen besonders eindringlich nachempfinden. Und Schriftsteller haben natürlich genau wie alle anderen Künstler das Recht der Verfremdung und Irrationalisierung (Kafka lässt grüßen!).

Der den eigentlichen Roman ausmachende, in eine Rahmengeschichte eingebaute "Bericht" ist in unseren Augen ein ohne Zweifel autobiografisch gefärbtes Psychogramm oder eher Psychodrama. Wir sehen diesen sicher auch zur Parabel taugenden Bericht als eine Art Traum. Träume müssen sich ja nicht an logische Abläufe halten, offenbaren aber so oft mehr von unserem Seelenleben, als uns lieb ist. Manchmal mag man sich sogar zweifelnd fragen: "Hab ich das nur geträumt oder etwa wirklich erlebt?". Unter dieser Sichtweise beginnt das Geschehen als Alptraum in Gestalt der plötzlich existenten Wand, geht dann im Hauptteil in realitätsnahe Tagträume mit eingeflochtenen Wunschträumen und Träumereien über und endet nach einer neuerlichen, aber ganz kurzen und krisenhaften Alptraumphase in einem Zukunftstraum. Wenn man den "Bericht" in dieser Weise als Traum annimmt, auf sich wirken lässt oder durchaus auch psychoanalytisch deutet, wird man Marlen Haushofers Buch wohl am ehesten gerecht. Aber noch einmal: Dieser Zugang wird nur wenigen Menschen möglich sein.

Im (ja rückblickend) geschriebenen "Bericht" wird mehrfach die kommende Katastrophe angedeutet. Der Leser wird somit darauf vorbereitet, dass es kein "happy end" geben kann. Um so mehr ist der beschriebene bedingungslose Einsatz der Berichterstatterin für die eigene Lebenserhaltung und die der ihr anvertrauten Tiere von Bedeutung. Denn schließlich erkennt sie sehr deutlich, dass nach Aufbrauchen der Vorräte ihr eigenes Ende kommen muß. Diese Haltung erinnert uns an den berühmten Lutherspruch: "Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen". Vielleicht gar kein schlechtes Lebensmotto? Der "Bericht" endet, ohne dass wir erfahren, wie der Überlebenskampf ausgegangen ist. Nicht zuletzt dieses Stilmittel macht den Reiz des Buches aus. Das "offene Ende" zwingt den Leser, das Geschehen für sich selbst weiter zu denken. Und das ist sicher keine leichte Aufgabe.

Denn wie ist das Leben diesseits der Wand überhaupt zu interpretieren? Als Paradies? Als Exil? Als Versteck? Als Gefängnis? Nein, keine dieser Deutungen trifft zu. Das Leben diesseits der Wand ist zunächst einmal ein Ort, der vor dem sonst unausweichlichen Tod, der Vernichtung, der Versteinerung geschützt hat. Die "Berichterstatterin" versucht folgerichtig gar nicht ernsthaft, die Wand zu überwinden. Womöglich würde sie ja gerade dadurch in die Todeszone gelangen. Das durch die Abtrennung erzwungene Leben allein mit der Natur, mit den Tieren und Pflanzen führt zu einer inneren Reinigung (Katharsis), zur Schärfung des Blickes, zur Reflektion und zu neuen Herausforderungen.

Aus der Distanz lässt sich das bisherige Leben (durch die transparente Wand!) sehr viel klarer betrachten und deuten. Vielleicht mag es den weniger von Selbstzweifeln geplagten Leser dennoch ein wenig verwundern, dass dieses Leben rückblickend selbst im Vergleich zu der neuen rauen und bedrohlichen Wirklichkeit so gar nichts Erstrebenswertes mehr hat. Denn das durch die Wand erzwungene neue Leben bringt ja schließlich schwere und entbehrungsreiche Herausforderungen mit sich, etwa das Ausgesetztsein den Naturgewalten gegenüber und viele neue, bislang durch Hilfsmittel der Zivilisation "automatisierte", jetzt aber nur mühsam erfüllbare lebenserhaltende Aufgaben. Genau diese Aufgaben aber werden mit großer Zähigkeit, Würde, Menschlichkeit und Akzeptanz der Naturgesetze bewältigt. Das macht ganz offenbar den Unterschied aus. Das bisherige Leben hatte die Seele vergiftet, das neue Leben nährt und stabilisiert sie.

