Jean Weselbach - EUtopia (Land der Poesie)
Deutscher Lyrik Verlag
ISBN 978-3-8422-4441-2
Voller gespannter Freude halte ich Jean Weselbachs neuen Band
"Eutopia – Land der Poesie" in Händen. Und sogleich beginnen
meine Gedanken nach Sinn und Hintersinn des Titels zu suchen.
Eutopia, wohl eine Wortneuschöpfung aus der das Positive meinenden
Vorsilbe "Eu" und "Utopia", dem Land der nicht nur
poetischen Utopien. Eine wunderbar heile Welt also, alles wird gut?
Nun, wer den Autor und dessen Werke kennt und etwa seinen 2 Jahre zuvor
veröffentlichten Gedichtband "Ein (Mani-)Fest der Poesie"
gelesen hat, wird mit Recht davon ausgehen können, dass Weselbachs
Betrachtungen zwar zunächst einmal im ganz realen Hier und Jetzt
gründen, sich im kritisch-wahren Weiterdenken aber keinerlei
Beschränkungen unterwerfen. Also doch keine "heile Welt"? Wir
werden sehen. Begeben wir uns offen und (n)eugierig auf die Reise nach
EUtopia.
Das Vorwort verweist auf ein unverzichtbares Reiseutensil, die
Phantasie. Diese bitte nicht etwa verstanden als Glaube an und Hoffnung
auf das Irreale, sondern als Sprengung der uns durch die sogenannte
Alltagsrealität angelegten (Wahrnehmungs- und Gestaltungs-)Fesseln. Ist
das Wissen auch per se begrenzt (wie Weselbach den diesbezüglich
unverdächtigen Einstein zitiert), so ist die in poetische Form
verbrachte undogmatische Phantasie potenziell grenzenlos. Sich der
Erdenschwere entledigende Poesie als geistiger Reiseproviant für andere
(Mit-, Nach-, Quer-, Weiter- und Voraus-)Denker, ohne ins faktisch
keinen Sinn machende Postfaktische und damit Irrationale abzudriften, so
verstehe ich Weselbachs Intention und lasse mich gern darauf ein.
Meine Erwartungen werden bei der Lektüre voll erfüllt; da ist sie
wieder, die subtile, aber schonungslose Benennung individueller und
gesellschaftlicher Irrwege, gepaart mit (hinter-)sinnigen, immer
geschliffen auf den Punkt kommenden Wortspielen und
"eutopischen" Realfiktionen.
Aber keine Angst, falls Sie ehedem an Nietzsche, Schopenhauer oder Hegel
gescheitert sein sollten, Weselbachs zu logosophischer Poesie
sublimierte Philosophie und Theologie (ja, auch und gerade letztere!)
sind aus Fleisch und Blut, so zu sagen zum Anfassen und damit
begreifbar. Dass der Autor sich - und damit uns - bei allem Durch- und
Weitblick immer auch ein Augenzwinkern gestattet, macht die Lektüre
einmal mehr zu einem komplexen sinnlich-intellektuellen Vergnügen.
Geht es doch immerhin laut Klappentext um solch fundamentale,
andererseits aber ganz alltagspraktische Fragen wie: "Kann der
Mensch noch glauben? Kann er noch lieben? Kann er noch hoffen?"
Oder sinngemäß zitiert: "Ist er noch frei genug, um selbstständig zu
denken?"
Weselbach malt mit Worten, allerdings stehen mir im neuen Band weniger
abstrakte, dafür mehr romantische und impressionistische Bilder vor
Augen. Das war bei den Vorgängerwerken noch anders. Was aber ein rein
subjektiver Eindruck sein mag, zudem vielleicht Ausdruck einer sich mit
den dahinziehenden Jahren verändernden Wahrnehmung. Ich sehe jedenfalls
sehr deutlich den von Jean Paul (des Autors Vornamensvetter und Bruder
im Geiste) beschriebenen Pfeil vor mir, der bei meiner Geburt
abgeschossen wurde, in hohem Bogen fliegt und genau in der Todesstunde
trifft.