Gerade die jahreszeitliche Periodizität der Arbeiten auf dem Feld, im Garten und im Stall schafft eine Struktur, die neben der äußeren auch eine innere Orientierung ermöglicht. Wohl genau deshalb werden im "Bericht" zwei nacheinander sehr ähnlich ablaufende Jahre geschildert. Den Leser mag das zunächst als überflüssige Wiederholung irritieren, es hat aber seinen "dramaturgischen" Sinn. Zudem macht es Freude, sich längere Zeit in die schlichte, unprätentiöse aber klare Sprache Haushofers zu vertiefen. Manchmal erzeugt diese Sprache gerade wegen ihrer Reduzierung auf das Notwendigste spirituelle Momente.

Die Sorgen der Berichterstatterin sind im Gegensatz zu früher auf einmal ganz real, nachvollziehbar und im wahrsten Sinne des Wortes (be)greifbar. Damit sind sie dann auch zu bewältigen. Genau hier besteht der Unterschied zur bisherigen oft als virtuell erlebten Welt mit ihren künstlich gemachten und damit eigentlich gar nicht wirklichen Problemen. Wohlgemerkt: In beiden Welten führt uns das Leben an Grenzen. Wichtig bleibt allein die Frage, ob diese Grenzen (und Wände!) durch natürliche, also unabänderliche Gegebenheiten oder durch willkürliche und damit künstlich-konventionelle Zwänge gesetzt wurden. Ganz wichtig auch die Überlegung: Haben wir selbst, oder aber haben andere Menschen diese Grenzen gesetzt? Marlen Haushofer kann uns mit ihrem Roman "Die Wand" auf dem eigenen Weg der Grenzerfahrungen und Selbsterkenntnisse helfen. Allerdings müssten wir zunächst bereit sein zu einer gewissen Distanzierung gegenüber dem bisherigen ganz alltäglichen Wahnsinn.

Wer als Leser so weit gekommen ist, darf sich dann getrost auch mit Marlen Haushofers eigener Biografie auseinandersetzen. Die Autorin ist gewiss keine "Heilige", eher ist sie ein Mensch wie Du und ich, mit Brüchen, Kanten und Fehlern. So hat sie ihren ersten unehelich geborenen Sohn nie wirklich angenommen und auch später nicht gerade eine erfüllte Ehe geführt. Wahrscheinlich war sie in einem gewissen Maße "beziehungsunfähig", vielleicht später sogar "kalt". Andererseits muß sie in einem hohen Maße Sensibilität und Veränderungswillen besessen haben. Und sehr wahrscheinlich hat sie auf der Suche nach dem Leben oft geträumt, sonst hätte sie solch einen Roman nicht schreiben können.

Marlen Haushofer gelingt dann schließlich doch noch die (vielleicht erträumte?) ganz reale Grenzüberschreitung: Sie stirbt mit 50 Jahren an Krebs.

Abschließend ein Zitate aus dem Buch:

"Aber dann habe ich mich dem Wald angepasst. Man kann jahrelang in nervöser Hast in der Stadt leben, es ruiniert zwar die Nerven, aber man kann es lange Zeit durchhalten. Doch kein Mensch kann länger als ein paar Monate in nervöser Hast bergsteigen, Erdäpfel einlegen, Holz hacken oder mähen. Einer, der rennt, kann nicht schauen. Seit ich langsamer geworden bin, ist der Wald um mich lebendig geworden. Früher war ich immer irgendwohin unterwegs, immer in großer Eile und erfüllt von einer rasenden Ungeduld, denn überall, wo ich anlangte, musste ich erst einmal lange warten. Manchmal erkannte ich den Zustand unserer Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus diesem unguten Leben auszubrechen. Mein bisheriges Leben erscheint mir, wie durch eine unsichtbare Wand, von den anderen getrennt".