Wohl dieser (auch den Autor (be)treffenden?) Gefühlslage geschuldet
tritt im neuen Band neben dem Zweisamkeit, Liebe und Sinnlichkeit
bringenden Eros auch Thanatos auf, der Vergänglichkeit und ewige
Einsamkeit mit sich führt. So begegnet uns der Tod gleich in mehreren
Titelzeilen. Zuvor aber gibt uns hoffentlich die nunmehr immer fühlbarer
verstreichende Zeit Gelegenheit, dem Sinn des Lebens noch intensiver als
bisher nachzuspüren. Manches Gedicht mag uns begleitend entsprechende
"eutopische" Hilfestellungen geben.
Das sich unbarmherzig, mindestens aber unbestechlich leerende
Stundenglas, Vergänglichkeit und Tod? Sind diese mich an Rilkes
"Schlußstück" aus seinem "Buch der Bilder" (!)
erinnernden Thematiken vielleicht nur Ausdruck einer
"Midlife-Crisis"? Die sich unserer unverdient und ganz offenbar
"paradoxerweise" bemächtigt hat, stehen wir doch gerade (wie
Weselbach betont) "mitten im Leben". Oder ist es doch eher eine
"zweite Pubertät"? Egal, wo eine Krise ist, ist auch eine
Chance.
O tempora, o mores! In diesen Kontext gehören auch die köstlichen
Betrachtungen zur "68er Bewegung". Fast 50 Jahre später haben
sich die Wahrnehmungen jener wilden Zeit verändert. Sind doch manche von
uns nun in erweiterter, quasi doppelter Hinsicht "68er".
Zeit für eine Introspektive des Autors. Oder einen Rückblick des Lesers.
Denn wie sagt Weselbach: "Angemessen verstehen lässt sich das Leben
nur in der Retrospektive". Sollten Sie sich also als sehr junger
Mensch mit dem Gedichtband befassen wollen, so fragen Sie zuvor besser
Ihren Arzt oder Apotheker.
Die Reihenfolge der einzelnen Gedichte entspricht einer universellen
Zeitreise. Den Beginn machen "Adam und Eva", als "Versuch
einer Evaluation dieser Schöpfungsgeschichte". Es folgen Gedichte,
die für Aufbruch stehen, wie "Jahreswechsel" oder
"Frühling". Einen großen Raum beanspruchen Gedichte über Liebe
und Beziehungen, bevor verschiedene nicht minder philosophische Themen
wie "Macht", "Revolution" und "Wahrheit" Platz
greifen.
Nach den schon angesprochenen Gedichten über Zeit und Tod geht es zum
Ende hin um Glauben in seiner Beziehung zu Wissen und Wahrheit. Das
abschließende Gedicht ist betitelt "Der kommende Gott" und
beschäftigt sich mit dem Wandel des Gottverständnisses. Dabei helfen die
bei der Evaluation der Schöpfungsgeschichte gewonnen Erkenntnisse.
Ein gelungener logosophischer Gedichtsband, gleichermaßen zum
(Nach-)Denken verführend als auch - eine gewisse Reife voraussetzend -
bestens geeignet zu vergnüglicher Lektüre.
Werfen wir also mit Weselbach einen wagemutigen Blick auf unseren
Lebenskompass und korrigieren erforderlichenfalls den Kurs, damit wir
nicht im "Meer der Medien" mit seiner "Reizüberflutung und
Simultanberieselung" das "wahre Sehen" verlieren und so in
"Sehnot" geraten oder gar "ins Schwimmen" kommen,
sondern auch künftig über einen "Hafen" und einen
"Anker" verfügen, unseren "Tiefgang" bewahren und uns
damit vor dem "Ertrinken" retten können.